TOFU

Der zunehmende Gebrauch von e-mail hat ein schlimmes, im Bereich der Schrift noch nie dagewesenes Phänomen gezeitigt. Der weitaus größte Teil der Leute, die sich mittels e-mail austauschen, tut das, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, wie die Post beim Empfänger ankommt. Die Verantwortung für die Wahrnehmung dessen, was man geschrieben hat, wird nicht mehr übernommen. Beim traditionellen Brief war das unvorstellbar; beim Schreiben bereits über den späteren Empfänger reflektierend, versuchte der Schreiber tendenziell, alle äußeren Merkmale auf das Gegenüber abzustimmen: Papierwahl, Format, Schriftbild etc. waren Momente der zu eröffnenden Kommunikation, die nicht dem Zufall überlassen wurden. Respekt dem anderen gegenüber auch in den äußeren Bestandteilen eines Briefes war eine, vielleicht die wichtigste Bedingung des Gelingens von durch Schrift vermitteltem Austausch.

An die Stelle jenes Respekts tritt heute nicht selten die bekennende Ahnungslosigkeit gepaart mit schonungsloser Nichtüberprüfung der Rechtschreibung. Laufen Sachen schief, meint man sich schon vorweg generaliter durch die Technik entschuldigt. Aber so einfach kommt man, Sancho Pansa, nicht davon. Unverschämtes, selbst wenn nicht intendiert, bleibt unverschämt; Mängel der äußeren Form bleiben Mängel, selbst wenn unwissentlich produziert. Die Unwissenheit entschuldigt, wie im allgemeinen, so auch hier nichts. Es ist ja nicht so, daß irgendwo ein Schild steht: »Beim Betreten des e-mail-Bereichs lasse alles Nachdenken fahren.« Ein paar Notizen also zu einem formalen e-mail-Steller.

Das erste feature, das man in seinem e-mail-client (Outlook-Express, Eudora, Netscape etc.) abstellen (oder jedenfalls nicht anstellen) sollte, ist jenes, das den Empfänger dazu auffordert, eine Empfangsbestätigung zu verschicken. Abgesehen davon, daß dieses feature schon manchen Empfangsrechner gehörig durcheinander gebracht hat, wie würde man eigentlich über einen Freund oder Kollegen denken, der seine Briefe allesamt per Einschreiben schickt? Eben.

Mindestens ebenso nervig sind e-mails jener Zeitgenossen, die, weil es auf ihrem Rechner schön aussieht, ein HTML-(wie es heißt:)-Briefpapier für ihre Post verwenden, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß manche Empfänger dieses Format (a) aus technischen Gründen nicht vernünftig interpretieren können, oder (b), was ohnedies zu empfehlen ist, den Empfang in diesem Format absichtlich deaktiviert haben – weil sie nicht wollen, daß auf ihrem Rechner Sachen passieren, die (hoffentlich) von niemandem erwünscht sind. Das Einfachste ist hier das Beste, denn das kann jeder, gefahrlos, empfangen, und eine Nachricht zu verschicken, die sich selbst durchstreicht, mag ein schönes Beispiel für bestimmte Literaturtheorien sein, als Mittel, mit jemand anderem in Kontakt zu treten, taugt es wenig. Also nicht digitales Bütten, sondern 8bit-Ascii. Man muß ein bißchen genauer schauen in den Voreinstellungen, dann sollte man das aber schon hinkriegen.

Doch selbst wenn der e-mail-client diesbezüglich empfängerfreundlich konfiguriert ist, passieren immer noch die haarsträubendsten Sachen. Sie hängen mehr oder weniger alle mit einem unvernünftigen Gebrauch des reply-buttons zusammen, und gerade hier zeigt sich, daß die goldene Regel, der kategorische Imperativ – verschicke keine e-mail, von der du nicht wünschen könntest, sie selbst zu erhalten – nur selten beherzigt wird. Das Geheimnis des reply-buttons ist, was man sich eigens zu Bewußtsein führen muß, sein verstecktes Verhältnis zur voreingestellten Zeichenanzahl pro Zeile. Vorweg hierzu: Wer in den diesbezüglichen Optionen gar keine Begrenzung eingestellt hat (auch das kommt vor), hat unter Beweis gestellt, daß Solipsismus doch eine Sicht der Welt sein kann. Denn je nach Bildschirm und gewählter Schrift kann es dann schon passieren, daß der Empfänger Zeilen von 200 bis 300 Zeichen je Zeile vor sich hat, und, wäre nicht irgendwie durch die bloße Existenz der e-mail formal angezeigt, daß kommuniziert werden soll, würde es sich empfehlen, die Sendung gleich in die trash-box zu entsorgen. Menschenwürdige Zeilenlängen beginnen bei 70 Zeichen pro Zeile abwärts, und um sich das produzierte Erscheinungsbild einigermaßen vorstellen zu können, sollte man auch gleich eine Nicht-Proportionalschrift verwenden (anstelle der allgegenwärtigen Courier empfiehlt sich die kostenlose Andale-Mono von Monotype). 

Ist einmal eine vernünftige Zeichenanzahl pro Zeile (65-70) eingestellt, hat man eine Basis, die einen in die Lage versetzt, den reply-button geregelt und sinnvoll einzusetzen (richtig: daß man auf eine Maus-Taste drücken kann, reicht hierfür durchaus noch nicht aus). Doch schon tut sich die nächste Falle auf: Im deutschen Usenet ist für sie das Akronym TOFU gebräuchlich: Text Oben Fullquote Unten (die Mischung von Englisch und Deutsch, die auch in meinem Text hier verwendet wird, wäre eine eigene Glosse wert). Man bearbeitet den vom Computer erzeugten Zitattext nicht weiter, sondern schreibt einfach seinen Text obendrüber. Faulsein kann schön sein, nicht unbedingt aber, wenn dadurch einfachste Regeln der Sozialität mit Füßen getreten werden. Für empfindliche Empfänger ist das möglicherweise schon dadurch angezeigt, daß einem die Faulheit des Gegenüber in der Form des Vollzitats entgegentritt (wo Löschen doch so einfach ist). Niemand würde auf den Gedanken kommen, einem Antwortbrief den anfänglichen Brief beizulegen – und dafür ist (hoffentlich) nicht nur der Umstand verantwortlich, daß dann das Porto teurer wäre. Im Falle der e-mail kommt – goldene Regel, kategorischer Imperativ – hinzu, daß, gesetzt das Gegenüber hätte auch so schlechte Umgangsformen, bei einer weiteren Antwort schon zwei, dann drei usw. fullquotes den Weg durch die Kanäle finden, und kein Mensch mehr weiß, wovon die Rede ist. 

Der Grund hierfür ist (neben der reinen Textmenge, die überflüssigerweise mitgeschleppt wird), daß jedes automatische quoting immer mindestens zwei Zeichen an der Zeilenlänge wegnimmt, eines für das Zitatzeichen (meistens und sinnvollerweise das »>«), eines für das Spatium danach. Immer dort, wo die voreingestellte kritische Zeichenanzahl überschritten wird, macht der client automatisch einen Umbruch, so daß meist bereits beim ersten Vollzitat Zeilen, die zitiert aussehen, mit Zeilen wechseln, die aus einem Wort bestehen, das ohne Zitatzeichen daherkommt. Konsequenz: Beim zweiten TOFU verschickt man einen unbekömmlichen Buchstabensalat, der im vordigitalen Zeitalter undenkbar, heute gängiger Alltag ist. Wen kümmert’s, wie’s aussieht.

Will man das nicht, muß man sich beim reply die Mühe machen, seine Antwort zu redigieren. Wo man sich nicht direkt auf den voraufgehenden Text bezieht, löscht man ihn (denn es ist zuversichtlich zu hoffen, daß der Vorgänger noch weiß, was er einst geschrieben hat). Wo aber der Wortlaut des anfänglichen Textes zitiert werden muß, stellt man genau diesen Teil des Textes seinen eigenen Ausführungen voran. Die resultierende e-mail besteht dann aus einer übersichtlichen Folge von fremdem und eigenem Text (und es gibt Programme, die sogar dazu in der Lage sind, beides farblich voneinander abzuheben). Das Problem mit dem Zeilenumbruch des zitierten Textes ist damit natürlich noch nicht umsegelt, und wer Produkte wie Outlook-Express oder Netscape-Messenger verwendet, wird hier viel Handarbeit zu verrichten haben, da man sowohl für den eigenen wie für den fremden Text den Zeilenumbruch am besten manuell durchführt.

Eigens für e-mail-Verkehr geschriebene, professionelle Programme wie Eudora oder TheBat! helfen hier bedeutend weiter, ist in ihre Programmierung doch, man glaubt es kaum, Bewußtsein von den formalen Klippen der digitalen Kommunikation eingegangen. Und mit ihnen wäre vielleicht auch wieder ein technischer Fortschritt in der wissenschaftlichen Kommunikation möglich. Jacob Grimm und Georg Friedrich Benecke mußten für ihre Zeit noch eine bestimmte Art wissenschaftlichen Briefwechsels, die »Adversarien«, ›erfinden‹. Auf die Briefbogen (962 sind überliefert!) wurden einspaltig Fragen geschrieben, die dann mit den Antworten auf der anderen Spalte zurückkamen. »Zu den mitgetheilten Fragen folgt hier meine beigeschriebene Antwort. Die Einrichtung ist vortrefflich und soll, hoffe ich, zwischen uns bald nicht aufhören. Doppeltes Schreiben wird erspart und eine bestimmte, verständliche Beziehung der Antworten auf die Frage nur so erst leicht gemacht. Freilich behält am Ende blos der Frager die Acten zum Aufheben bei sich, indeßen selbst das nöthigt zu fleißigem Eintragen des Wichtigen, ehe man sie von sich läßt.« (Jacob Grimm an Benecke, 14. Juni 1819) E-mail-clients gewähren diese Möglichkeit schon von jeher, vorausgesetzt man kann sie bedienen. Zitierenlernen: ein kleiner Schritt für einen selbst, ein großer für den Empfänger.

rr