Briefwechsel

119.

Wien, 22. September 1814.

Es war seit acht Tagen mein fester Wille, Sie anzureden, Sie aufzurufen, aufzuschütteln, damit Sie sich nicht etwa dem grundfalschen Wahn überließen, als hätte ich vergessen, oder könnte es je, was bei unserer letzten Trennung zwischen uns verabredet wurde. Es soll nun einmal keine neue bedeutende Stockung in unsern Verhältnissen eintreten. Es ist dringend nöthig für mich, daß Ihr Geist mich von Zeit zu Zeit anwehe. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, daß Sie mir noch nicht geschrieben haben; die vollgültigsten Hindernisse konnten es Ihnen versagen. Ich bestehe nur darauf, daß der Vorsatz, mir zu schreiben, nicht wieder einschlummere!

Unterrichten Sie mich vor allen Dingen von Ihrer eigenen Lage. Haben Sie den Boten von Tyrol aufgegeben? – Oder, wenn Sie auch nur noch Antheil an der Direktion desselben haben, wie können Sie die einfältigen Artikel dulden, die neulich zuweilen in diesem Blatt erschienen sind? Z.B. noch am 3. September: „An der Herstellung von Polen unter seinem alten Namen zweifelt man wenig!“

Der eigentliche Congreß ist zwar noch nicht im Gange, aber seit dem 16. finden täglich Conferenzen zwischen den vier Hauptministern statt, denen bisher niemand als Humboldt beigewohnt hat. – Talleyrand wird morgen, der Kaiser von Rußland und der König von Preußen Sonntag erwartet. – Die Schaar angesehener Fremden ist unglaublich groß; wer nur die wichtigsten kultiviren will, kommt kaum mehr zu sich selbst.

Während Ihres letzten, leider viel zu kurzen Aufenthaltes habe ich Ihnen über das Terrain im Ganzen doch manche Aufschüsse <sic!> gegeben, wodurch unsere künftige Correspondenz um Vieles erleichtert werden muß. Sie werden mich mit halben Worten verstehen. Geben Sie mir nur recht viel Gelegenheit, Ihnen zu antworten.

Es ist nun einmal so, daß Sie in dieser Correspondenz den Ton anstimmen, die Gegenstände wählen, eigentlich der aktive Theil seyn <176:> müssen. Wenn Sie mir für’s Erste auch nur ein paar Oktavseiten schreiben, bin ich zufrieden. Ich muß Ihre Schriftzüge sehen, ich muß wissen, wo Sie sind und wie. – Schieben Sie es nicht länger auf. Ich verdiene weit mehr, als Sie aus diesem zerrissenen, fragmentarischen Brief vielleicht schließen möchten. Ich bedarf Ihrer unendlich.

Gentz.