Briefwechsel

181.

Görres an Adam Müller.

Coblenz, am 19. September 1819.

Zum Danke für Ihre neuliche Schrift sende ich Ihnen beiliegend die meine, auch ein offener Brief an alle, die es wohl mit dem Vaterlande meinen. Daß ich Sie unter diesen begreife, werden Sie leicht aus dem Inhalt sehen. Sehr scheu geworden gegen die vielfältige Sophisterei in dieser Zeit, habe ich wohl scharf zugesehen, aber wer so lange in der Minorität tapfern Muthes steht und durch alles Schnödethun des Parteigeistes sich nicht erzürnen noch zur Empfindlichkeit reizen läßt, der kann nicht durch Eitelkeit, sondern allein durch eine gute und starke Ueberzeugung getrieben werden, und die muß man ehren und hochhalten, wenn man sie auch sonst in wesentlichen und unwesentlichen Dingen nicht theilt. Wie wir in unsern Ansichten zu einander stehen, wird Ihnen nun aus der Schrift in den Hauptsachen klar werden, und ich brauche nicht noch zu schreiben, was schon gedruckt ist. Ich habe die Blätter schnell in etwas mehr als vier Wochen niedergeschrieben und fern von jeder Absichtlichkeit mich darin gehen lassen, wie der Geist eben trieb; Sie werden also leicht und vollständig darin erkennen, weß Geistes Kind ich bin. Die Zweideutigkeit, die Sie an mir getadelt, wird Ihnen nun vollkommen klar werden als eine solche, die nicht etwa aus einer dummen Weltklugheit <299:> bei mir hervorgegangen, sondern aus einer natürlichen und geschichtlichen Nothwendigkeit, indem im Grunde jener Janus, der sonst nur an der Spitze der Geschichte steht und nach zwei Zeiten schaut, auch bei jedem großen Zeitabschnitte und jeder wahren Epoche wiedergeboren wird, die menschliche Natur aber in irdischen Verhältnissen sich von jener Dichotomie nie lossagen kann. Ich glaube, daß Sie meiner Grundansicht nichts Erhebliches entgegensetzen werden; in der Ausführung tritt das Menschliche mit seinen Irrthümern und Täuschungen ein, und da sieht man immer das Eine, was dem Andern entgangen; darum ist im Geisterreiche ein Jeder eines Jeden bedürftig. Ich habe Ihre Schrift mit Vergnügen gelesen und bin ebenfalls in der Grundlage mit Ihnen einverstanden, und halte die Religion an sich für eine in demselben Verhältniß gründlichere Basis der Verfassung, denn der Besitz je seyn kann, als der Himmel höher denn die Erde ist. Aber zu diesem Zwecke muß die Religion Mensch werden, und dann ist sie ans Zeitliche gebunden, und nun kann seyn, daß sie so tief gebunden wird, daß wirklich für den Augenblick das schlechtere Princip das Bessere ist, aber freilich, wie es Gott eben eingerichtet hat, als Werkzeug zur Entkettung dieses Besseren führend. Das finden Sie im Buche, ist aber eben kein Einwand gegen das Ihrige, das allein nur ausspricht, was seyn sollte. Etwas verwundert hat mich an einem geübten Denker die naive Freude über gewisse einfache wiedergefundene Grundsätze und der Glaube, daß es bei dieser Einfachheit nun sein Bewenden haben werde. Wenn ein künstliches, in der Ueberbildung gänzlich verschraubtes und verrücktes System einmal lange Zeit die Welt gedrückt, dann hält man es allerdings für eine wichtige Entdeckung, wenn man die großen einfachen Grundfesten wieder in der Tiefe entdeckt, auf denen das Ganze ruht, und vergißt, daß, wenn darauf wieder etwas gegründet werden soll, doch das Zusammengesetzte wieder sein Recht behauptet und es bei einigen Zahlwurzeln nicht sein Bewenden haben kann. Im Grund war das auch einer der Irrthümer Luthers. Alles das verschlägt aber nichts, wofern nur aufrichtigen Herzens dabei gehandelt wird. Ich wünsche, daß es Ihnen wohl ergehen möge. Ihr ergebenster

Görres. <300:>