Text 14 Cover

 

TEXT 14 (2013)
Philosophie & Philologie

Zum Geleit

Der idealtypischen Unterscheidung von Philosophie und Philologie zufolge, der August Boeckh die bis heute gültige Form verliehen hat, erkennt die Philosophie »primitiv«, die Philologie hingegen sekundär, indem sie versucht, das einmal Erkannte und (sprachlich) Fixierte zu rekonstruieren, zu bewahren und zu verstehen. In verschiedenen Varianten haben dergleichen Vorstellungen einen dominierenden Einfluß auf die disziplinäre Abgrenzung von Philosophie und Textkritik gehabt. Es wird so getan, als komme die Philosophie, sofern sie Erkenntnis ist, im Prinzip ohne Texte aus. Wo sie sich mit Aussagen, Meinungen und Überzeugungen anderer Denker beschäftige, spielten Überlieferungs- oder Kontextfragen keine entscheidende Rolle. Philologie sei im besten Falle irrelevant, im schlechtesten verneble sie nur den Blick auf die wahren philosophischen Probleme. Jene Philosophie, die aus der Auseinandersetzung mit den philosophischen Texten der Tradition entsteht, verdiene diesen Namen in Wahrheit nicht, sondern sei bereits – Philologie. Indes läßt sich mit Recht fragen, ob es ohne Philologie und speziell ohne Editionsphilologie große Teile der historisch wirksamen Philosophie überhaupt gäbe. Bereits bei den sogenannten Vorsokratikern handelt es sich um ein philologisches Konstrukt. Die Edition Hegels, Wittgensteins, Kierkegaards oder Nietzsches, um nur einige herausragende Beispiele anzuführen, verändert nicht nur das Bild dieser Autoren, sondern womöglich die Philosophie insgesamt. Darin liegt für die Philologie freilich weniger eine Legitimation, auf die sie sich unbeschwert berufen kann, als vielmehr ein Anspruch, dem sie nicht immer gewachsen ist. Lassen sich philosophische Texte überhaupt ohne Rücksicht auf ihre philosophische Potenz ›erkennen‹ und konstituieren? Können nicht scheinbar rein technische Lösungen editorischer Eingriffe von unabsehbarer philosophischer Tragweite sein? Nach Jahrzehnten avancierter editorischer Praxis – auch auf dem Gebiet der philosophischen Edition – macht sich der Mangel einer grundsätzlichen Debatte, das Verhältnis von Philosophie und Edition betreffend, immer schmerzlicher bemerkbar. Es ist der Mangel einer Debatte sowohl des Nutzens und Nachteils der Philologie für die Philosophie als auch, in ebenso hohem Maße, der philosophischen Voraussetzungen der Philologie. Die hier dokumentierte Tagung, ein Gemeinschaftsprojekt der Universität Zürich und der Süddänischen Universität in Odense, die unter dem Titel »Philosophie – Philologie – Edition« im September 2012 in Zürich stattfand, setzte sich vor diesem Hintergrund das Ziel, die längst fällige Debatte anzustoßen. Die Beiträge stammen von Philosophen, Editionsphilologen, Germanisten und Komparatisten. Inhaltlich und systematisch an zentralen philosophischen Editionsprojekten der letzten Jahrzehnte, aber auch an der Geschichte der philosophischen Edition ausgerichtet, plädieren sie für eine »Philosophie der Philologie« (Friedrich Schlegel), die das Boeckhsche Paradigma hinter sich läßt und am Beispiel der Edition die gegenseitige Abhängigkeit von Philosophie und Philologie begreiflich macht. Die Genitivkonstruktion der „Philosophie der Philologie“ ist dabei von bewußter Mehrdeutigkeit. Sie hierarchisiert nicht, sondern prüft die Philologie als eigenständige Form der Philosophie. Die Edition tritt so aus ihrer dienenden Rolle und wird selbst zum Moment der philosophischen Reflexion. Diese wiederum ist der erste Schritt zur Praxis der Edition. Dabei gilt es heute insbesondere, den Schritt von historisch gewordenen Editionen und Editionstechniken zu einer an Dokumentation und Materialität ausgerichteten Editionsphilologie auch in philosophischer Hinsicht zu wagen. Die »Philosophie der Philologie« fragt nicht allein, ob aktuelle philosophische Editionsprojekte mit Hinblick auf ihren philosophischen Ertrag sinnvoll sind, sondern auch und vor allem, welchen Anforderungen eine Philosophie genügen muß, die dem Stand der Editionsphilologie entsprechen will.

 

Inhalt:

Christian Benne, Felix Christen und Wolfram Groddeck
Zum Geleit  1-2

Christian Benne
Aporetik der Materialität und Philosophie der Philologie – läßt sich mit Handschriften philosophieren?  3-21

Felix Christen
Heideggers Philologie  23-36

Christine Abbt
Verstanden werden wollen. Von Form und Freiheit und von Christine de Pizans »Le Livre de la Cité des Dames«  37-48

Thomas Forrer
»Andacht zum Unbedeutenden«. Walter Benjamins Philologie der Philosophie  49-65

Johann Kreuzer
Mikrologie: oder vom Zeitkern der Texte. Benjamins Philosophisch-Ästhetische Schriften  67-80

André Laks
Voraussetzungen, Zwänge und Probleme einer anthologischen Edition der ersten griechischen Philosophen  81-94

Klaus Müller-Wille
Kierkegaards Philologie der Philosophie  95-113

Joachim Schulte
Wittgenstein hat’s gesagt – aber wo?  115-126

Walter Jaeschke
Vom gesprochenen zum gedruckten Wort. Überlegungen zur Edition von Vorlesungen  127-136

Roland Reuß
Philologie als Aufmerksamkeit  137-145

 

ISBN 978-3-86600-181-7