Briefwechsel

170.

Leipzig, 22. December 1818.

Ihr erstes Lebenszeichen seit fünf Monaten habe ich von München gestern erhalten und bin in der Hauptsache, nämlich von Ihnen zu hören, wahrhaft befriedigt. Unter den dreihundert Briefen, die ich von Ihrer Hand als eine Art Familiendepot aufbewahre, ist keiner, der den gegenwärtigen an Lebendigkeit und Jugendfrische überträfe. Ich wünsche Ihnen aus vollem Herzen Glück zu Ihrem Glücke, was mich nicht befremdet, weil ich von niemanden weiß, der Sie ersetzen könnte, und die bloße Nothwendigkeit Sie auf die Höhe gestellt hat, die Sie einnehmen. Ihre körperliche Gesundheit – unwiderrufliche Folge Ihrer natürlichen Erhabenheit über die geistigen Reiz- oder Nervenschwächungsmittel – ist eine so besondere Begünstigung des Himmels, daß sich ohne einigen Neid nicht daran denken läßt.

Den Verhandlungen des Congresses, weil er sich dießmal auf Commerzialgegenstände wendete, habe ich auch aus der Ferne genau genug <271:> folgen können, um nach gewissen Artikeln des Journal de Francfort ein Protokoll über den Hauptgegenstand von Ihrer Hand zu erwarten. Freilich hat die Art, wie Sie die Würde der fünf Mächte und selbst den einstweiligen Credit der sechsten gerettet, und die meisterhafte Gelenkigkeit, mit der Sie nach zwanzig Seiten hin die Stirn geboten und wohlgerüsteten Zweifeln face gemacht gaben, alle meine Erwartungen übertreffen müssen. Der 19. November wird von der Nachwelt als der Tag genannt werden, wo das höchste menschlicher Kraft aufgeboten und die tiefste Kunst entwickelt wurde, dem Untergang des verderbten Geld- und Schuldensystems des Continents von Europa vorzubeugen und den fatalen Zeitpunkt, wo die papierene Welt zusammenbrechen wird, hinaus zu schieben.

Daneben freue ich mich der Klarheit, mit der viele Stellen Ihres Briefes auf die bevorstehende und wohl unvermeidliche Katastrophe hindeuten. Mir wenigstens soll nach diesem meinem Münchner Aktenstücke niemand behaupten, daß Sie selbst sich über die Lage der Welt Illusionen gemacht hätten.

Ich aber mit demselben Gottesvertrauen, mit dem ich Ihnen am 26. April 1805 auf der Reise nach dem Kloster am Schneeberge behauptete, daß Bonaparte nicht etwa fallen, sondern vor den Augen der Welt allmälig abstehen, verschimmeln und versauren werde, wiederhole jetzt praktisch mein Wort von 1811: Für Europa gibt es nichts als einen vernünftigen Feudalismus oder bodenlose Schulden- und Rentensysteme, kein drittes. Müssen Sie die Theilung des Grundeigenthums, die nicht bloß in Frankreich, sondern in Europa überhaupt, wie sich ein vortrefflicher Artikel des Moniteur ausdrückte, dans une progression vraiment effrayante, anwächst, der baaren Staatsbedürfnisse wegen, anstatt diesem größten Unheile vorzubeugen, noch befördern, so erwarten Sie keine Resultate, als die wir mit Händen greifen können. Die Materie des Goldes und Silbers wird sich durch ein bloßes Gesetz der Schwere, als ein Bodensatz der bürgerlichen Gesellschaft, in die Taschen der Bauern niederschlagen, und in den höheren Regionen des politischen Lebens wird sich eine eitle Crême von papiernen Verpflichtungen ansetzen, bei der kein Staat, keine Kultur überhaupt bestehen kann. Ich bin sehr Ihrer Meinung, daß der Schwindel des Rentensystems, der nun, seitdem wir schon vor Jahren davon abgekommen, in die Regierungen gefahren ist, an und <272:> für sich schon Europa verderben müßte. Als sich der erste Liquidationstermin vorbereitete, sanken die französischen Renten auf 68; beim Herannahen des zweiten verkauft man jetzt mit 65, 63, ja mit 60. Was kann der dritte bringen? – Das weiß ich, daß nach den Erfahrungen, welche die Herren Baring und Sillem machen (wenn sie selbst und ihre Geschäfte überhaupt noch zu retten sind), keine europäische Regierung mehr auf die Hülfe der Bankiers Rechnung machen soll. Ich sehe es in einem kleinen, aber lehrreichen Rayon täglich vor Augen, wie sich die mittleren Häuser mehr und mehr in enge Grenzen zurückziehen; und auf diesen beruht die Macht jener Großmeister, mit denen Sie zu Aachen einen beneidenswerthen Verkehr geführt haben. Was soll aus den Regierungen werden, die sich nun andererseits durch den Schwindel der Liberalität tiefer und tiefer in das sinkende Geldsystem, in allgemeine Grundsteuersysteme u.s.f. verlocken lassen? Das Einzige, was ich in Ihrem vortrefflichen Briefe nicht begreife, ist Ihre Zufriedenheit mit der Stourdza’schen Piece. Das heiße ich an beiden Tischen schmausen wollen, die Orthodoxie und die Lehren des General Laharpe, den melancholischen Ernst eines sich nach der Ordnung Gottes sehnenden Gemüthes und alle politische Leichtfertigkeit, allen fiskalischen Despotismus und alle unächte Humanität du siècle où nous vivons, zusammenrühren. Das thut nicht Gutes. Nie habe ich auch alle Parteien so einverstanden gesehen, als über diese Schrift; man kann einen Preis darauf setzen, ob es irgend einen Deutschen gäbe, der nicht durch irgend eine Stelle verletzt worden wäre. Sogar Sie, mein Freund, gemildert und gesänftigt durch die persönliche Gegenwart, würden sie nicht unterschreiben wollen. Und nun die ganz kindische praktische Richtung!

Den Felsen des Protestantismus, die norddeutschen Universitäten, und sein Princip angreifen, ohne es thun zu wollen und ohne zu wissen, daß man es thut; der Civilautorität, der gerechten, verständigen und vielgeliebten, das Domaine der geistigen Gewalt zuweisen, damit man es nur ja mit allen ächten Protestanten und Katholiken zugleich verderbe; und was allem die Krone aufsetzt, den deutschen Bund durch ein Nationalinstitut befestigen wollen: gewiß mein Freund, Sie müssen eingestehen, daß es kein direkteres Mittel gab, dem russischen Einfluß über die Gemüther in Deutschland ein Ende zu machen, als dieses Memoire zu begünstigen und den Verfasser den Winter über, wie zur surveillance des <273:> verwilderten Volks, in Weimar aufzustellen. Ich bedaure den edlen Verfasser und die großen Wahrheiten, die das Memoire enthält. Ihn wird man, wenigstens für die deutschen Angelegenheiten, fallen lassen und seine Wahrheiten werden, wenigstens in dieser Textur, nie wieder vorgebracht werden dürfen.

Sie, liebster Freund, haben unter tausend näheren und dringenderen Geschäften diese Schrift nur flüchtig gelesen, also werden Sie bei näherer Betrachtung diese einsamen Reflexionen über einen schweren Mißgriff wohlwollender Politik gewiß billigen. Tausend Dank für Ihren köstlichen Brief, der mir einige wahre Festtage bereitet hat.

Die neue Ausgabe des Conversationslexikons sollen Sie erhalten, sobald sie vollendet ist. Mit meinen Beiträgen: Londoner Bank und österreichische Staatspapiere, werden Sie hoffentlich zufrieden seyn. Da es nun nicht mehr möglich seyn wird, dem Brockhaus einen Artikel über Sie in den sehr verbreiteten Zeitgenossen zu versagen, so bitte ich um Ihre Disposition. Das haben Sie Ihrem täglich steigenden Ruhme zuzuschreiben.

Adam Müller. <274:>