Vorwort

Der vorliegende Band erschließt und dokumentiert den handschriftlichen wissenschaftlichen Nachlaß von Georg Minde-Pouet. Als Editor der Werke H. v. Kleists zählte Minde-Pouet (1871-1950) in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu den maßgeblichen und einflußreichsten Kleist-Forschern. Im Zeitraum zwischen etwa 1905 und 1940 legte er eine umfangreiche Materialsammlung zu Person und Werk des Dichters an.Für die Aufarbeitung dieses ungedruckten Nachlaßteiles sprachen nicht nur äußere, archivarische bzw. konservatorische Gründe. In den Aufzeichnungen und Dokumenten spiegelt sich eine Phase der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kleist wider, die auch heute noch kaum als abgeschlossenes Kapitel betrachtet werden kann – weder in der allgemeinen Geschichte der Germanistik noch in der besonderen der Kleist-Forschung.

Es sind zwei Eckdaten, auf die das hier präsentierte Material bezogen ist und auf die sich auch Minde-Pouets persönliche Rolle in der Kleist-Forschung gründete. Im Rahmen der von seinem Lehrer und Mentor Erich Schmidt 1904/05 herausgegebenen kritischen Gesamtausgabe der Werke Kleists (ES) war Minde-Pouet für den abschließenden fünften Band verantwortlich, mit dem die bis dahin bekannten Briefe Kleists erstmals in einer, den damaligen philologischen Ansprüchen genügenden Form publiziert wurden. Das zweite Datum bildet die nach Erich Schmidts Tod (1913) von Minde-Pouet allein begonnene Arbeit an einer erweiterten zweiten Auf lage dieser Kleist-Ausgabe (MP). Von den geplanten acht Bänden erschienen zwischen 1936 und 1938 sieben Textbände. Der achte Band mit dem wissenschaftlichen Kommentar erschien indes nicht, so daß die überarbeitete Neuauflage Fragment blieb.

Im Mittelpunkt der folgenden Dokumentation steht das zur Vorbereitung dieses Kommentarbandes von Minde-Pouet gesammelte Material. Die über 2000 Dokumente sind Notizen, Exzerpte, korrigierte Druckfahnen, Textausschnitte, Abschriften, Faksimiles sowie Korrespondenzen, bibliographische Angaben, Zeitungsartikel, Porträtphotographien etc. Die Bedeutung des Nachlasses, insbesondere dieses ungedruckten Teils, ist in der Kleist-Forschung in den letzten Jahrzehnten immer wieder hervorgehoben worden, und er wurde auch punktuell genutzt. So sind z. B. Helmut Sembdners Bände zur Lebens- und Wirkungsgeschichte Kleists den Recherchen Minde-Pouets in vielfacher Hinsicht verpflichtet. Eine systematische Erschließung des Nachlasses ist aber bislang unterblieben. Vordringlichstes Ziel der Dokumentation ist es daher, die Unterlagen zu der nicht abgeschlossenen Kleist-Ausgabe der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Angesichts der Schwierigkeiten, vor der jede, ob editorische oder interpretatorische Beschäftigung mit Kleist gestellt ist, gehört die allgemeine Verfügbarkeit diesbezüglicher Forschungsbemühungen, ganz gleich, in welchem materiellen Zustand sie angetroffen werden, zu den notwendigen Voraussetzungen.

Auf wessen Initiative die Idee zu der Neuausgabe 1936/38 zurückging, ob etwa der Verlag, das Bibliographische Institut (Leipzig), dazu die Anregung gab, oder ob Minde-Pouet sich, als der quasi Erbberechtigte, selbst ins Gespräch brachte, läßt sich aus dem Nachlaß nicht eindeutig klären. Das früheste datierbare Zeugnis zu dieser Frage stellt ein Brief von Heinrich Meyer-Benfey vom 26.10.1926 dar – der Brief hat in der Dokumentation die Signatur b100415 –, in welchem auf den Plan einer Neuausgabe Bezug genommen wird. Allerdings hatte Minde-Pouet schon sehr viel früher, vermutlich noch während bzw. unmittelbar nach Abschluß von ES, mit dem Aufbau seiner Sammlung begonnen. Dafür gab es sachliche Gründe wie etwa die 1905 erfolgte Versteigerung der Kleist-Handschriftensammlung von Alexander Meyer Cohn (vgl. b100103), durch welche die Besitzerangaben in der gerade erschienenen Ausgabe bereits Makulatur geworden waren. Das Vorläufige des Publizierten unterstrich der von Minde-Pouet bearbeitete Briefband vor allem aber in den nicht zu übersehenden Anordnungs- und Identifizierungsschwierigkeiten der Briefe selbst, die sich aus dem damaligen Kenntnisstand über die Korrespondenz Kleists notwendigerweise ergaben.

Wie allein schon die quantitative Gewichtung des hier präsentierten Materials zeigt, hat Minde-Pouet in den folgenden Jahrzehnten den Schwerpunkt der biographischen Forschung kaum verlagert. Den Werken Kleists ist, was die Textkonstitution von ES zu MP betrifft, ungleich weniger Aufmerksamkeit gewidmet worden. Grundsätzliche Eingriffe in die Textgestaltung von ES sind unterblieben. Zur Kommentarvorbereitung sind den diesbezüglichen Unterlagen vereinzelt neuere Forschungsergebnisse, Deutungsansätze oder sonstige Erklärungen beigefügt. Den Grundstock der Werkkommentierung stellten weiterhin die Fußnoten aus ES dar, die in MP nicht mehr auf den entsprechenden Seiten, sondern im gesonderten Band aufgenommen werden sollten. Für die Erläuterung von Gedichten, wie etwa der Germania-Ode, waren die gründlichen Vorarbeiten von Ottomar Bachmann vorgesehen. Der Kleist-Nachlaß des 1918 verstorbenen Bachmann war in den Besitz der Stadt Frankfurt (Oder) übergegangen, die ihn der Kleist-Gesellschaft überlassen hatte. Er ist dann von Minde-Pouet gesichtet und umstandslos zur weiteren Auswertung in die eigene Sammlung einsortiert worden.

Die Konzentration aufs Biographische entspricht dem wissenschaftlichen Selbstverständnis Minde-Pouets. Obgleich 1895 mit einer philologischen Arbeit über Heinrich von Kleist. Seine Sprache und sein Stil bei Erich Schmidt in Berlin promoviert, schlug er die höhere Bibliothekarslaufbahn ein, die ihn zunächst von den damaligen akademischen Auseinandersetzungen um Posten und Methoden wegführte. Im Zuge der erneuten nationalistischen Ausrichtung der Germanistik nach dem 1. Weltkrieg gewann die Kleist-Forschung zusehends an kulturpolitischer Bedeutung. Sie führte 1920 zur Gründung der Kleist-Gesellschaft, in der Minde-Pouet, mittlerweile Leiter der Deutschen Bücherei in Leipzig, neben Julius Petersen den Gründungsvorsitz übernahm. Über fast ein Vierteljahrhundert hinweg dominierte er mit seinen Kenntnissen, mit seiner Sammlung sowie mit seinen Kontakten diese Institution, in der er zwischen 1921 und 1930 sowie zwischen 1933 und 1945 als Vorsitzender fungierte. In dieser Eigenschaft war er Herausgeber der Jahrbücher der Kleist-Gesellschaft. Dort publizierte er für den Zeitraum zwischen 1914 und 1937 sukzessive eine Kleist-Bibliographie. Das offizielle Amt ließ sich für Minde-Pouet auf ideale Weise mit dem Ausbau seiner Forschungsneigung, der Suche nach Lebenszeugnissen Kleists, verbinden. Dabei kam ihm offenbar ein gewisses Talent im Umgang mit den Vertretern alteingesessener preußischer Familien zugute, die in Beziehung zur Familie Kleist gestanden hatten, und die er, wie etwa die entsprechende Korrespondenz mit den v. Stoschs (z. B. b107904) und v. Schönfeldts (z. B.b112301) zeigt, als Ansprechpartner an sich zu binden wußte. Als Ergebnis seiner Bemühungen konnte er es sich schließlich als Verdienst anrechnen, den Brief korpus bis zur 2. Auflage um 25 Briefe erweitert zu haben.

Wie die für die Briefkommentierung zusammengetragenen Dokumente belegen, rechtfertigte für Minde-Pouet der Erfolg beim Entdecken und Sammeln von Handschriften offenbar entsprechende Beschaffungsmethoden. Die Ausnutzung von Untergebenen, wie etwa im Fall der, zwecks Kopieren, erwirkten kurzfristigen Überlassung einer Kleist-Handschrift vor ihrer Versteigerung (vgl. b107302), gehörte dabei offenbar noch zu den moderateren Vorgehensweisen. Sehr viel schwerer wiegt hingegen ein anderer Fall. Im Nachlaß fanden sich Abschriften dreier Kleist-Briefe an Marie v. Kleist, den sog. »Abschiedsbriefen« (9.11., 10.11., 12.11.1811; vgl. b221400). Es handelt sich dabei um die Abschriften, die Varnhagen von Ense von Marie v. Kleists Brief kopien hatte anfertigen lassen. Die Apographen gehörten zum Bestand der Sammlung Varnhagen, die damals noch vollständig in der Preußischen Staatsbibliothek auf bewahrt wurde. Da die Originale nicht bekannt geworden sind und frühere Abschriften schon damals als verschollen galten, müssen die Apographen als relevante Textzeugen angesehen werden. Auf welche Weise sie in den Besitz von Minde-Pouet gekommen sind, ist nicht geklärt.

Vor dem Hintergrund dieses, auf eine positive Sammeltätigkeit hinauslaufenden Verständnisses von Editionsphilologie darf es nicht verwundern, daß der wissenschaftliche Nachlaß weder eine grundsätzliche noch eine gründliche Auseinandersetzung mit text- bzw. editionskritischen Fragen bietet. Eine Vorstellung von der praktischen textkritischen Arbeit an den Briefen vermittelt die Vielzahl an Drucktextausschnitten von ES mit entsprechenden Annotationen, Erstdruck- oder Kollationsvermerken. Im Zuge dieser Revision wurden z. B. bei der Kollationierung Streichungen bzw. Überschreibungen, Schreibeigentümlichkeiten und sonstige Korrekturen Kleists festgehalten. Sie sollten vermutlich im Kommentar erwähnt werden, jedoch hat Minde-Pouet diese Notierungen anscheinend nur für ausgewählte Stellen vorgenommen. Der weitaus größte Teil des zusammengetragenen Kommentarmaterials besteht zum einen aus biographischen Ermittlungen zu Personen und Zeitgenossen im Umkreis Kleists, zum anderen aus Recherchen zu einzelnen Lebensstationen. Zu den hier eingeordneten Aufzeichnungen anderer Kleist-Forscher müssen die von Richard Samuel (1900-1983) besonders hervorgehoben werden. Mit ihm, der 1933 aus Deutschland fliehen mußte, führte Minde-Pouet bis etwa 1938 eine umfangreiche Arbeitskorrespondenz, wobei hauptsächlich er vom philologischen Spürsinn und profunden Wissen Samuels über zeitgeschichtliche Zusammenhänge profitierte (z. B. b108809).

Die Kontaktbemühungen des Emigrierten – vermutlich durch Petersen initiiert, dessen Schüler Samuel gewesen war – lassen etwas von der Reputation erahnen, die Minde-Pouet sich durch seine Stellung und Aktivitäten verschafft hatte. Im Gesprächsangebot Samuels muß indes hinsichtlich der Person Minde-Pouets als auch der Sache selbst das untergründige Zentrum der ausufernden Materialmasse gesucht werden.

Was die Person angeht, so ist für das Verständnis und die wissenschaftshistorische Einschätzung des Nachlasses die Berücksichtigung der entscheidenden Phase von Minde-Pouets literaturpolitischer Tätigkeit unerläßlich. Als Literaturfunktionär betrieb er 1933 offensiv den Übertritt der Kleist-Gesellschaft in den nationalsozialistischen Kulturapparat. Das Material zu den Werken und Briefen Kleists gibt hierüber keine detaillierten Auskünfte. Sie sind allerdings von den, dem Nachlaß beigefügten, noch unaufgearbeiteten Akten der Kleist-Gesellschaft dieser Zeit zu erwarten. Wie man heute weiß, hat Minde-Pouet sich bei dieser Eingliederung mit antisemitischen Äußerungen nicht zurückgehalten und sich auch sonst mit rassistischen Denunziationen hervorgetan.

Bezüglich der Sache machte Samuel mit seinen Anregungen und kritischen Nachfragen zu Unklarheiten in der Ausgabe von 1905 unausgesprochen fortwährend auf den wunden Punkt aufmerksam: Das Unzulängliche der bloß revidierten Zweitauf lage einer mittlerweile selbst schon ins Historische gerückten Kleist-Ausgabe und der Verzicht auf ein grundsätzliche Neukonzeption, die den veränderten philologischen Standards Rechnung trägt. Mindestens aber wollte Samuel mit seinen Vorschlägen sicherstellen, daß ein anschließendes, größeres Editionsprojekt auf entsprechende Vorarbeiten hätte zurückgreifen können. Sie hätten im Kommentarband präsentiert werden können und der Neuausgabe einen verdienstvollen Platz in der Editionsgeschichte Kleists verschafft. Kurz nach Minde-Pouets Tod drückte Samuel deshalb gegenüber Eva Rothe, der langjährigen Mitarbeiterin Minde-Pouets und späteren Verwalterin seines Nachlasses, seine Enttäuschung über das tatsächlich Vorhandene aus. In einem auf den 1. März 1952 datierten Brief, der zum Aktenbestand der Kleist-Sammlung gehört, heißt es: »Der Stand von MP's Ausgabe hat mich sehr interessiert. Ich hatte geglaubt, dass die Anmerkungen alle fertig und druckreif seien. Zur Ausgabe selbst möchte ich sagen, dass ich stets bedauert habe, daß M.P. die Erich Schmidt Einleitungen fast ohne Zusatz übernommen hat. Es wäre soviel dazu zu sagen gewesen.«

Nach dem Tod Georg Minde-Pouets 1950 erwarb die damalige Wissenschaftliche Zentralbibliothek Berlin (WZB) den Nachlaß des Kleist-Forschers und übergab ihn 1954 der neuentstandenen Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) in Berlin-Kreuzberg, wo er das Fundament der heutigen Sammlung zu Heinrich von Kleist bildete. Bis in die Gegenwart betreute und erweiterte die AGB die Sammlung systematisch. So wurden Nachlaßteile katalogisiert und konservatorisch bedrohte Bestände auf Mikrofilm gesichert, Sammlungsaufgaben fortgesetzt und neue Bereiche hinzugefügt. Im Frühjahr 1996 wechselte die Sammlung als Dauerleihgabe an die Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte nach Frankfurt/Oder.

Die vorliegende Dokumentation ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes von 1993 bis 1995 an der Amerika Gedenkbibliothek. Bei der computergestützten Erschließung und Kommentierung des handschriftlichen Nachlasses wurde die von Georg Minde-Pouet vorgenommene Zuordnung der Dokumente in einzelne beschriftete Kuverts beibehalten. Die Dokumentation konzentriert sich aufgrund des Materialumfangs auf die Dokumente zu den Werken und Briefen Heinrich v. Kleists. Durch die parallele digitale Publikation des Materials auf CD (im pdf-Format) steht es zugleich unterschiedlichsten Recherchen und Benutzerinteressen zur Verfügung. In der vorangestellten Einleitung werden der Aufbau der Sammlung umrissen, die Vorgehensweise bei der Erschließung dargestellt sowie Hinweise zur Systematik und Benutzung der Dokumentation gegeben.

Unser Dank gilt der Initiative von Roland Reuß und Peter Staengle zur Erschließung des Nachlasses, dem Berlin-Brandenburger Kleist-Klub als Projektträger sowie der Amerika-Gedenkbibliothek Berlin für die gewährte Unterstützung. Dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, dem Bundesministerium des Innern sowie der Berliner Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten ist für die Förderung zu danken. Besonderer Dank gilt der Mitarbeit von Doris Borelbach und Doris Reimer.

Wilhelm Amann

Tobias Wangermann

Berlin und Mülheim im November 1996