Briefwechsel

29.

Einen Brief vom 19. Juni erhielt ich nicht; seit dem vom 15., welchen Ihr trefflicher Freund geschrieben hatte, keinen, bis diesen Augenblick, wo ein göttlicher vom 2. Juli mich anlacht.

Solche Zaubergewalt übt kein Mensch mehr über mich aus. Sie singen mir durch Ihre harmonischen Schmeicheleien gleichsam die Seele aus der Brust, und ich sehe mich selbst vor und neben mir stehen, und fange „mitten in der schwülsten Angst über meinen oder der Welt Untergang“ und mitten „unter den faulsten Morgengedanken“ an, mich zu lieben, und fast zu bewundern, weil Sie so meisterhaft vorgehen, und mich durch Ihre alles umfassende und alles durchdringende Poesie so ganz mit sich fortreißen.

Unter den hunderttausend Ursachen, aus welchen ich Sie bei mir haben will und haben muß, ist eine der wichtigsten die, daß ich gar nicht mehr im Stande bin, an Sie zu schreiben. Wo soll ich anfangen? Sie kennen die Mannigfaltigkeit von Gegenständen, die Tag vor Tag bei mir vorübergehen, und zum Theil in mir sich bewegen. Ihnen, <47:> scheint es mir, gehört nun einmal alles; die Wahl wird mir unendlich sauer, und doch reicht meine von allen Seiten so beengte Zeit (Sie kennen ja meine rasenden Geschäfte, so lächerlich das auch andern klingen mag) nicht hin, um nur den zwanzigsten Theil von dem, was ich so gern sagen möchte, aufs Papier zu bringen.

Ihr Urtheil über Johannes Müller ist fast buchstäblich auch das meinige. Es ist fast unbegreiflich, wie man mit so viel ursprünglicher Kraft, mit so echter Liebe zum Alten, mit so tiefer Kenntniß der meisten Gegenstände, deren Vereinigung den Charakter der modernen Welt, oder besser, der Christenheit, constituirt, mit so merkwürdiger Erhabenheit über den Schmutz und die Lumpen des Zeitalters – doch so hartnäckig protestantisch seyn kann; protestantisch bis zum Liebäugeln mit den Aufklärern, trotz vieler energischer Erklärungen gegen die Aufklärung. Dieß, und dann, daß die Elendesten der Zunft ihn beständig ihren Johannes Müller nennen, – ein Schimpf, für welchen man, nach meiner Ansicht, immer verantwortlich bleibt, – sind die beiden einzigen Vorwürfe, die ich ihm zu machen weiß. Aber welche Gedanken sich aus diesem Kopfe entwickeln, und welche Worte ihm zu Gebote stehen! Mehrere Stellen in der Adresse (die ich in der That noch nicht gelesen hatte, weil mein vierter Theil noch auf der Censur liegt) sind niederbeugend groß. Wenn mir in meiner Art (denn ich kann nicht M. seyn wollen) je etwas so gelänge, so wäre ich für ein Jahrtausend beruhigt.

Ihre Kiste will ich Ihnen nicht eher schicken, als bis die Sachen aus England hier sind. Sollte sich dieß indessen noch sehr verzögern, so werde ich doch dafür sorgen, daß sie abgehe. Von meiner Composition sollen Sie nächstens etwas erhalten. Gott! wenn nur das Mechanische der Arbeiten einer Seits, und die vielen Störungen anderer Seits nicht wären! Fast jede Woche gehe ich mit einer einem neuen Werke schwanger, und nichts kommt zu Stande. Ich glaube doch, wenn Sie bei mir wären, es würde besser. Weh Ihnen, wenn Ihr Brief vom 19. nicht etwas über diesen Hauptpunkt enthält! – Ich habe übrigens den Mann nicht errathen können, den Sie über den Adel unterhielten.

Heute früh würden Sie mit mir zufrieden gewesen seyn. Ein gewisser Herr Chennevix, ein englischer Chemiker und Naturforscher, der aber seit einigen Jahren auf Reisen ist, viel mit Franzosen und Deutschen verkehrt, fünfzehn Monate in Freiberg zubrachte, jetzt Ungarn durchreisen, <48:> und dann den Winter in Wien bleiben will, hat in die Pariser Annales de Chimie zwei sehr gut geschriebene und von vielen Kenntnissen zeugende Aufsätze über „den Mißbrauch, welcher in Deutschland mit Anwendung der sogenannten Transcendentalphilosophie auf die Naturwissenschaften“ getrieben wird, drucken lassen. Der eine dieser Aufsätze ist gegen den Dr. Weiß (vermuthlich Ihren ehemaligen Freund), oder eigentlich gegen Karsten gerichtet, der einer Uebersetzung von Haüy’s Mineralogie einen (nach meinem Dafürhalten völlig tollen, und nur einem Wahnsinnigen zu verzeihenden) Aufsatz hat beifügen lassen, und hiedurch, nach Chennevix, einen nie abzubüßenden Frevel beging. Dieser Ch. verleitete mich heute zu einer Unterredung, von der er mir nachher sagte, „für diese Stunde gäbe er alle Minen von Ungarn und Siebenbürgen hin.“ Ich setzte ihm nämlich auseinander, wie man bei Beurtheilung deutscher Bücher, und deutschen Verdienstes überhaupt, in neunundneunzig Fällen unter hundert von dem, was classisch, allgemein geltend, für alle gebildete Nationen brauchbar, ja selbst oft noch von dem, was nur recht eigentlich national seyn möchte, abstrahiren, und nichts als die Individualität vor Augen haben müßte; wie man aber, wenn man diesen Gesichtspunkt einmal mit deutschem Auge und deutscher Kraft gefaßt, dann auch aus Büchern und von Menschen, die jedem Ausländer eine Thorheit sind und seyn müssen, oft mehr lernte, als aus aller classischen Weisheit der alten und neuen Welt; wie sehr man sich daher hüten müsse, selbst anscheinende Extravaganz zu verdammen, ehe man sie auf diese Kapelle gebracht hätte; und wie oft ich selbst es erfahren, daß mir Menschen, die ich von meiner classischen Höhe herab kaum citiren möchte, durch ihre Originalität, durch ihre Irrthümer und selbst durch ihre Ausschweifungen ungeheure Dienste geleistet hätten, u.s.f. Das Beste schreibt sich immer nicht. Ich wollte ihm eigentlich zeigen, wie wenig die Fremden im Stande sind, über Deutschland zu urtheilen, indem bei uns, da es uns an eigentlicher Nationalität in allem fehlt, jedes Individuuum eine Welt für sich ist und als solche studirt werden muß.

Was mich in Ihrem Briefe außerordentlich frappirt hat, ist Ihr Urtheil über die beiden neuesten Produkte von Goethe. Ich kenne sie beide, hätte es aber nie gewagt, so davon zu sprechen. Daß ich so, nur noch etwas weniger gut, davon denke, will ich nicht leugnen. Die Noten zum Rameau sind bloß trivial und platt; über Voltaire und d’Alembert heute <49:> noch so zu faseln, ist doch wirklich einem Goethe nicht erlaubt. Die Aufsätze über Winkelmann sind gottlos. Einen so bittern, tückischen Haß gegen das Christenthum hatte ich Goethen nie zugetraut, ob ich gleich von dieser Seite längst viel Böses von ihm ahndete. Welche unanständige, cynische, faunenartige Freude er bei der glorwürdigen Entdeckung, daß W. eigentlich „ein geborner Heide,“ und darum gegen alle christliche Religionspartien so gleichgültig gewesen sey, empfunden zu haben scheint! Nein! vor diesen beiden Büchern steht selbst Goethe sobald nicht wieder bei mir auf! Solche hatten wir von Schiller nie zu besorgen! Dieser starb in dem Augenblick, wo seine bessere Laufbahn erst angefangen hätte; sein Tod hat mich bis ins Innerste ergriffen. Sie hörten ihn nie, sonst theilten Sie sicher meinen Schmerz.

Paget spricht oft von Ihnen, und nahm großen Antheil an Ihrer Krankheit. Er ist wieder in Revolutionen begriffen, und ich muß ihm viel Zeit widmen. Ach! wenn doch nur die 24 Stunden doppelt werden wollten! Das Verfließen der Zeit ist doch unter allen Uebeln das größte. Gott behüte Sie!

Den 13. Juli 1805.

Gentz.