Briefwechsel

48.

Wien, den 25. Mai.

Da Sie vielleicht die Literaturzeitungen spät zu Gesicht bekommen, so glaube ich wohl zu thun, indem ich Ihnen das beiliegende Stück mittheile. Sie werden ohne mich, und zehnmal besser als ich einsehen, daß Reinhold Sie nicht verstanden hat, daß er Ihnen Dinge zuschreibt, an die Sie nicht gedacht haben, und Dinge zumuthet, an die Sie nicht denken können; aber was mich an der Recension freut, ist der offenbar darin <80:> herrschende und vorwaltende Respekt vor Ihrem Geiste und Ihren Talenten. Auch bin ich doch, wie von Anfange an, fortdauernd überzeugt, daß unter allen deutschen Philosophen Reinhold derjenige ist, den Sie am ersten ganz für sich gewinnen würden, wenn Sie je Zeit und Gelegenheit hätten, und es übrigens der Mühe werth fänden, ihn zu bearbeiten.

Heute früh bekam ich einen sehr langen Brief zur Antwort auf den bewußten, wovon R. eine Abschrift gemacht hatte, voll großer Gedanken und ganz vortrefflicher Gesinnungen. „Wir müssen,“ heißt es unter anderem, „die gleichen Freunde und Feinde haben, und einer des andern Apostel seyn, auf daß wer diesen nicht faßt, jenem glaube. Jede Notiz, jeder Wink, der von Ihnen mir kommt, soll mir heilig, leitend seyn. Alle unsere Studien, alle Geisteskraft in uns, unsere Verbindungen, unsere Freundschaften, alles sey dem einigen Zweck geweiht, um dessentwillen allein, so lange er noch erreichbar seyn mag, das Leben der Mühe werth ist.“ – Und weiter: „Wenn Leute sind, die Ohren haben zu hören, so predigen Sie ihnen ja laut, gewiß zu seyn, daß es nun seyn muß, daß nun auf den Einen Zweck der Wiederbefestigung eines Gleichgewichts gearbeitet, an keinen alten, an keinen möglich künftigen Feind gedacht werden muß, als nur an den allgemeinen, und seine mit Ruhe unvereinbare Regierung. Auf den, allein auf den errege, ergieße man allen Haß, durch die volle Ueberzeugung, daß dem Frieden der Welt Niemand als seine Existenz zuwider ist.“

Ich bitte Sie, ohne allen Zeitverlust dem Schreiber dieses Briefes zu melden, daß ich ihn, obgleich spät (erst heute früh), erhielt, und wahrhaft entzückt darüber war, und daß ich die erste, gewiß nicht ferne Gelegenheit ergreifen werde, eine so wichtige Correspondenz, als diese ist, fortzusetzen. Unterlassen Sie es nicht, lieber Müller!

Sie sehen, ich halte mehr als ich versprach; ich schreibe Ihnen jeden Posttag. Sie geben noch kein Lebenszeichen von sich. Ich bin begierig zu erfahren, was Sie zu meinem vorigen Briefe (vom 22. d.M.) gesagt haben werden. Schieben sie es nicht auf, mir zu antworten. Es soll Sie nicht gereuen.

Gentz. <81:>