Briefwechsel

169.

München, den 15. December 1818.

Es wird Ihnen freilich seltsam vorkommen, mein theuerster Freund, daß Sie gerade von hier aus einen Brief von mir erhalten. Ich mag aber die Sünde meines langen Stillschweigens nicht mit nach Wien schleppen, und überdieß ist dieß noch der letzte Punkt, wo ich Ihnen mit einiger Freiheit schreiben kann.

Mein Unrecht gegen Sie besteht eigentlich nur darin, daß ich Ihnen, <266:> ehe ich nach Aachen ging, von Frankfurt aus nicht noch einmal schrieb, welches meine bestimmte Absicht war, die aber durch tausend Zufälle vereitelt wurde. Denn in Aachen selbst war die Sache so absolut unmöglich, daß ich nicht mehr daran denken konnte.

Der diplomatische Feldzug, den ich dort in zwei Monaten zurückgelegt habe, war der strengste und arbeitsvollste, der mir noch je zu Theil geworden; es war aber zugleich der glücklichste, befriedigendste und rühmlichste. Nie, ich darf es in der Wahrheit sagen, haben sich die Lorbeeren so auf meinem Kopfe gehäuft als dießmal; jeden Tag wurde mir das schmeichelhafte Lied vorgesungen, „ohne mich könne es keinen Congreß mehr geben.“ Man wollte mich zwingen, zu heirathen, damit wenigstens meine Race nicht ausginge &c. Ich betrachte diese Periode als den Culminationspunkt meines Lebens; denn etwas Glänzenderes gibt es nun nicht mehr, und mein Glück muß doch auch seine Grenzen finden, wie alles in der Welt.

Hiezu kam noch, daß ich mich die ganze Zeit über so wohl befand, daß unter allen Anstrengungen (ich schlief z.B. im Durchschnitt nicht über vier Stunden der Nacht) mich auch nicht eine Spur von körperlicher Beschwerde angewandelt hat. Jeder andere Fremde in Aachen war wenigstens ein paar Tage unpäßlich; die seltene Milde des göttlichsten Herbstes, den ich je erlebte, mußte fast jeder mit einem kleinen Tribut bezahlen; nur ich blieb verschont. Was sagen Sie dazu? Sollte das nicht der wohlthätige Effekt meiner Calomelpulver seyn, die ich bis auf den heutigen Tag, Morgens und Abends, unausgesetzt zu mir nehme?

Wie sind in Aachen mit der Ueberzeugung auseinander gegangen, daß jetzt ein diplomatisches Jubeljahr (allgemeine Vacanzen) beginnt. So ist es auch gewissermaßen. Aber wehe denen, die mit unserem Cabinet jetzt etwas zu treiben oder zu verhandeln haben! Den 10. Februar tritt der Kaiser seine Reise nach Italien bis Rom und Neapel an; nachher hat der Fürst eine Menge weitaussehender Lustreiseprojekte; er wird wahrscheinlich den größten Theil des Jahres von Wien abwesend seyn.

Ich habe auf der Reise von Frankfurt hierher – ich brachte einige herrliche Tage (bei 7, 8, 9, 10 Grad Réaumur!) in Heidelberg und Karlsruhe zu – Ihre Biographie Horners gelesen; mit unendlichem Wohlgefallen, wie alles, was von Ihnen kommt. Ueber diese Gegenstände habe ich neuerlich einen praktischen Cursus gemacht, der für mich unbezahlbar <267:> ist. Einmal von Amtswegen, und dann, weil ich jede von dem politischen Geschäft zu erübrigende Stunde nicht besser und interessanter verwenden konnte, habe ich in Aachen mit den ersten puissances der kaufmännischen Welt, mit Baring, Labouchère, Parish, Rothschild, Delmar &c. die lehrreichsten Gespräche geführt; und es war in der That kein geringer Vortheil, in meiner kleinen Stube die innersten Geheimnisse der größten Geldgeschäfte, die je unter den Menschen getrieben worden sind, verhandeln zu hören. Sie haben gewiß das Protokoll vom 19. November gelesen und sind hoffentlich damit zufrieden gewesen. Es ist von allen meinen Aachener Arbeiten die, auf welche ich mir am meisten zu gute thue. Hätte ich alles sagen dürfen, was ich wußte, so würde in diesem Aktenstück ausgesprochen seyn, daß der letzte Grund aller Verlegenheiten in der unbesonnenen Ueberspannung des Rentensystems, dessen alle großen Staaten sich schuldig gemacht haben, liegt, und daß man sich nicht wundern darf, wenn das Geld die Renten nicht mehr bezwingen kann, nachdem man Frankreich gezwungen hatte, in ungefähr vier Monaten beinahe tausend Millionen neue Schuldpapiere zu creiren. War nicht in der letzten Zeit der Taumel, der Wahnsinn so hoch gestiegen, daß ganz vernünftige, ruhige Männer es als Grundsatz aufstellten, „bei jeder neuen Anleihe müssen die Renten steigen?“ Und so groß war die Vermessenheit der Contrahenten, daß Häuser, die in den französischen Renten tief interessirt waren, zu gleicher Zeit 50 bis 60 Millionen baaren Geldes aus Frankreich nach Rußland schleppten, ohne zu bedenken, daß das Procent, was sie dort auf den Curs gewannen, in ihren ungleich wichtigeren französischen Operationen zehnfach verloren gehen konnte.

Es hat mich sehr ergötzt, daß Sie ein Monographie der Rothschilds wünschen, einer der witzigsten und glücklichsten Gedanken, die mir seit lange vorgekommen sind. Das Wort ist um so treffender, weil die Rothschilds in der That eine eigene species plantarum bilden, die ihre eigenen charakteristischen Merkmale hat. Sie sind gemeine, unwissende Juden, von gutem äußeren Anstand, in ihrem Handwerke bloße Naturalisten, ohne irgend eine Ahndung eines höheren Zusammenhangs der Dinge, aber mit einem bewundernswürdigen Instinkt begabt, der sie immer das Rechte, und zwischen zwei Rechten immer das Beste wählen heißt. Ihr ungeheurer Reichthum (sie sind die ersten in Europa) ist durchaus das Werk dieses Instinktes, welchen die Menge Glück zu <268:> nennen pflegt. Die tiefsinnigsten Raisonnements von Baring (der in der Wissenschaft wenigstens so stark ist als Horner und ungleich praktischer) flößen mir, seitdem ich das alles in der Nähe gesehen habe, weniger Vertrauen ein, als ein gesunder Blick eines der klügeren Rothschilds (denn unter den fünf Brüdern gibt es auch einen ganz schwachen und einen halbschwachen); und wenn Baring und Hope je fehlen – beinahe hätte ich gesagt fallen, welches der Himmel verhüte – so weiß ich zum Voraus, daß es geschehen wird, weil sie sich weiser dünkten als Rothschild und seinen Rath nicht befolgt haben werden.

David Parish (mit unserem Wiener Johann Parish nicht zu verwechseln, der hundert Toisen unter ihm steht) ist der Matador, die Perle des Handelsstandes in der ganzen Christenheit dieß- und jenseits des atlantischen Meeres; einer der vollendetsten Menschen, die ich je sah. Nach dem Kopfe und den Kenntnissen allein berechnet, steht Baring jedoch über ihm, von gleichem Umfang in merkantilischer und politischer Rücksicht; ein Engländer, wie es nicht viele gibt. – Ich erzähle Ihnen con amore von diesen Menschen und diesen Geschäften; denn sie waren meine Erholung in Aachen, und zugleich habe ich viel von ihnen gelernt.

Uebrigens habe ich ungefähr 60 Protokolle, nebst einer Menge Vor-, Zwischen- und Nebenredaktionen ausgearbeitet, von 11 bis 2 oder 3 Uhr täglich am Conferenztisch gesessen, und außerdem jeden Tag, wo nicht zwei oder drei, doch wenigstens eine Separatconferenz von mehreren Stunden, bald mit Capodistrias, bald mit Lord Castlereagh, bald mit Richelieu, bald mit Bernstorff gehabt, wo im Grunde die Hauptsachen zu Stande kamen. Den Fürsten habe ich am wenigsten gesehen; ich holte ihn jeden Morgen um 11 Uhr zur Conferenz ab; dann begegnete ich ihm oft den ganzen Tag nicht wieder, wenn ich nicht bei ihm aß. Abends hatte er täglich Gesellschaft; ich ging aber nie hin, weil bei ihm gespielt wurde. Die meisten Abende, wenn ich mich bis 10 Uhr müde gearbeitet hatte, brachte ich von 10 bis 12 Uhr bei Capodistrias zu, mit Nesselrode, Pozzo di Borgo und Richelieu. Diese Soireen, wo nichts als politische Gegenstände verhandelt wurden und gewöhnlich die interessantesten Unterredungen statt fanden, werde ich nie vergessen. Wenn ich um 12 Uhr nach Hause kam, setzte ich mich ein für allemal an meinen Tisch und arbeitete von Neuem bis 1, 2, 3 Uhr, mehrmals die ganze Nacht. So ging es in Aachen.

In Frankfurt blieb ich vom 29. November bis 6. December, immer <269:> noch in viele Geschäfte verwickelt. Die Reise über Darmstadt, Heidelberg, Karlsruhe (wo ich eine Stunde nach dem Tode des Großherzogs ankam und mit Ihrer Freundin Varnhagen viel, auch viel von Ihnen sprach) war ein wirklicher Genuß. Diesseits Stuttgart fing die Kälte und das unfreundliche Wetter an. In München bin ich seit vorgestern. Ich wollte mich nur einen Tag hier aufhalten; aber der König, der Kronprinz, Rechberg und Wrede nahmen mich mit solcher Güte auf, daß ich nicht loskommen konnte. Morgen gehe ich nach Wien, wo ich Sonntag Mittag einzutreffen hoffe, und wo ich nun recht eigentlich Ruhe halten werde. An der Reise nach Italien nehme ich, comme de raison, keinen Theil; mein Dichten und Trachten ist aber dahin gerichtet, im Monat August auf meine eigene Hand nach der Schweiz zu reisen; denn diese muß ich sehen, so lange ich noch bei Kräften bin.

Wenn Sie mir schreiben, so melden Sie mir genau, wie es jetzt mit dem Conversationslexikon steht und sorgen Sie, daß es mir in der neuesten und vollständigsten Ausgabe geschickt werde. Die Biographie Horners gehört aber – nicht wahr? – in die Zeitgenossen, oder wie dieses Ding sonst heißt? – Steffens zu lesen, ist eine zu harte Zumuthung; aber gern habe ich die Schrift eines Prof. Menzel zu Breslau: „Die Undeutschheit des neuen Deutschthums“ gelesen, wo die Turner nach Verdienst behandelt sind. Ich habe in Frankfurt und andern Orten viel über den Unfug der Universitäten sprechen hören und selbst gesprochen. Die Schrift von Stourdza (à propos: was sagen Sie denn zu dieser?) hat die Gemüther von Neuem aufgeregt; und selbst unter den Wenigen, die den jetzigen Stand der Dinge nicht lieben, hat Niemand den Muth anzubeißen. Mit A. W. Schlegel habe ich in Bonn Gespräche gehabt, die mir beinahe die letzte Hoffnung rauben sollten. Indessen so wie jetzt kann es doch nicht bleiben. Fürs Erste muß das Turnen wieder aus der Welt; dieß sehe ich wie eine Art von Eiterbeule an, die geradezu weggeschafft werden muß, ehe man zur gründlichen Kur schreitet. Das Turnen ist seit sechs Monaten in der Meinung äußerst gesunken; was ich in Aachen darüber gehört, läßt mich glauben, daß es nicht schwer seyn wird, dieses Ungeheuer zu stürzen, und selbst Jahn scheint capituliren zu wollen. Aber von ganz anderem Gewicht und von ganz anderer Schwierigkeit ist die Reform der Disciplin der Universitäten. Wie diesem nothwendigen Werke beizukommen sey, darüber bekenne ich <270:> für jetzt noch meine Unwissenheit. Was Stourdza von dem Zustande unserer Universitäten sagt, ist grundwahr. Seine Schrift ist weder vom Kaiser, noch von Capodistrias, noch von sonst Jemanden dictirt, sondern das freie Produkt eines ernsten und melancholischen Gemüths. Daß die Revolutionärs aber am Kaiser Alexander (wie die Rotte lange geträumt hat) keine Stütze finden werden, das ist jetzt zum Trost der Bessern und zum Heil der Welt vollständig erwiesen. Wenn wir also in Deutschland nur noch Weisheit und Eintracht genug aufbringen können, um einen gründlichen Verbesserungsplan einzuleiten, so haben wir wenigstens die beruhigende Gewißheit, daß keines der großen Cabinette einem solchen Plan entgegen treten werde.

Ueber diese und ähnliche Gegenstände können wir, selbst zwischen Leipzig und Wien, frei und ungehindert correspondiren. Ich hoffe, Sie werden mich bald mit einem Briefe erfreuen. Sie sehen aus dem gegenwärtigen, daß es mir stets Ernst ist, mit Ihnen in enger Verbindung zu bleiben, und daß Sie mir schweres Unrecht zufügen, wenn Sie mich beschuldigen, ich wolle mich nicht einlassen. Versuchen Sie es nur.

Gentz.