Roland Reuß
Textkritische Editionen und Dateiformate.
Notizen

Die folgenden Gedanken sind in ihrer Perspektive in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt. Zum einen beziehen sie sich ausschließlich auf den Zusammenhang von digitalen Formaten und textkritischen Editionen der Art, wie Peter Staengle und ich sie in der Kleist- und Kafka-Ausgabe vorlegen, Editionen also, bei denen die Beigabe von Faksimiles kein Schmuck, sondern integraler Bestandteil der philologischen Darstellung ist. Zum anderen kann ich von dem genannten Zusammenhang nur jetzt und heute (d. h.: unter den Bedingungen von Internet Explorer 4/5 oder Netscape Communicator) handeln. Bereits die vom W3Consortium letztes Jahr verabschiedete Einführung von HTML 4 und die zunehmende Verbreitung von CCS (cascading style sheets), die sich bald in der Browsersoftware niederschlagen wird, verändert die Ausgangslage wieder ein wenig und manche Begründungsgänge wären dementsprechend im Detail zu modifizieren. Wenn ich hierauf dennoch nur am Rande zu sprechen komme, so deshalb, weil diese Veränderungen innerhalb der verwendeten Seitenbeschreibungssprachen die für die generell eingeschränkte Tauglichkeit des Bildschirms in Editionsfragen verantwortlichen Rahmenbedingungen nicht grundsätzlich transformieren werden. Aus verschiedenen Gründen, die – sieht man von einigen hysterischen Propheten des Hypertextzeitalters einmal ab – von den meisten, die sich mit der Entwicklung beschäftigen, geteilt werden, halte ich ohnedies nichts davon, digitale Publikationen als Ersatz für die herkömmlichen Druckprodukte zu begreifen.

Wenn neben HTML und pdf keine weiteren Formate – wie etwa HyperCard o. ä. – debattiert werden, hat das den alleinigen Grund, daß nur bei diesen beiden Dateiformaten (a) die Zielsoftware (Browser einerseits, Acrobat-Reader andererseits) jedermann frei verfügbar ist und (b) die Dateien plattformunabhängig gelesen werden können. Nur unter diesen beiden Bedingungen hat ein Format die Chance, als Standard verwendet werden zu können und den happy – nicht nur den happiestfew, die überhaupt einen Zugang zu elektronischen Medien haben, zur Verfügung zu stehen.

Meine Präferenzen für das von Adobe entwickelte portable document format zur Unterstützung textkritischer Ausgaben, die ich im folgenden begreiflich machen will, haben viele Gründe. Der wichtigste, auf den ich mich konzentrieren möchte: die, wenn man so sagen kann, topographische Präzision dieses Formats, die allein es erlaubt, standgenaue diplomatische Transkriptionen der überlieferten Manuskripte wiederzugeben. Einfügungen über der Zeile beispielsweise müssen von einer diplomatischen Umschrift standgenau dort wiedergegeben werden, wo sie sich in der Handschrift befinden – für HTML auch dann, wenn endlich die (juristisch immer problematische Schrifteinbettung) gelungen ist, ein Ding der Unmöglichkeit, in einer pdf-Datei dagegen eine Selbstverständlichkeit. Diese von mir in den Blickpunkt gerückte Frage der Positionierung scheint auf den ersten Blick nur ein am Rande liegendes technisches Problem zu betreffen; tatsächlich jedoch führt sie direkt an die Wurzel des problematischen Verhältnisses der digitalen Medien zur Schrift.

Im Augenblick liegen noch sämtliche Quellen, die wissenschaftlich oder literarisch für kritische Ausgaben relevant sind, in zweierlei Form vor: als Handschriften und als Drucke. Nicht nur für die physikalische Beschaffenheit von Handschriften gilt, was man leicht vergißt sich in seinen Konsequenzen klar zu machen: Die Schrift und der Schriftträger, das Blatt Papier, der Papyrus, sind sowohl in Handschrift wie im Buch eine innige materielle Verbindung eingegangen, die für den Editor von Handschriften übrigens gerade dort, wo diese Verbindung rückgängig gemacht werden sollte, an den Orten einer Rasur, besonders deutlich ins Bewußtsein tritt. Diese unauflösliche Verbindung hat die durchaus nicht triviale Implikation, daß alles, was auf diese Weise – in Manuskripten, auch in Drucken – überliefert ist, an seiner Stelle steht. Bis hierhin hat sich der alte Zusammenhang von Schreiben und Graben über alles Inschriftliche (und somit auch über Flusser) hinaus durchgehalten. In den digitalen Formen der Repräsentanz ist dieser Zusammenhang verabschiedet.

Nun ist im deutschen Sprachraum seit langem bekannt und spätestens seit der Edition der Hölderlin-Handschriften auch für jedermann einsehbar, daß es keinerlei tiefere Einsicht in den Zusammenhang einer Textüberlieferung ohne detaillierte Kenntnis der Topographie eines Manuskripts gibt. Ein Urteil, ob die Aufzeichnungen auf einer Seite einer Handschrift zu einem, zwei oder drei Texten gehören, einen, zwei oder drei Texte ausmachen, ist ohne Verständnis des individuellen Ortes, an dem etwas geschrieben steht, schlechterdings unmöglich. Zugleich gibt es keine hinreichend verständliche (will sagen: einfache) Beschreibungssprache, die alle räumlichen Bezüge der Beschriftung einer Seite expressis verbis deutlich werden lassen könnte – jedenfalls keine, die sich nicht selbst vor einer einfachen Fotokopie dieser Seite blamieren würde. Wenn man aus diesem Befund die Konsequenz ziehen will, bleibt einem – noch diesseits der Frage der Konservierung der Dokumente – nicht viel übrig, als eine Faksimilierung und, zum Verständnis und zur Deutung der graphischen und chronologischen Verhältnisse innerhalb der Handschrift, eine diplomatische Umschrift vorzulegen, denn nur auf diese Weise wird ein adäquates Verständnis der Überlieferung anschaulich möglich.

Ersichtlich sind Bildschirmdarstellungen in HTML nicht dazu geeignet, den geschilderten Konnex von Manuskripttopographie und editorischer Wiedergabe adäquat zu repräsentieren. Diese Ungeeignetheit hängt jedoch nicht, wie man vielleicht meinen könnte, damit zusammen, daß die Browser mit verschiedenen Schriften arbeiten, deren Schnitt, Laufweite und Kerning differieren; zwar ist im Augenblick auch das immer noch ein Problem beim Web-Design, aber es wäre jetzt schon zu umgehen, indem man für eine bestimmte Edition den Benutzern eine bestimmte, im Web frei erhältliche TrueType-Schrift zur Installation empfiehlt, auf die hin die Edition optimiert wurde. Die geplanten Regelung zur Font-Einbettung werden dieses behelfsweise Verfahren aber ohnedies überflüssig machen.[1] Die augenblicklich unaufhebbare Differenz der digitalen Schriften ist daher nicht das entscheidende Manko digitaler Publikationen. Ungeeignet sind die Bildschirmdarstellungen viel grundlegender deshalb, weil sie den physischen Zusammenhang von Schrift und Schriftträger a priori aufgelöst haben. Handschriften und Drucke bringen ihre eigene Positionierung der Schrift immer schon mit, die Bildschirmpixel hingegen sind der Schrift gegenüber schlechterdings äußerlich (was aus anderer Warte ein Vorteil ist[2]): Es gibt bei ihnen keine Imprägnierung von Schrift und Fläche.

Philosophiegeschichtlich wird man die Entwicklung digitaler Publikationen daher in Richtung auf eine Platonisierung der Darstellungsform beschreiben können. Die Ablösung der Schrift von der (ihrer?) materialen Grundlage ist den Screendarstellungen essentiell. Anders gewendet: Auf dem Screen ist Schrift, anders als in aller herkömmlichen Tradierung, nur noch Erscheinung. Es ist daher ein kulturgeschichtliches Paradox, daß die Herolde der digitalen Publikationsform gerade zu dem Zeitpunkt auftraten, als sich in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Überlieferungszusammenhängen immer klarer abzeichnete, daß, gut aristotelisch, die Materialität der schriftlichen Überlieferung von dieser selbst überhaupt nicht abgelöst werden kann (witzigerweise wurde gerade ein Wort wie ›eingeschrieben‹ zum Schibboleth der Prediger des medialen Wandels).

Weniger die Eigentümlichkeiten digitaler Schriften als vielmehr ihr Medium, der Bildschirm, erlauben es demnach nicht, präzise Positionierungen zu realisieren. Es gibt auf dem Screen keinen Ort für einen Schriftzug, allenfalls lassen sich Koordinaten seiner momentanen Erscheinung angeben, in die aber nichts mehr hineingeschrieben werden kann und deren origo – an jedem Satz- oder Grafikprogramm zu veranschaulichen – beliebig verschiebbar ist. Genau deshalb spielt die Auflösung des Bildschirms und die unterschiedliche Rasterung der Browser eine so verhängnisvolle Rolle für die inkonstante Wahrnehmung; und genau deshalb scheidet eine Seitenbeschreibungssprache wie HTML, zu deren Entwicklungsgrundlage es bekanntlich gehörte, von jedem System, auf jedem Bildschirm und bei jeder Auflösung noch lesbare Erscheinungen produzieren zu können, für eine sinnvolle Darstellung manuskriptinterner Vorgänge aus.

Die These, daß hierfür pdf eine vernünftige Alternative bietet, kann begreiflicherweise nicht so verstanden werden, als habe man mit dessen Verwendung die Probleme von Bildschirm und Schrift nicht mehr am Halse. Der entscheidende Punkt ist vielmehr, daß im Augenblick allein dieses Format ein (wie auch immer durch Kompromisse geprägtes) Erscheinungsäquivalent zu den imprägnierenden Aufzeichnungsweisen von Handschrift und Druck gibt. Und natürlich hat das Format diesen Vorzug, weil es von Anfang an als Derivat eines anderen Formats entwickelt wurde, das schon seit längerer Zeit die gesamte Druckvorstufe dominiert: Postscript. Abgekürzt gesprochen ist pdf nichts anderes als ein um alle Informationen für eine höhere Auflösung gekürztes und durch die Möglichkeit, Informationen zu verknüpfen, erweitertes Postscript, das auf jedem Bildschirm relational identische Positionierung aller Elemente erlaubt. Gegenüber der Darstellung in einem Buch, dem es derivativ in der Druckentstehung zugeordnet ist, hat es, neben der langen Liste von Nachteilen jeder digitalen Publikation, zwei Vorteile in der Informationspräsentation – wobei Informationspräsentation eben nur einen kleinen Bereich dessen ausmacht, was eine kritische Edition auszeichnen sollte: Es erlaubt über eine Indizierung (mit ACROBAT-CATALOG) die Erstellung eines vollständigen Wortindexes[3] und gestattet, wenn nicht zu sehr komprimierte Scans der Faksimiles in die Datei eingebunden sind, flexible Ausschnittsvergrößerungen problematischer Details der Handschrift.

Aus dem bisher Gesagten geht auch hervor, daß ich für den Zweck einer historisch-kritischen Edition nichts davon halte, dem gedruckten Buch (das mir für das Studium der Handschriften und Texte unverzichtbar scheint) eine digitale Version beizugeben, die – wie es das Screen-Design an sich forderte – den Gegebenheiten des Bildschirms stärker entgegenkommt, etwa vom Breit-, nicht vom Hochformat auszugehen.[4] Die Handschriften- und Drucküberlieferung mit ihrer Bevorzugung anderer Formate macht diesen Ausweg, will man Adäquanz in der Positionierung haben, so gut wie unbegehbar, ganz zu schweigen davon, daß damit das in die typographischen Einsichten der letzten 500 Jahre eingegangene Wissen vom Lesevorgang (Buchstabenanzahl pro Zeile etc.) den Bach runtergehen würde. Ein letztes kommt hinzu: Ausgaben wie unsere Kleist- und Kafka-Edition setzen als Maß der Darstellung das eigene Maß der überlieferten Blätter voraus. Ihre Grundeinheit ist daher die aufgeschlagene Doppelseite. Die Druckanordnung ist so gestaltet, daß die Transkriptionen auf der einen Seite so bequem wie möglich an den Faksimiles auf der anderen Seite überprüft werden können. Der Bildschirm ist für eine solche Konfrontation vollständig ungeeignet. Mit ihm ist es im Grunde noch nicht einmal möglich, eine Seite auf einmal mit einem dem menschlichen Auge entgegenkommenden Maß in den Blick zu nehmen, geschweige denn eine Doppelseite. Man wird daher in diesem Fall sogar sagen können, am Phänomen der Bildschirmdarstellung falle eher auf, daß etwas verdeckt, als daß etwas sichtbar gemacht wird. Die korrespondierende Fokussierung von Orten, wie sie das Auge leicht vor der ruhigen Fläche des aufgeschlagenen Buches leistet und wie sie bei einem Studium der Handschrift immer erforderlich bleibt, ist am Bildschirm nur mit allergrößten Mühe möglich. Ausschnitte, selbst wenn sie, wie im Fall der Verwendung von pdf gelinkt werden können, sind in der Regel zu klein – oder zu groß. Wir mußten uns daher bescheiden: Die CDs, die unseren letzten Büchern beiliegen (Kleist-Material, H. v. Kleist: Berliner Abendblätter, Franz Kafka: Der Process), dienen der Erleichterung des Zugangs zu Informationen in Fragen, die sich ergeben, wenn man die Buchedition der Handschriften und Drucke studiert. Sie setzen sich nicht an deren Stelle.