Briefwechsel

1809.

103.

Berlin, 7. Januar 1809.

Gestern Mittag ist mir die unbeschreibliche Freude eines Briefes von Ihnen geworden; noch zumal war er ein treuerer und jüngerer Abdruck Ihres Gemüthes, als ich seit undenklich langer Zeit empfangen. Damit ich mich gleich in medias res etablire, so hören Sie zuförderst, daß ich die trübe Melancholie, welche er athmet, für Morgendämmerung einer neuen Jugend in Ihnen halte; denn die alten Pulse Ihres vielbewegten Geistes fühle ich ganz vernehmlich fortschlagen, und der inwendige Gang, den ich in Niemand so klar habe wachsen und kommen sehen, scheint mir fast auswendig geworden.

Ich verschmähe das Wort Apostasie nicht, um die Wendung zu bezeichnen, welche Ihre schöne Seele genommen; Sie haben einiges Aergerniß gegeben, aber ein solches, welches die public characters des Continents geben müssen, damit die Opposition einen höheren Ton anstimmen möge, und nicht länger mit Waffen gestritten werde, ohne den Lebensgeist, für welchen allein dießmal der Lorbeer aufgehoben bleibt.

Ich werde diesmal und noch oft nichts herbeirufen, als das Gleichniß von der Pflanze, welche den Felsen sprengt. Das innere Getriebe des Lebens, der Herzen und der Staaten soll an den Tag. Sie, mein Freund, werden aus der dermaligen Windstille Ihres Geistes übergehen in die Betrachtung des Innern der Staaten, zurückkehren zu den Gesetzen, Finanzen, zu moralischer Anatomie der Völker, zur Erkenntniß des aus allen Institutionen und Individuen, aus irgend einer, wenn auch noch so versteckten und überklebten Stelle hervorgrinsenden Teufels oder Todes. <155:> So wird in voller Majestät der Fürst des Lebens Ihnen erscheinen, Sie werden sein Reich sehen im Mittagsglanz, und die römischen Kriegsknechte, die ihn zu kreuzigen wähnten, wenn nicht gemordet, doch schlafend finden.

Man muß so gestritten haben, wie Sie, mit der Welt, so gerungen mit sich selbst, so sanguinisch an die irdische Befreiung geglaubt, so israelitisch hartnäckig auf den Messias gehofft haben, der schon da war; man muß die Hülse der Staaten so mit Ideen verklärt, sich in die erhabene Arbeit des äußeren Harnischs, möchte ich sagen, so vertieft haben, wie Sie, um den großen Augenblick, da die eigentliche Lebens- und Heldenader der Dinge sichtbar wird, zu erleben, wie Sie ihn erleben werden. Gönnen Sie meinem stilleren Wirken und Denken den Triumph, Sie frühe erkannt zu haben; es war ja nur die Liebe zu Ihnen, der ich die weissagende Kraft verdanke.

Es bleibt dabei, zwei Fälle gibt es nur, und auf diese reducirt sich die ganze europäische Zukunft; einer wäre hinreichend, aber beide werden eintreten. Der Granit uns gegenüber erstlich verwittert im Lebenshauche der Ideen, das geschlechtslose, bastardische Werk zerwürgt, zerpreßt sich, um eine Zukunft zu erzeugen, die ihm versagt ist, sieht seine eigene Saat verfaulen, seinen Samen zerrinnen, während es um die alten morschen Throne von Europa wimmelt von Erbfolge. – Ich erwähne blos des Symbols statt des unendlichen, was es bedeutet. – Der andere Fall, die positive Rettung (denn nicht blos die Naturkraft der Ideen, sondern auch, und eben so mächtig, menschliche freie, bewußte Handlung wird Europa befreien), kommt von einem Bunde der wahrhaften und prophetisch gewordenen Zeugen dieser großen Zeit in Christo, in den Ideen, im Recht, in der Wahrheit, oder wie Sie wollen: nicht von einem einzelnen Helden, daß etwa neuer und potenzirter Götzendienst den alten nur ablöse.

Nennen Sie mich oder diesen Brief nicht mystisch; so wie ich jetzt bin, wäre ich Ihnen sonnenklar, durchsichtig, wenn wir miteinander reden könnten oder disputiren; die Texte klingen mystisch, aber Gott weiß, daß ich ja nur lebe in dem Streben nach Oeffentlichkeit aller Ideen; wie sollte ich mich verhüllen vor Ihnen, den ich liebe wie mich selbst, weil ich alle wunderlichen Metamorphosen Ihres Herzens gesehen, und fast eben so oft kindlich von Ihnen gelernt als durch Ihr eigenes liebevolles Lernen gerührt worden bin! <156:>

Nach meinem äußeren Leben fragen Sie? – Ich habe meine Vorlesungen über den Staat gedruckt. Sie sind seit zwei Monaten in Prag und noch höre ich nichts über die Abschnitte von den Finanzen und von der Religion. Das Manuscript muß ergänzen, wo Ihnen eine Lücke aufstößt, denn die Censur ist arg damit verfahren. Jetzt sollen Vorlesungen über Friedrich den Zweiten und den Gegensatz gehalten werden. Ich lese alles, was erscheint, und warte in Geduld der Dinge, die da kommen sollen.

Daß die ökonomischen Drangsale kommen mußten, wie Sie, mein Freund, einst so richtig sagten, um meine Unbändigkeit einzufangen und einzudrücken, fühle ich; daß ich aber den nichtswürdigsten Rücksichten auf Groschen und Thaler, nach dreijähriger Zucht, nicht entwachsen würde, scheint mir zuviel. Doch wird man auch darüber stumpf, und entbehrt, während ein höheres Leben sein gewaltiges Spiel immer freier treibt, und nichts übrig bleibt, was man der Welt mißgönnen könnte. Leben Sie wohl, mein brüderlicher oder väterlicher Freund! Sie müssen unter allem Wechsel des Lebens mir wohl gegenwärtig bleiben, weil die Genealogie meiner besten Gedanken sich fast immer in Ihnen verliert. Halten Sie die großartigen Ursachen Ihrer Melancholie fest, und mit ihnen mich, Ihren Propheten.

A. H. Müller.