Roland Reuß
Zum Abschluß der Brandenburger Kleist-Ausgabe

Unwissenschaftliche Nachschrift

Wenn man über einen Zeitraum von über zwanzig Jahren an einer wissenschaftlichen Edition arbeitet und diese Arbeit glücklich abschließen kann, ist Gelegenheit und besteht auch die Notwendigkeit, sich über den zurückliegenden Produktionsprozeß selbst und seine äußeren Koordinaten (die vielbeschworenen »Rahmenbedingungen«) Rechenschaft abzulegen. Dabei ist nicht von der Methode der Edition oder etwa der Weise, wie die technische Entwicklung in ihre Verfertigung eingegangen ist oder dergleichen, zu handeln. Das ist andernorts – vor allem natürlich in den zur Ausgabe von Anfang an dazugehörigen Lieferungen der Brandenburger Kleist-Blätter – geschehen. Ich möchte mich auf den folgenden Seiten vielmehr auf eine Analyse der förderpolitischen und institutionellen Situation konzentrieren, in der heute wissenschaftliche Ausgaben produziert werden.

Als unsere Kleist-Ausgabe 1988 zu erscheinen begann, zog sie – von allem Inhaltlichen abgesehen – vor allem darum Interesse auf sich, weil sie, damals unwissentlich, mit einer Schattenausgabe konkurrierte, die von 1968 an, unter der wechselnden Federführung verschiedener Herausgeber, über zwanzig Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert worden war, ohne daß während der Laufzeit der Unterstützung ein einziger Band publiziert wurde. Von heute aus betrachtet, war unser Auftreten institutionspolitisch äußerst blauäugig, denn wir hatten damit nicht nur die damalige Leitung der Kleist-Gesellschaft in Gestalt ihres Vorsitzenden und prospektiven Kleist-Herausgebers Hans Joachim Kreutzer gegen uns, sondern auch mehr oder weniger die kompakte Phalanx derjenigen Wissenschaftler, die über Jahre hinweg durch Gutachten das (sit venia verbo) Fortschreiten der Phantomausgabe befördert hatten.[1] Im Rückblick erscheint es mir allerdings fraglich, ob wir die Ausgabe ohne diese Blauäugigkeit überhaupt hätten beginnen können.

Die in den folgenden Jahren immer auch vor den Augen der Öffentlichkeit ausgetragenen Auseinandersetzungen mit den Vertretern der etablierten Kleist-Forschung sind gut dokumentiert und müssen hier nicht im einzelnen in Erinnerung gerufen werden.[2] Sie schärften bei mir nicht nur das Mißtrauen gegenüber den von allen so innig angestrebten »Netzwerken«, sondern zunehmend auch den Blick auf den schweren Stand der Geisteswissenschaften in der Gesellschaft und die Gebrechen der Forschungsförderung, wenn es um philologische Grundlagenforschung geht. Ich hebe im folgenden die Punkte hervor, die mir besonders wichtig erscheinen und im Sinne einer Reform der Förderungsstruktur einer breiteren Diskussion zugeführt werden sollten.

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Strukturelle Förderung versus Ereignisförderung – Kritische Ausgaben rechnen, wenn die zugrundeliegende Materialbasis einen gewissen Umfang überschreitet, zu den mittel- und langfristigen Forschungsprojekten (Zeithorizont: fünf bis über vierzig Jahre). Weil das mit viel Geld und zugleich, konträr zum um sich greifenden Kontrollwahn, mit einem beträchtlichen und durchaus riskanten Vertrauenskredit für die initiativen Wissenschaftler verbunden ist, konzentriert sich an ihnen die Problematik der Forschungsförderung in den Geisteswissenschaften. Deshalb ist es kein Zufall, daß sich gerade in diesem Bereich deren Konflikte, methodisch, ökonomisch und institutionell, immer wieder zuspitzen. Man kann geradezu sagen, daß der Stellenwert, den ein Staat seiner eigenen literarischen und d.h. intellektuellen Tradition beimißt, am Status gemessen werden kann, den er der Förderung von Langzeiteditionen einräumt.

Die einst im Sinne einer Arbeitsteilung prima vista so plausibel getroffene Entscheidung, die DFG aus langfristigen geisteswissenschaftlichen Forschungsvorhaben zurückzuziehen und deren Betreuung in die Verantwortung der Akademien zu verlagern, hat sich für die Förderung neu auftretender Initiativen trotz der Reformen, die in den letzten Jahren in Angriff genommen worden sind, als nicht hilfreich erwiesen.[3] Die existierenden Akademieprojekte dauern (sie sind eben Langzeitprojekte) – und es kommt zu einem strukturbedingten Förderrückstau, dessen Wahrnehmung es jüngeren Forschern als wenig aussichtsreich erscheinen läßt, eine Anbindung an eine Akademie anzustreben. Die Entscheidungsprozesse innerhalb wissenschaftlicher Akademien mit der (hier nicht zu kritisierenden) Bevorzugung von Initiativen der Akademiemitglieder und der (hier durchaus zu kritisierenden) manchmal wenig wagemutigen Grundausrichtung der betreffenden Institutionen tun ihr Übriges, diesen Weg für nahezu ungangbar zu halten.

Dies beobachtet, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Abgabe der Verantwortung für die Förderung von geisteswissenschaftlichen Langzeitprojekten an die Akademien – intendiert oder nicht-intendiert – im Ergebnis prohibitive Wirkung auf das Lancieren solcher Initiativen hat. Die resultierende Fehllenkung erfolgt aus einem mentalen Umfeld, das in den letzten zwanzig Jahren zunehmend die Phantasie dafür verloren hat, was es heißt, sich als individueller Forscher für zehn oder mehr Jahre an eine bestimmte – der Sache nach notwendige – Aufgabe zu binden, für die es wenig Anerkennung der Zeitgenossen und nur vielleicht eine größere der Nachwelt gibt. In einem gesellschaftlichen Kontext, bei dem Arbeitsverhältnisse (und auch private) in Zeiträumen kleiner fünf Jahre rechnen, muß das Unterfangen einer zwanzigbändigen historisch-kritischen Ausgabe mit einer Laufzeit von mehr als zwanzig Jahren wie eine weltfremde Bizarrerie wirken – und vielleicht ist es auch zuviel von sogenannten Entscheidern und Gremien verlangt, Förderungen in die Wege zu leiten, deren Dauer ein Vielfaches ihrer Amtszeit beträgt. Die Förderung von Editionsvorhaben verlangt von den beteiligten Geldgebern große Souveränität und Einsicht über den Tag hinaus, beides Eigenschaften, die selten geworden sind.

Der Umstand, daß es heute bedeutend leichter ist, für die Organisation einer einzigen Großveranstaltung 1 Million Euro einzuwerben als für zehn Jahre editorischer Arbeit die Fördersumme von 100.000 Euro pro Jahr sicherzustellen, spricht Bände. Daß viele Stiftungen sich nicht auf eine so lange Zeit binden (und Verantwortung übernehmen) wollen, mag verständlich sein, ist aber im Vergleich mit amerikanischen Einrichtungen gleicher Aufgabenstellung gleichwohl kläglich; daß für die mutige Förderung neuer Editionsvorhaben und die Schaffung von Freiräumen in diesem Bereich durch die dfg eindeutig zu wenig Geld da ist, ist dagegen ein wissenschaftspolitischer Mißstand. Öffentliche Geldgeber scheuen – begreiflicher-, zugleich aber forschungsfeindlicherweise – das Risiko. Am liebsten hat man leicht überschaubare Projekte, die nach spätestens drei Jahren abgeschloßen sind. Alles, was über diesen Zeitraum hinausgeht, ist ein (unkontrollierbares) Problem, für das niemand so recht Zuständigkeit und damit Verantwortung reklamieren will.

Eine historisch-kritische Ausgabe langfristig zu fördern, heißt demgegenüber, die Etablierung einer Struktur geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung zu ermöglichen, die dann für eine Weile in der Welt ist und einer zunehmend hektischer werdenden Event-Wissenschaft kontinuierlich zu denken geben könnte. Wer am liebsten gleich alles »interdisziplinär« haben will (wo Disziplin erst noch nachzuweisen wäre) und sich selbst schon per se für ein »kulturwissenschaftliches« Dispositiv hält, wird mit diesem Ansatz seine Schwierigkeiten haben. Wissenschaft indes, die sich nicht einer steten Reflexion ihrer Grundlagen aussetzt, verliert ihre Legitimation – in den Naturwissenschaften wie in den Philologien. Die Erarbeitung historisch-kritischer Ausgaben ist geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung – par excellence.

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Graswurzeln versus Gießkannen – Editionsprojekte werden aber auch durch eine andere Entwicklung prekär, deren Anfänge gerade zu beobachten waren, als wir mit der Brandenburger Kleist-Ausgabe an die Öffentlichkeit traten. Ich meine die Tendenz, Forschung von oben herab mehr oder weniger anzuordnen, d.h. in praxi solche Förderprogramme aufzulegen, bei denen die Forscher nicht initiierend, sondern nur noch reagierend sind. Das ist der Fall in vielen Feldern der sogenannten Exzellenzinitiative (die ja schon im Namen zeigt, daß die Initiative nicht von der Basis ausgehen, sondern top down einschweben soll), aber auch bei der Etablierung der so innig begehrten Sonderforschungsbereiche. Mit ihren Alles-und-Jedes-Titeln (»Alterität«, »Transgression«, »Irgendwas mit Körper« usw.) veranlassen sie die Forscher, die zunehmend auf die Einwerbung von Drittmitteln angewiesen sind, Projektanträge so zu frisieren, daß sie unter dem weiten Dach des gesetzten Pauschaltitels Platz haben können – unabhängig von der ihren spezifischen Gegenstandsbereichen inhärenten Forschungslogik. Man kann sagen, das ist besser als nichts und ein Trostpflaster für die Geisteswissenschaften, ohne welches mancher junge Forscher keine Subsistenz hätte. Aber wie trostlos ist doch diese resignative Wahrheit, wenn man das desolate Bewußtsein von Wissenschaftsförderung erkennt, das hier im Hintergrund waltet.

Diese Praxis von Förderpolitik ist (a) für den einzelnen Forscher demoralisierend, (b) Ausdruck einer Fundamentalskepsis des forschungspolitischen Systems gegenüber der Kreativität der Wissenschaftler und sie führt (c) zu Zynismus als vorherrschender Geisteshaltung. Sie ist außerdem in sich widersprüchlich, setzt sie doch voraus, daß man von den Geisteswissenschaften ohnedies nichts Revolutionäreres erwartet als ein wenig abwechslungsreichere Wettergespräche – jedenfalls nicht innovative Forschung jenseits des mainstream. Wenn nämlich die großen wissenschaftsfördernden Einrichtungen meinen, sie wüßten ohnedies selbst am besten, aus welcher Richtung der Wind weht, fragt man sich, warum sie autonome Forschung überhaupt noch fördern wollen. Das Geld wäre besser bei den hauseigenen Marketingagenturen angelegt, die dann ohne schlechtes Gewissen die kurrente Mode in immer neuem Gewand anpreisen könnten.

Die form- und inhaltlosen Waschzettel mit Hinweisen auf EU- und sonstige Förderprogramme, die Hochschullehrer wöchentlich in ebenso formlosen Massensendungen (»Fwd: Fwd: Fwd:«) über den e-mail-Verteiler ihrer Hochschulen zugesendet bekommen, gehören in dieselbe Klasse wissenschaftspolitischer Fehlleistungen. Sie sind Symptome eines mittlerweile epidemischen Mißverständnisses davon, wie sich Wissenschaftsbürokratien die Förderung wissenschaftlicher Forschung vorstellen. Anstatt aufgeschloßen für Neues, unterstützend und beratend auf sachlich motivierte Initiativen einzelner Wissenschaftler oder Wissenschaftlergruppen einzugehen, gibt man »Rahmen« vor, die so allgemein sind, daß jeder halbwegs intelligente Zeitgenosse, der ein hochspezialisiertes Forschungsgebiet bearbeitet, weiß, daß es ihn in seiner Sache nicht weiterbringt, auf diese als Offerten getarnten Übergriffe hin einen Antrag zu stellen. Die Angebote sind verfehlt, weil sie von Anfang an eine invertierte Hierarchie etablieren, in der für die beteiligten Wissenschaftler nur die Rolle des Hundes bleibt, der nach der Wurst springt. Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein bleiben bei dieser Abrichtung auf der Strecke. Vergessen ist, daß die Wissenschaftsbürokratien für die Wissenschaftler da sind, nicht umgekehrt.

In einem solchen Forschungsambiente kämpft kritische Edition an allen Fronten. Zu spezifisch, über einen zu langen Zeitraum sich erstreckend, zu sehr ihrer eigenen Logik verpflichtet, scheint es zunehmend unmöglich zu werden, eine stabile Förderung für eine methodisch innovative Edition zu bekommen. Wenn dieser beklemmende Zustand aufgebrochen werden soll, ist eine Revision in der Strategie der Mittelvergabe notwendig.

Man muß weg von der unspezifischen Politik der Gießkanne, die zuletzt nur den Konformismus züchtet, hin zu einer konkreten Sensibilität für die Anstöße, die von der Basis der Forschung selbst ausgehen. Offenheit, nicht weiteres Ausagieren von Macht- und Gängelungsgelüsten in Gestalt forschungslenkender Vorgaben, ist die Losung des Tages.

Ein erster Schritt wäre, daß die DFGeinen eigenen Etat für die Förderung von Editionen und anderen Langzeitvorhaben sicherstellt. Es sollte, den politischen Willen vorausgesetzt, kein Problem sein, Gelder aus dem Etat der Sonderforschungsbereiche – diesen Feigenblättern einer ansonsten nur auf die Förderung von Naturwissenschaften[4] ausgerichteten Forschungspolitik – in die Förderung nachhaltigerer Projekte umzulenken. Deutschland war bekannt nicht nur für seine Philosophen und Dichter, seine Naturwissenschaftler,[5] sondern auch für seine Editionen und Wörterbücher. Dieses spezifische »branding« sollte gepflegt und ausgebaut werden. Man braucht sich sonst über das Schicksal des Deutschen als Wissenschaftssprache keine weiteren Gedanken zu machen. Es hat eine starke, international wahrnehmbare Symbolwirkung, wenn man zeigt, daß man gewillt ist, etwas zu fördern, das länger hält als man selbst.

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Personen versus institutionelle Verantwortungslosigkeit – Man kann schlecht übersehen, daß in den letzten Jahrzehnten Editionsvorhaben das Licht der Welt erblickten, welche die Disziplin insgesamt in Mißkredit gebracht haben – weil sie deutlich längere Zeit in Anspruch nahmen als vorgesehen. Damit meine ich nicht die Fälle, in denen auf Grund neuer Materialfunde eine längere Erarbeitungszeit notwendig wurde. Es liegt in der Natur philologischer Forschungsprozesse, ja von Forschungsprozessen überhaupt, daß man auf dem Weg mit neuen Materialfunden konfrontiert werden kann, die ein Abweichen vom ursprünglichen Plan erforderlich machen. Ich meine vielmehr die gar nicht allzuseltenen Beispiele, in denen sich Arbeitsgänge verzögern, ohne daß ein sachlicher Grund vorliegt – oder ein Grund genannt wird, der zu offensichtlich vorgeschoben ist. Es ist ein großer Fehler, daß die Wissenschaftsförderung der Bundesrepublik die hieran zum Ausdruck kommende Problemlage als okkasionell (als bedauerliche Fehlleistung Einzelner) einzuschätzen pflegt, anstatt eine strukturelle Analyse in Angriff zu nehmen.

Eine solche Analyse käme rasch zu dem Ergebnis, daß eine Editionsförderung, die sich um das Schicksal der beteiligten Wissenschaftler – sie sind häufig mit kurzfristigen Verträgen abhängig Beschäftigte – nicht kümmert, Artefakte produziert, die den Abschluß von Editionen verzögern und damit die Legitimität solcher Unternehmungen insgesamt diskreditieren müssen. Wenn ein Forscher mehr oder weniger freischwebend zehn oder mehr Jahre an einer Edition arbeitet, wird für ihn mit zunehmender Spezialisierung und wachsendem Alter das Problem immer dringlicher, womit er nach Abschluß der Edition sein Geld verdienen kann. Da die Geldgeber in der Regel – und durchaus mit Recht – darauf drängen, daß die Zeitpläne eingehalten werden, mit genau deren Einhaltung aber das Verfolgen einer universitären Laufbahn zugleich aussichtsärmer wird, erscheint die Partizipation an einem editorischen Langzeitprojekt, nüchtern betrachtet, als potentiell suizidales Unterfangen.

Es existiert eine erstaunliche Ahnungslosigkeit in den wissenschaftsfördernden Institutionen darüber, daß man die beteiligten Wissenschaftler ohne Dauerstelle zunehmend in den unauflösbaren Konflikt zwischen Abschluß der Edition und Arbeitslosigkeit geraten läßt. Es ist seinerseits erstaunlich, daß es solcher Bewußtlosigkeit erstaunlich scheint, wenn Projekte sich häufig gegen Ende hinziehen. Den beteiligten Forschern wird als persönlicher Fehler zugeschrieben, was objektiv betrachtet nur das völlige Versagen wissenschaftspolitisch verantwortlicher Strukturbildung ist.

Wenn man das skizzierte Dilemma nicht akzeptieren will (was derzeit state of the art ist), bieten sich nur zwei Möglichkeiten an. Entweder läßt man den beteiligten Wissenschaftlern die Chance, sich universitär weiterzuqualifizieren (und das braucht seine Zeit), oder man sorgt – in gemeinsamer Anstrengung von beteiligter Hochschule und Förderinstitution – dafür, daß die mehr als zehn Jahre an einer Edition Arbeitenden nicht vor dem Nichts stehen, wenn sie eine Edition abschließen. Es lassen sich schlimmere hochschulpolitische Horrorszenarien denken als Editoren, die philologischen Nachwuchs schulen. Beide Wege – von denen mir der zweite der im Sinne erfolgreicher Langzeitprojekte der bessere zu sein scheint – kosten Geld, aber ohne den Einsatz von Geld ist Grundlagenforschung in keinem Fachbereich zu haben.

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Eigensinn versus Kontrollwahn – Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat im Bereich der Edition auch noch etwas anderes gezeigt, das in der derzeitigen Wissenschaftslandschaft von Bedeutung ist. Editionen waren erfolgreich und haben fruchtbare Diskussionen über die Grundlagen unserer Kultur in Gang gebracht genau dann, wenn sie in einem Freiraum agieren konnten, der von den Kontrollreflexen der staatlichen Einrichtungen nicht dominiert wurde. Es amortisiert sich in diesen Bereichen letztlich nur Großzügigkeit, nicht Kleinkrämerei. Das heißt nicht, daß nicht interveniert werden sollte, wenn ein Langzeitprojekt unfruchtbar verläuft. Produktivität setzt aber Freiräume voraus. Zu wünschen ist daher, daß sowohl aus den positiven wie auch den negativen Erfahrungen der letzten dreißig Jahre die richtigen Schlüsse gezogen werden und diese sich alsdann in eine weise zu nennende Praxis von Editionsförderung transformieren. Dabei sind insbesondere folgende Punkte zu berücksichtigen.

(1) Auf die Zusammensetzung einer Herausgebergruppe ist nicht von außen Druck auszuüben. Sie ist Resultat der autonomen Entscheidung einzelner Wissenschaftler. Die Beispiele, wo äußere Interventionen von Geldgebern in die heikle Frage von Herausgebergremien ein forschungspolitisches Desaster herbeigeführt haben, sind Legion. Das vielleicht eklatanteste Beispiel ist wohl der Förderungsverlauf der Kleist-phantomausgabe. Zu einem bestimmten Zeitpunkt insistierte die DFG – mit unweise eingesetzter Macht – ultimativ darauf, daß einander nicht sympathetisch zugewandte Forscher mit völlig unterschiedlichen Editionskonzepten (Klaus Kanzog und Hans Joachim Kreutzer) gemeinsam die Arbeit in Angriff nehmen sollten und nur dann überhaupt gefördert werde, wenn sie sich zusammenschlössen – ein grotesker psychologischer Fehler. Die Erzwingung der Kooperation resultierte direkt aus dem Mangel an Urteilskraft, begründet eine Entscheidung für eines der beiden vorgeschlagenen Konzepte zu fällen. Daß von jener Ausgabe kein Band je erschien, war nicht einfach nur die ›Schuld‹ der beiden prospektiven Herausgeber. Die Institution, die sie nominell finanziell förderte, trägt einen Gutteil der Verantwortung für diesen caso disfatto.

(2) Auf die Form der Publikation ist keinerlei Druck auszuüben. Editoren, die eine beträchtliche Zeit ihres Lebens an einem Projekt arbeiten, wissen in der Regel am besten, wie sie ihre Arbeit der Mit- und Nachwelt überliefern wollen. Dieses Wissen sollte nicht durch ein Besserwissenwollen der Fördereinrichtungen marginalisiert werden. Ich habe es erlebt, daß ich über ein Jahr nach Einreichung der Unterlagen für einen DFG-Antrag auf Förderung der Edition von Brechts Notizbüchern (Herausgeber: Peter Villwock) als alleinige Rückmeldung der anonymen Fachgutachter die Frage zugestellt bekam: in welchem Datenbankformat denn die Ausgabe abgelegt werde?

Diese Frage war in mehrfacher Hinsicht deplaziert, denn nicht nur existierte ein Vertrag mit dem Suhrkamp Verlag und mit der Publikation der Bücher die Gewähr für stabile Lektüreverhältnisse für mindestens dreihundert Jahre; die Edition war zudem im Antrag ausdrücklich als Hybrid-Publikation eingereicht, die die Editionsergebnisse zugleich mit dem Buch auch in einer pdf-Version mit umfangreichen Zusätzen und Hyperlinks auf DVD vorlegen sollte. Ich schrieb zurück, daß das pdf-Format meines Wissens das einzig international akzeptierte digitale Format für Langzeitarchivierung sei und ich eine zusätzliche Datenbankerfassung für überflüssig erachte.[6] Ich ersparte mir den Hinweis in der Sache, daß allenfalls philologische Apparate der Generation Friedrich Beißners mit ihren genetischen Stufenapparaten (und der willkürlichen Erzeugung von Mikrotext) in Datenbanken unterzubringen sind, nicht aber die methodisch avancierten topographisch-genetischen Transkriptionen, die einen starken Akzent auf die mögliche Darstellung von Unentscheidbarkeit setzen.[7] Die Frage des anonymen[8] Gutachters konnte nicht philologisch, sondern nur polizeilich gemeint sein.[9]

Es ist unstatthaft, durch dergleichen Vorschriften oder Unterstellungen, die Technik einer Publikationsform betreffend, ein philologisch avanciertes Projekt den Intentionen seiner Herausgeber zu entfremden – und dadurch zugleich das wissenschaftliche Verfahren kontrollieren zu wollen. Ob Herausgeber eine Buchpublikation oder eine digitale Version von Edition favorisieren, oder beides zugleich, ist Resultat ihrer konkreten publizistischen Erfahrung und ihrer praktischen Urteilskraft – und in die sollte vertrauen, wer überhaupt fördern will. Die hohe Eigenmotivation der Herausgeber ist der allesentscheidende Faktor für das Gelingen eines Langzeiteditionsprojekts. Was immer diese Motivation schwächt, schwächt die Aussicht, ein solches Unternehmen zu einem guten Ende zu führen.

Daß bei all dem auch die Expertise der Fachverlage[10] eine zentrale Rolle spielt, scheint mir auf der Hand zu liegen – und Tendenzen der öffentlichen Hand, die Verlage aus dem Editionszusammenhang herauszudrängen, resultieren zwangsläufig in Unprofessionalität. Niemals etwa hätte irgend eine öffentliche Stelle die fachliche Hilfe zur Verfügung stellen können, die in die reflektierte äußere Erscheinungsform unserer Kleist-Ausgabe eingegangen ist – von der persönlichen Betreuung und der Unterstützung beim Durchsetzen der Ausgabe ganz zu schweigen. Wer zehn Jahre oder länger an einem Projekt sitzt, will, daß die Lese-Ergonomie seiner Ausgabe nicht den letzten fünfhundert Jahren Erfahrung in Typographie Hohn spricht. Er will ein professionelles Produkt, professionell betreut, nicht selbstgehäkelte Times-New-Roman-Girlanden mit Zeilenbreiten von 150 Zeichen. Ich sehe nicht, wie man das ohne die (hier ist das Wort am Platz) Kompetenz eines wissenschaftlichen Fachverlags im Rücken erreichen kann.

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Wunsch versus Realität – Vielleicht ist es nach dem Abschluß der Brandenburger Kleist-Ausgabe, die der Verlag, Peter Staengle und ich, more more than less successful, durch die geschilderten Brandungen gelenkt haben, möglich, noch einen Wunsch zu äußern. Er kann sich nur richten an die Kollegen vom Fach, die die philologische Grundlagenforschung in Gestalt der historisch-kritischen Ausgaben als substanzielles Element ihrer Forschung endlich integrieren sollten. Es ist Zeichen von Unprofessionalität und trägt zur lang beklagten Legitimationskrise des Fachs nicht unbeträchtlich bei, wenn etwa in Arbeiten zu Adalbert Stifter die Ausgaben des Goldmann-Verlags zu zitieren nicht ungewöhnlich ist; wenn »Process« oder »Schloss« in Unkenntnis von Kafkas Schreibweise (und der aktuellen philologischen Diskussion) immer wieder mit einem scharfen s geschrieben wird; wenn es überhaupt bei vielen Fachvertretern keinerlei Bewußtsein von der Qualität einer Textgrundlage gibt und zitiert wird, was man gerade so zur Hand hat. Bei Historikern wäre das unmöglich, bei Germanisten ist das alltäglich. Ein Chemiker gar, der heute die Struktur von Wasserstoffatomen untersuchen wollte und dabei mit einem einfachen Mikroskop hantierte, wäre nur noch die peinliche Karikatur seiner Zunft. Ich wünsche mir, daß das auch in seiner politischen Bedeutung begriffen wird.

Wer die »Urschrift der individuellen, humanen Existenzverhältnisse, das Alte, Bekannte und von den Vätern Überlieferte, noch einmal, womöglich auf eine innerlichere Weise, durchlesen« will (wie es am Ende von Kierkegaards »Unwissenschaftlicher Nachschrift«[11] heißt), der wird auf den Dienst der historisch-kritischen Ausgaben nicht verzichten können. Sie sind, im Interesse der Allgemeinheit, vernünftig zu fördernde Produkte ›nachhaltiger‹ (re vero: nachhaltiger) Grundlagenforschung. Ut desint vires tamen sunt laudandae editiones.

 

Fußnoten

[1] Siehe die Dokumentation der einschlägigen Mitteilungen der DFG in der Antwort von Ingeborg Harms auf die Rechtfertigungen Walter Müller-Seidels, in: MLN 108 (1993), 606-610 (die Stellungnahme Müller-Seidels ebd., 605f.). Wenig später hat die DFG damit aufgehört, in ihren öffentlichen Jahresberichten derart differenziert Rechenschaft abzulegen. [zurück in den Haupttext]

[2] Die Zeit heilte hier viele Wunden. Mit den Ausnahmen von Helmut Sembdner, Norbert Oellers und Gunter Martens, die unserem Projekt von Anfang an mit Sympathie gegenüberstanden, änderte sich nach und nach auch die Einstellung der editorisch tätigen Forscher, die unser Projekt anfangs attackiert hatten. Zu nennen sind hier insbesondere Hans-Gerd Roloff und vor allem Hans Zeller. [zurück in den Haupttext]

[3] Daß Projekte wie die BKA dann doch jenseits einer Akademie-Anbindung gefördert werden konnten, war die Reaktion auf einen Notstand. Verwaltungstechnisch wurde, wie in ähnlichen Fällen auch, der Fiktion gefolgt, man habe es mit einem Projekt zu tun, dessen Laufzeit nie zwei, drei Jahre überschreite. [zurück in den Haupttext]

[4] Es hat sich hier das sinnreiche Akronym MINT (Medizin / Informatik / Naturwissenschaften / Technologie) eingebürgert – voilà: wir zwinkern kennerisch mit den Augen und verstehen: alle anderen Wissenschaftsbereiche sind not so mint. Angesichts dieses typisch-deutschen Geistreichelns fällt mir nur der Kreidespruch ein, der jahrzehntelang im Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg über einem Durchgang geschrieben stand, der nur Leute durchließ, die sich kleiner als 1,60 machten: Mind your mind, if any. [zurück in den Haupttext]

[5] Die, was oft vergessen wird, nur deshalb solche revolutionäre Erfolge feiern konnten, weil ihr Denken eben auch durch die unbequeme deutsche Literatur und Philosophie hindurchgegangen war – nicht an ihr vorbei. Einstein ist hier nur das prominenteste Beispiel. [zurück in den Haupttext]

[6] Ganz abgesehen davon, daß man dann nicht nur Gelder für einen Herausgeber, sondern auch für einen zusätzlichen Techniker hätte beantragen müssen. [zurück in den Haupttext]

[7] Vgl. zum methodisch-philologischen Hintergrund RR, Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift. Notizen zur »Textgenese«, in: TEXT 5 (1999), 1-25. Man kann an dem geschilderten Fall übrigens gut erkennen, daß die Wahl der verwendeten (oder auszuschließenden) Technik nicht sachneutral ist, sondern in die philologische Arbeit selbst eingreift. Für das Brecht-Projekt hätte ein Sich-Fügen in den Datenbanktick einen methodischen Rückschritt auf den Stand der sechziger Jahre mit sich gebracht. [zurück in den Haupttext]

[8] Ich kann hier natürlich nur für die Germanistik sprechen, aber die Anonymität der Gutachter und die Tatsache, daß die DFG ohne selbst je kontrolliert zu werden, willkürlich entscheiden kann, wer von den zur Verfügung stehenden Personen gutachtet, ist der Punkt, der in der institutionellen Struktur der DFG völlig inakzeptabel ist. Wer garantiert, daß die Gutachter nicht nur ihren eigenen Interessen und nicht denen der Allgemeinheit folgen? Ein Blick auf die Praxis etwa des Schweizerischen Nationalfonds sollte zeigen, daß es auch transparentere und für alle Beteiligten (nicht nur für die, die die Machtpositionen kontingenterweise gerade besetzt halten) befriedigendere Bewertungsprozeduren wissenschaftlicher Initiativen gibt. Die Möglichkeit, eine Appellationsinstanz anrufen zu können, ist dabei der zentrale Unterschied, einer der fairness. [zurück in den Haupttext]

[9] Es überraschte mich nicht, daß die Förderung dann nach einer wiederum längeren Verweildauer abgelehnt wurde. Das hat den Start der Ausgabe allerdings nicht verhindert. Die als Kooperation der Berliner Akademie der Künste (Brecht-Archiv) und des Instituts für Textkritik erscheinende Ausgabe wurde zwischenzeitlich vom Deutschen Literaturfonds unterstützt und kann jetzt mit Hilfe der Otto Wolff-Stiftung voranschreiten. [zurück in den Haupttext]

[10] Damit sind selbstverständlich nicht die Verlage gemeint, die sich alles vorab zahlen, von den Editoren oder Autoren produzieren lassen und dann Preise verlangen, bei denen jedes verkaufte Buch Reingewinn bedeutet – Verlage, die zu einer kompetenten Expertise vielleicht fähig wären, aber nicht mehr willens sind. [zurück in den Haupttext]

[11] Sören Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. 2 Bde. Übersetzt von Hans Martin Junghans [= S. K., Gesammelte Werke, 16. Abteilung] (Düsseldorf, Köln 1957), II 344. [zurück in den Haupttext]