Elena Agazzi

Der neugierige Blick des Publizisten Wassermenschen und andere Wunder in den »Berliner Abendblätter« von Kleist oder Prämissen für eine neue Beziehung zwischen Ich und Welt zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Um das Thema des »Wunderbaren« bei Kleist und insbesondere in den »Berliner Abendblättern« behandeln zu können, muß ein für literarische Analysen untypischer Weg eingeschlagen werden. Dieser Weg verläuft von der Geschichte der Medizin, d. h. ihrer Entwicklung am Ende des 18. Jahrhunderts, über die Kunstkritik und die Reiseliteratur bis hin zu allgemeinen Bemerkungen, die die Veränderungen in der Publizistik von einem rein »humanistischen« Modell hin zu einer interdisziplinären Publizistik im Deutschland der Jahrhundertwende thematisieren.

Von anderen Autoren wurde bereits mehrfach die Schwierigkeiten hervorgehoben, die sich einer umfassenden Behandlung des dritten journalistischen Unternehmens von Kleist (nach »Phöbus« und »Germania«)[1] stellen. Die Schwierigkeiten sind zum einen begründet in den Problemen, die sich für eine Identifizierung der Quellen ergeben. Kleist verwandte sowohl Informationen aus erster Hand als auch Texte aus anderen Zeitungen – in z. T. stark bearbeiteter Form – für die Herstellung seines Blattes. Zum anderen besteht die Schwierigkeit darin, Leitgedanken auszumachen, die es ermöglichen, thematische Abschnitte zu bestimmen, aus denen sich ein journalistisches Programm rekonstruieren ließe. Zur Überwindung dieser Hindernisse hat seinerzeit schon Sembdner mit seiner »Entstehungsgeschichte der Berliner Abendblätter« beigetragen, mit der er ein umfassendes Panorama vorlegte.[2] Besonders auf der Basis eines weit verbreiteten Bedürfnisses nach Aufsehen aufbauend, versuchte Kleist, im Einklang mit dem breiten und schnellen Konsum der Zeitschrift, also in das Bewußtsein des Lesers einzudringen, indem er eine schnelle Verbreitung der Informationen anstrebte und mit vielen sonderbaren Fällen die Wißbegierde des Publikums erregte. Besondere Anziehungskraft hatten paranormale Fälle. Diese können in verschiedene Kategorien eingeteilt werden:

a)die Fälle, in denen das Wunderbare mit dem Abnormen verschmilzt und die Form eines ungewöhnlichen Ereignisses erhält, indem es in Form einer unnatürlichen Morphologie des Individuums oder seines ungewöhnlichen Verhaltens auftritt;

b)die Fälle, die man als – einer Definition Schuberts folgend – Nachtseite des Lebens definieren könnte, d. h. Fälle von Schlafwandeln oder Hypnose;

c)die Fälle, die laut ihrem Charakter nach in Gruppe (b) gehören, sich aber am Ende der Darstellung des erzählten Ereignisses als »Täuschung« erweisen;

d)die Fälle von Ereignissen, die mit dem Thema »Tod« verbunden sind, sei er gewalttätig (Morde, Selbstmorde) oder freiwillig (um dem Leid und der Schikane zu entfliehen) und Fälle, die Naturkatastrophen betreffen.

Als Vorbemerkung zum ersten Punkt möchte ich einen Satz zitieren, mit dem Paola Giacomoni vor einigen Jahren den Sinn des »Monströsen« in der romantischen Kultur zusammengefaßt hat und mit dem sie sich auf eine Äußerung Goethes in seinen »Morphologischen Heften« bezog. Dies wird uns einer direkten Rekonstruktion von Kleists Reise im Reich des Unheimlichen näherbringen. Sie schreibt: »Das Abnorme ist ein Produkt der Veränderung, der unaufhörlichen Bewegung und Formbarkeit des Lebens, kein unerklärlicher und mysteriöser Zufall. Es entsteht, wenn ein einzelnes Merkmal eines Lebewesens eine dominante und verzerrte Stellung einnimmt und somit die Originalform nicht mehr zu erkennen ist. Trotz allem in die Kontinuität der Veränderung eingegliedert, erhält das Abnorme wieder eine Bedeutung und erlaubt so die Erklärung. Es nimmt wieder einen Platz ein und ermöglicht den Blick auf die Natur in ihrer Gesamtheit, die sich in ständiger Veränderung befindet und manchmal ihre Richtung zu verlieren scheint. Der Faden und die Regelhaftigkeit ihrer Veränderung scheinen sich zu verwirren, aber das Normale und das Abnorme können nur als relative Sichtweisen gelten. Der Austausch zwischen Bedeutung und Rolle vollzieht sich beständig und im absoluten Fluß und der Anpassungsfähigkeit der Natur.«[3]

Als Martin Weinrich 1595 in seinem Werk »De ortu monstrorum commentarius, in quo essentia, differentiae, causae et affectiones mirabilium animalium explicantur« neue Vorschläge zur Definition des Wortes »monstrum« vorlegte und ihm auch die Wörter »portentum«, »ostentum« und »prodigium« zuordnete, bezeichneten diese Begriffe nicht unbedingt unnatürliche Phänomene oder besondere Ereignisse. Das Konzept des »Monströsen« sollte seiner Meinung nach Anwendung finden, wenn ein Lebewesen eine von der seiner Eltern abweichende Gestalt aufwies und sich somit von seiner Gattung entfernte oder auch, wenn sich ein Lebewesen durch eine beträchtliche Deformation des Körpers, sei es in seiner inneren Struktur oder in einzelnen Körperteilen, auszeichnete. Diese Tatsache trug dazu bei, daß das oben beschriebene Konzept sich erheblich von dem des »Wunderbaren« entfernte. Diese Trennung hielt sich vor allem aufgrund des Einflusses der Doktrin von Paracelcus und aufgrund der Nutzung des phantastischen Erbes aus dem Mittelalter seitens vieler Autoren deutschsprachiger Länder bis zur Romantik.

Auf jeden Fall mußte die Teratologie des 18. Jahrhunderts sowohl das eine als auch das andere Konzept begründen, da sie dazu überging, die Fälle statistisch zu erheben, in denen Deformation vorlag. Während einige Arten von Monstern allerdings nach und nach in den wissenschaftlichen Arbeitszimmern gesammelt und analysiert wurden, gab es von anderen nicht einmal ein einziges Exemplar, weil sie im Grunde genommen nicht existierten. Wenn man also von »Wassermännern und Sirenen«[4] hörte, bezogen sich diese Angaben immer auf Sichtungen im Meer oder wiedergegebene Erzählungen Dritter.

Als der Mensch im 15.–16. Jahrhundert anfing, die Ozeane zu beschiffen, verlief ein großer Teil dieser Reisen des Nachts. Daher war es mit Sicherheit nicht leicht, auf die Entfernung zu bestimmen, welcher Natur die Wasserfahrzeuge waren, auf die man traf. Herbert Wendt behauptet in seinem faszinierenden Werk »Auf Noahs Spuren«[5], die genaue Zeit festlegen zu können, zu der die Meeresungeheuer erstmals Gegenstand des Interesses wurden und bestimmte Formen erhielten: Als Quelle zitiert er z. B. die »Historia animalium« von dem Schweizer Konrad Gesner, die im 16. Jahrhundert erschien und 1669 unter dem Titel »Geschichte der Tiere« ins Deutsche übersetzt wurde.[6] Im deutschsprachigen Raum finden sich des weiteren die »Cosmographia universalis« (1544) von Sebastian Münster und das Werk von Athanasius Kirchner »Mundus Subterraneus« (1665). Seit dem 16. Jahrhundert wurden jedoch dank der wissenschaftlichen Seriosität Gesners starke Zweifel an der Existenz wahrhafter Meeresungeheuer laut. Trotz allem versiegten die Diskussionen um eigenartige Flossentiere, die zwischen den Gletschern der Nordsee gesichtet wurden, nicht. Um sich der Epoche Kleists zu nähern, sei nur an den 4. Juni 1741 erinnert, an dem die Schiffe »St. Peter«, unter dem Kommando von Kapitän Vitus Bering, und »St. Paul«, unter dem Kommando von Alexej Tschirikov, die Westküste Kamtschatkas hinter sich ließen, um sich auf den Weg nach Amerika zu begeben. Sie wurden von den Naturforschern Wilhelm Steller auf der »St. Peter« und Louis De l’Isle de la Croyère auf der »St. Paul« begleitet. Nach einigen Monaten Fahrt (die beiden Schiffe wurden in einem Unwetter voneinander getrennt) legte die »St. Peter« auf einer unbewohnten Insel an, nachdem fast die gesamte Mannschaft dem Skorbut zum Opfer gefallen war, Bering eingeschlossen. Bevor Bering der Krankheit erlag, entdeckte er jenes Tier, das er »Seekuh« nannte und dem er die Schrift »De bestiis marinis« widmete. Leider war diese Art schon 1768 fast völlig ausgestorben, da die Jagd nicht kontrolliert war.

All dies scheint nicht direkt mit Kleists »Wassermann«, wie er in dem »Abendblätter«–Text vom 5. und 6. Februar 1811 auftritt, zusammenzuhängen. Denn dieser weist deutlich »menschlichere« Attribute auf. Es wird jedoch deutlich, daß eine gefestigte Beziehung zwischen den Meeressäugetieren und den der Vorstellung nach im Meer wohnenden Menschen besteht. Dies wird in dem Text »Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft« von Gotthilf Heinrich Schubert ersichtlich, der 1808 in Dresden veröffentlicht wurde und dem ein Einfluß Kleists vor allem auf die dreizehnte Lektion mit dem Titel »Von dem tierischen Magnetismus und einigen ihm verwandten Erscheinungen« zugesprochen wird.[7] Zwei Kapitel davor beschäftigt sich Schubert, ausgehend von der Beobachtung, daß jede Lebensform im Wasser entsteht, mit dem Ursprung der Welt und dem Auftreten der pflanzenfressenden und nachfolgend dem der fleischfressenden Säugetiere. Mit scheinbarer Nachlässigkeit, die auch an anderen Stellen des Textes deutlich wird, stellt er neben Erwägungen, die ohnehin wissenschaftlich beweisbar sind, besondere Fälle, von denen er verlangt, daß sie als gewöhnlich angenommen werden, obwohl er keine spezifische Quelle der Nachricht erwähnt.

»Auch selbst im Tierreich muß das Wasser in gewissen Fällen noch ernährend wirken, wie im Pflanzenreich, ja selbst für die Natur des Menschen scheint ihm dieses Vermögen nicht ganz abzusprechen, und wir finden in den Büchern der Ärzte mehrere Beyspiele verzeichnet, in denen ohne einigen Genuß von Nahrungsmitteln, durch bloßes Wassertrinken das Leben lange Zeit gefristet wurde. Vier und zwanzig Tage erhielt jener Schwermutige, welcher aus Dürftigkeit und Lebensüberdruß den Hungertod gewählt hatte, bloß bey dem Genuß des Wassers kräftig, und als nach dieser Zeit die hinzukommenden Freunde ihn von neuem Speise zu nehmen nöthigten, geschahe der Uebergang zu der gewöhnlichen Weise des Lebens leicht, und in wenigen Tagen. Jener Wahnsinnige zu Haarlem, der sich in seinem Wahn, an einen einsamen Ort begeben, lebte hier noch längere Zeit bloß vom Wassertrinken, wozu er noch Tabak geraucht. Mehrere ähnliche Fälle kann man in Smiths Werk über die Tugenden des gemeinen Wassers lesen. Zur See sind Etliche, selbst nicht einmal durchs Wassertrinken, sondern blos durch das Anfeuchten der Kleider mit Seewasser, das von der Haut eingesogen wird, mehrere Tage bey Kräften gehalten …«[8]

Diejenige Art von Wunder, über die hier gesprochen wird, gründet sich auf die Diskussion der Lebenskraft des menschlichen Individuums, seiner Energie und Anpassungsfähigkeit. Aretz, der Kleists journalistische Projekte sehr sorgfältig untersucht hat, stellt fest, daß, obwohl sich die Texte der »Abendblätter« in informative und unterhaltende klassifizieren lassen, die Grenze zwischen Wirklichkeits– und Möglichkeitswelt oft nicht mehr eindeutig identifizierbar ist.[9] Kleist kann so die Ausnahme von der Regel mit einbeziehen, indem er mit Ironie das Abnorme in der Natur spielerisch behandelt und implizit ausschließt, daß die erzählte Episode eine Phantasiegeburt ist, so wie es im Artikel über die »Wassertrinkerin« geschieht.[10] Diese Episode stammt eindeutig aus dritter Hand. Sie war schon im »Journal de Paris«, im »Museum des Wundervollen« und im »Korrespondenten von und für Deutschland« erschienen, bevor sie von Kleist bearbeitet und abgedruckt wurde. Ohne Zweifel handelt es sich bereits um einen ungezwungenen Gebrauch des Unheimlichen, diesem beunruhigenden Effekt, der die menschliche Fähigkeit zur rationalen Erfassung jedes Phänomens der Welt relativiert, aber zugleich auch eine Provokation darstellt. Das Individuum soll sich von seiner Abhängigkeit von in Tradition und Erfahrung verankerten Überzeugungen lösen und dazu übergehen, die Zeichen der Natur als bisher ignorierte Botschaften zu lesen. In einer typisch romantischen Perspektive versucht Kleist, seine Leser davon zu überzeugen, daß das, was oberflächlich als »Erkenntnis« erscheint, nichts weiter als ein Vorurteil über die letzte Grenze der Möglichkeiten im Wissen, die in Wahrheit eine unendliche Kategorie bilden, ist. Demzufolge unterscheidet er klar zwischen Erkenntnis und Wissen.

Kleist hat die konventionellen Parameter des 18. Jahrhunderts, nämlich das der Messung mittels Ort– und Zeitkategorien sowie das der subjektiven Perspektive, nicht nur in der Wissenschaft sondern auch in der künstlerischen Bewertung aus den Angeln gehoben. Mit dem Umsturz subjektiver Gewißheiten experimentiert er auch in seinem Beitrag zum Kommentar des Bildes »Mönch am Meer« von Caspar David Friedrich, der im 12. Blatt am 13. Oktober 1810 unter dem Titel »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft« erschien. Kleist setzt sich in anmaßender Weise über das Urteil Brentanos, der das Bild zunächst kommentiert hatte, hinweg und wendet eine Metapher der Augenwahrnehmung der auf dem Bild dargestellten Landschaft an. Diese Metapher löste Unbehagen und Verwunderung zugleich aus und ist auch für die gegenwärtige Ästhetik eine stete Quelle neuer sorgfältiger Überlegungen. In Kleists Text heißt es: »[U]nd da [das Bild], in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts, als den Rahm, zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob Einem die Augenlieder weggeschnitten wären«.[11]

Zwischen dem gemalten Gegenstand, nämlich der Meerlandschaft und dem äußeren Betrachter hat sich jede kritische Distanz aufgelöst. Der Beobachter fließt nicht nur mit dem inneren Subjekt des Bildes sondern auch mit dem Ausführenden zusammen. Es sei hinreichend, was Jörg Traeger in diesem Zusammenhang gesagt hat: »Die Metapher von den weggeschnittenen Augenlidern mutet monströs an. Für ihre Erklärung mag man [...] weiter Zeugnisse der dichterischen Persönlichkeit Kleists heranziehen. Der konkrete Sinn ergibt sich jedoch nur aus dem ungewöhnlichen Kunstwerk, durch welches das ungewöhnlich poetische Bild ausgelöst wurde, genauer gesagt, aus dem Verhältnis des Kunstwerks zum Betrachter, das Kleist hauptsächlich meint.«[12]

Das völlige Fehlen eines Vordergrundes im Bild, eines sicheren Standpunktes, von dem aus der Blick auf den Horizont gehen könnte, vermittelt dem Betrachter den Eindruck, völlig im Bild zu versinken. Es wird eine Empfindung starker Verwunderung hervorgerufen. Das Auge des Betrachters scheint sich im Unendlichen zu verlieren. Das Unendliche, die gewaltige Größe und das Abnorme werden zur Chiffre dieser Reise in die Tiefe und Entfernung, die ohne fixe Parameter sind und trotz allem aufgrund ihrer Unermeßlichkeit der Theorien von Burke und Kant über das Erhabene bekannt sind. Wie für die wissenschaftliche, so wurde auch für die künstlerische Erfahrung der subjektive Standpunkt des Interpretierenden durch den objektiven des interpretierten Elements ersetzt. Das interpretierte Element versucht sich selbst aus sich heraus zu erklären, bis am Ende die Form (der Rahmen für das Bild, der Erfahrungshintergrund für den wissenschaftlichen Bericht) und der Inhalt (die Meerlandschaft auf der einen, natürliche und paranormale Phänomene auf der anderen Seite) nur noch zusammenfließen können. Das Wunderbare und die Normalität sind also nichts anderes als die austauschbaren Funktionen der menschlichen Erfahrung. Kleist hat durch die Auslöschung der selektiven Funktion in Bezug auf wirkliche und phantastische Informationen ein Methodenparadigma sinistrer Wirkungen in der Zeitschrift geschaffen. Hinsichtlich der »Wassermänner« und der »Sirenen« sollen an dieser Stelle einige Besonderheiten an Kleists Stil behandelt werden.

Dank der umsichtigen Arbeit Sembdners wissen wir, daß der erste der beiden Texte, die dem Sujet des Wunderbaren gewidmet sind, der »Wiener Zeitung« vom 30. Juli 1803 entnommen wurde und sich auf den Eintrag »Fischnikkel« im »Physikalischen Wörterbuch« von Gehler bezieht.[13] Auch im »Museum des Wundervollen« finden sich Vorlagen für Kleists Text: die Artikel »Der Wassermann«, 1803 erschienen, und »Über Meermenschen«, erschienen 1810.[14] Interessant ist, daß der zweite Text des »Museums«, wie Sembdner herausstellt, mit der Vermutung beginnt, daß die Meermenschen, von denen berichtet wird, Produkte der Phantasie seien, während Kleist sich in seiner Zusammenfassung bemüht, einen objektiven Ton anzuschlagen, so als ob er von einem tatsächlichen Ereignis berichtete. Kleist scheint zu glauben und glauben machen zu wollen, daß der »Wassermann« ein wahrhaftes menschliches Individuum sei, welches im flüssigen Element beheimatet ist, und nicht ein tierisches, wie es im Artikel »Über Meermenschen« zu lesen ist, dessen skeptische Bemerkungen Kleist bei seiner Bearbeitung ausläßt. Eine Bestätigung für dieses Verhaltens finden wir auch in der Auslassung eines Abschnitts im ersten Artikel (nämlich des folgenden Satzes: »Diese Fähigkeit und Neigung im Wasser zu leben, scheint nicht ganz ohne Beispiel zu seyn. Ohne Zweifel nannte man sonst solche Menschen *Meermenschen*, weil man sie am öftersten im Meere und in der Nähe seiner Ufer antraf«[15]). Das wird durch einen anderen Satz wieder kompensiert, der darauf gerichtet ist, die Vernunft von jedem Skeptizismus zu befreien, der besagt, daß es sich um eine existierende Variante handele, d. h. um ein »mißgebildetes« Subjekt. So kann er sorglos mit dem Gedanken anschließen: »Dieser Vorfall wirft Licht über manche, bisher für fabelhaft gehaltene, See–Erscheinungen, die man *Sirenen* nannte«.[16]

Wenn auch der Anspruch Kleists wissenschaftlicher Natur zu sein scheint, so deutet doch nichts darauf hin, daß er Fachliteratur zum Thema gelesen und im technischen Sinn über diese Phänomene nachgedacht hat. Die Bedeutung der Beziehung zwischen »Wahrhaftigkeit«, »Wahrscheinlichkeit« und »Wahrheit« haben fast alle Kritiker der »Berliner Abendblätter« diskutiert. Das hat bisweilen zu abenteuerlichen Hypothesen geführt, wie z. B. bei Hermann Schneider in seinen »Studien zu Heinrich von Kleist« (1915)[17] Schneider vermutet, daß Kleist eine Strategie zu kopieren versucht, die Cervantes im »Don Quixote« anwendet, wenn er versucht, sich mit dem Publikum über die Glaubwürdigkeit erzählter Ereignisse zu unterhalten und anführt, daß das, was er wiedergebe, von anderen vorgetragen worden sei und er somit jede Verantwortung über die Faktizität der Inhalte ablehne.[18]

Ein anderes Schlüsselthema der romantischen Epoche ergibt sich aus dem Interesse für die Länder jenseits der Meere, für die entfernten Kontinente und die exotischen Besonderheiten, die natürlich mit einem Hauch des Mysteriösen überzogen waren dank der noch enormen Entfernung zwischen der europäischen Welt und jenen Ländern, die die Deutschen im 18. Jahrhundert massiv zu erforschen begannen. Der eindeutigste trait d’union wird durch Alexander von Humboldt dargestellt, den Kleist mit Sicherheit aus Anlaß wissenschaftlicher Experimente auf dem Gebiet des Galvanismus sowie des Magnetismus, auf die wir später noch zurückkommen werden, in den Berliner Salons traf.

Unter Bezugnahme auf Jacob Baxas[19] Ausführungen über den Zusammenhang von Kontinentalsperre und »Zuckernachrichten« in den »Abendblättern« deutet Aretz Texte wie die Artikel über die Insel Helgoland[20] und Achim von Arnims Aufsatz »Austern und Butterbrodte, die an den Bäumen wachsen« (64. Blatt vom 13. Dezember 1810) als Polemiken gegen die Einfuhrbeschränkungen. In seinem Essay, der sich durch eine ironisch–phantastische Tonart auszeichnet, sagt Arnim, daß er von diesem eigenartigen Phänomen (das Wachstum von Bäumen, auf denen als Früchte Austern und andere seltsame Nahrungsmittel wachsen, um die Menschen zu entzücken) durch die Darstellung der Erfahrungen in einer Brandenburgischen Kolonie an der afrikanischen Küste in dem Buch »Orientalische Reise–Beschreibung des Brandenburgischen Adelichen Pilgers Otto Friedrich von der Gröben« aus dem Jahre 1694 erfahren habe. Arnim verbirgt in keinster Weise, daß er bei der Darstellung dieses Wunders von den »Ansichten der Natur« von Alexander von Humboldt beeinflußt wurde,[21] die 1808 erschienen waren. Humboldt lieferte mit diesem Werk eine ganz besondere Sichtweise der Natur der von ihm besuchten exotischen Länder. Er gelangte gar zu einer beunruhigenden Formulierung des Begriffs »Physiognomie der Pflanzen«, der den lebendigen Charakter im Pflanzenreich, das bis dato nur taxonomisch erforscht worden war, unterstreichen sollte.

Angesichts einer Lektüretradition der »Abendblätter« von Kleist, die mit Sembdner nach rein philologischen Kriterien ihren Ursprung fand, mag es gewagt erscheinen, von einem starken methodologischen Einfluß seitens Humboldts in abstrakter Weise zu sprechen, der die getreue naturalistische Beschreibung mit dem ästhetischen Geschmack eines romantischen Schriftstellers in seiner Schreibweise zu vereinen sucht und der das Gewicht der neuen Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts auf das journalistische Corpus spüren läßt. Trotz allem kann die Vermischung eines Chronikberichtes mit dem Geschmack für das »Wundervolle« nur in der Nähe des Stils eines deutschen Entdeckers angesiedelt werden. Es sei an dieser Stelle auf die Einleitung zur ersten Ausgabe von Humboldts »Ansichten der Natur« von 1808 verwiesen, in der es heißt:

»Überblick der Natur im großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen, die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt, sind die Zwecke, nach denen ich strebe. Jeder Aufsatz sollte ein in sich geschlossenes Ganzes ausmachen, in allen sollte eine und dieselbe Tendenz sich gleichmäßig aussprechen. Diese ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände hat, trotz der herrlichen Kraft und der Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache große Schwierigkeiten der Komposition. Reichtum der Natur veranlaßt Anhäufung einzelner Bilder, und Anhäufung stört die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes. Das Gefühl und die Phantasie ansprechend, artet der Stil leicht in eine dichterische Prosa aus. Diese Ideen bedürfen hier keiner Entwicklung, da die nachstehenden Blätter mannigfaltige Beispiele solcher Verwirrungen, solchen Mangels an Haltung darbieten.«[22]

Auch die »Berliner Abendblätter« weisen diesen Charakter einer Ganzheit aus Fragmenten auf, die sich auf ein Ganzes zubewegen, das einen dominanten und nicht zu diskutierenden Ton erhält. Aber während in den Berliner Abendblättern die sogenannten Miscellen zu finden sind, die die Funktion haben, allzu bewegende Argumente des Blattes – dank ihrer Form der Kurznachrichten – auf psychologischem Niveau zu entdramatisieren, führen die Informationen in den »Ansichten der Natur« oftmals zu einer Anhäufung, die einige Erläuterungen als Anhang verlangt. Adolf Meyer–Abich, der eine neue Ausgabe der »Ansichten der Natur« kommentiert hat,[23] bemerkt hinsichtlich der Erläuterungen: »Die Erläuterungen und Zusätze hingegen, die im Original im wesentlich kleinerem Druck etwa 2/3 des Werkes umfassen, berichten über eine Riesenfülle von Tatsachen, die nach dem Wissenschaftsstand jener Zeit die Naturgemälde nur ›erläutern‹, aber keineswegs ›begründen‹.«[24]

So wie Humboldt keinerlei Zurückhaltung zeigt, den Mythos durch die Nachricht von den auf anderen Kontinenten besuchten Territorien und Völkern zu begleiten, so gibt Kleist nach, indem er Notizen der Chronik mit Kommentaren aus zweiter Hand versieht. Auch einige Begriffe, die von Humboldt verwendet werden, um das Verhalten tropischer Tiere und Pflanzen zu beschreiben, tragen das Zeichen einer Kultur, die sich zwischen den Polen des Unheimlichen im Sinne von »befremdlich« und des Wunderbaren bewegt. So gestaltet sich eine dialektische Beziehung entlang der Achse, auf der sich die menschliche Wißbegierde bewegt, noch unsicher, ob einzelne Erscheinungen als »übernatürlich« bestimmt oder in neuen wissenschaftlichen Entdeckungen eingereiht werden sollen. Es sei an dieser Stelle an die Theorien des 18. Jahrhunderts von Lazzaro Spallanzani erinnert, der den Begriff der »Pflanzentiere« schuf, den er auf Korallen und Seeanemonen anwendete, zu einer Zeit, als die Naturforscher noch rätselten, ob sie sie zu den tierischen oder pflanzlichen Organismen zählen sollten.

Weiterhin von Alexander von Humboldt ausgehend, können wir nun zu Punkt zwei unseres Panoramas über den Diskurs des Paranormalen bei Kleist kommen. Ich halte es für keinen Zufall, daß Humboldt im bedeutendsten Artikel der »Ansichten zur Natur«, d. h. in den »Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse«, das Konzept des Scheintodes behandelt und mit dem der Erregbarkeit verbunden hat: »Rädertiere, Brachionen und eine Schar mikroscopischer Geschöpfe heben die Winde aus den trocknenden Gewässern empor. Unbeweglich und in Scheintod versenkt, schweben sie in den Lüften: bis der Tau sie zur nährenden Erde zurückführt, die Hülle löst, die ihren durchsichtigen wirbelnden Körper einschließt, und (wahrscheinlich durch den Lebensstoff, welchen alles Wasser enthält) den Organen neue Erregbarkeit einhaucht.«[25]

Der Begriff des Scheintodes war in der Romantik weit verbreitet, hat seinen Ursprung aber in einer früheren Epoche. In der medizinischen Tradition sind als Ausgangspunkt die Studien von Johann Peter Frank anzusehen, der 1786 in Mailand das Buch »Sistema compiuto di polizia medica« veröffentlichte, in dem er besonders auf Fälle von Scheintod hinwies und verfrühte Begräbnisse und die furchtbaren Entdeckungen beschrieb, die man bei der Exhumierung der Körper machte. Der Scheintod war also ein dominantes Thema in den Skandalgeschichten der Jahrhundertwende, wenn auch dieser Terminus in den »Abendblättern« nicht auftritt. Besonders ausführlich behandelt Kleist dagegen die grotesken Merkmale von Begräbnissen (die an und für sich schon das Echo der »Nachtwachen des Bonaventura« aus dem Jahre 1804 darstellen). Der Tote führt seine Existenz mit all seinen schlechten Angewohnheiten und Tugenden weiter, die ihm in einer Art zweiter Existenz beigegeben wurden. Er kann in gleicher Weise von der göttlichen Gerichtsbarkeit belohnt oder bestraft werden, wie es u. a., die Anekdote »Der Griffel Gottes«[26] beweist.

Die Verbindung der Problematik des Scheintodes mit der der Erregbarkeit gehört dagegen zum Vermächtnis der Temperamentallehre Stahls, dessen Anhänger Humboldt zunächst war. Später näherte er sich dagegen immer mehr dem Holismus von Schelling an, der der neuen mechanischen Strömung widerstand, indem er einen Begriff von Natur als einem lebendigen Ganzen verteidigte, das die physischen, organischen und spirituellen Realitäten in sich vereinigt. Es scheint einiges dafür zu sprechen, daß Schubert die Berichte, die Humboldt über seine Beobachtungen in den tropischen Gebieten Südamerikas verfaßte, aufmerksam gelesen hat.[27] Anders könnte man die Verbindung von Scheintod – Insekten – Wetterveränderung – Vorempfindung nicht erklären, die in Schuberts »Ansichten« so stark in den Vordergrund rückt. »Veränderungen des Wetters, die noch künftig sind und von denen wir selbst durch die besten Werkzeuge in der ganzen übrigen Natur noch keine Anzeichen bemerken, werden durch gewisse Pflanzen, unter welche der merkwürdige westindische Wetterstrauch (Poriera hygrometrica) gehört, nicht minder als durch verschiedene ganze Thierarten, mehrere Tage vorher, ehe sie eintreten, vorausgekündigt. Diese Thierarten gehören meist zu der Classe der Insekten.«[28]

Schubert sagt also, verkürzt dargestellt, daß vor allem einfachere Wesen wie Insekten, die Zwitter sind, alle Lebensprozesse dermaßen synthetisieren, daß sie in der Lage sind, Wetterveränderungen und andere Veränderungen eher vorherzusehen als kompliziertere Lebewesen wie der Mensch. Auch im Fall einzelner komplizierter Individuen mit gewissen Pathologien im Nervensystem zeigt es sich, daß sie sensibler auf das Klima reagieren, daß sie eher magnetischen Erscheinungen unterliegen und daß sie einen physischen Zusammenbruch eher überwinden. Schubert kehrt mehrmals zur Ähnlichkeit von reizbaren Individuen mit elementaren Strukturen zurück und vergleicht die Trance der Schlafwandler oder hypnotisierter Individuen, auf die ein Wiedererwachen voller Energie folgt, mit dem Zustand des Scheintodes, den Humboldt mit der sich erneuernden Kraft der Insekten beim Erwachen aus dem Sommer– bzw. Winterschlaf beschreibt. Vergleichen wir einen Ausschnitt aus den »Ansichten der Natur« mit einer Stelle aus den »Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft«:

»Ist aber auch die Fülle des Lebens überall verbreitet, ist der Organismus auch unablässig bemüht, die durch den Tod entfesselten Elemente zu neuen Gestalten zu verbinden, so ist diese Lebensfülle und ihre Erneuerung doch nach Verschiedenheit der Himmelsbereiche verschieden. Periodisch erstarrt die Natur in der kalten Zone; denn Flüssigkeit ist Bedingnis zum Leben. Tiere und Pflanzen liegen hier viele Monate hindurch im Winterschlaf vergraben. In einem großen Teile der Erde haben daher nur solche organischen Wesen sich entwickeln können, welche einer beträchtlichen Entziehung von Wärmestoff widerstehen und ohne Blattorgane einer langen Unterbrechung der Lebensfunktionen fähig sind.«[29]

»Überhaupt ist es diese Verwandtschaft des thierischen Magnetismus mit dem Tode, welche die vorzüglichste Aufmerksamkeit verdient. Die Natur hebt solche sonst unheilbaren Krankheiten, die nur dem Magnetismus weichen, durch den Tod, und giebt so durch eine vollkommene Umwandlung der kranken menschlichen Natur die verlohrne innere Harmonie zurück. Der Magnetismus, welcher nicht selten ein Erstarren der Glieder wie im Tode, und andre hiermit verwandten Symptome zur ersten Wirkung hat, ist auch hierin das im kleinen, was der Tod im Großen und auf eine vollkommenere Weise ist.«[30]

Auf der Grundlage dieses Vergleichs können wir einige Betrachtungen anstellen:

1)Von Humboldt zu Schubert (und diese Reihenfolge erscheint angebracht) verändert Kleist seine Auffassung vom zeitweiligen Tod eines Lebewesens, das dergestalt nicht nur vorübergehend ihm unpassenden äußeren Bedingungen entkommt, sondern zugleich auch eine Erneuerung erfährt für sein Erwachen;

2)diese Bedingung, die man als »Zustand der Gnade« definieren könnte, da er nicht der Kontrolle des Individuums unterliegt, versöhnt es erneut mit der elementaren Natur, aus der es stammt, und erhöht die Empfindsamkeit;

3)der Zustand der Trance, dem sowohl der Mensch als auch das Tier unterliegen kann, ist der natürlichste Zustand, da der Körper, indem er schwer wird, dem Gesetz der Schwerkraft gehorcht.

Durch das bereits Angeführte fällt es nicht schwer, einen Übergang zum Essay »Über das Marionettentheater« zu finden. Da die Marionette kein Bewußtsein hat, ist es ihr nicht möglich, Bewegungen auszuführen, die gegen die Natur sind, denn: »alle übrigen Glider [sind], was sie sein sollen, todt, reine Pendel, und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere; eine vortreffliche Eigenschaft, die man vergebens bei dem größesten Theil unsrer Tänzer sucht«.[31] So wie die Marionette dem Willen des Fadens folgt, so gehorcht derjenige, der Subjekt magnetischer Kräfte ist, voller Vertrauen seinem Magnetiseur. Dieses Phänomen behandelt Schubert mit großer Ausführlichkeit.[32]

Wenn Kleist die darstellende Technik der »Erfahrungserzähler« wie Humboldt oder Schubert bedingungslos akzeptiert hätte, wäre ihm sicher nicht einmal bei den herausragenden »Fällen« eine spannende Darstellung gelungen. Die Strategie der Anekdote ermöglichte es ihm dagegen, auf kluge Weise Fakten und Phantasie zu kombinieren. Meines Erachtens versucht er seine Strategie vor allem in der Anekdote »Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten« zusammenzufassen. In dieser Anekdote erzählt ein alter Offizier drei einzelne Begebenheiten, die das versammelte Publikum glauben kann oder nicht. Es scheint mir besonders interessant zu untersuchen, was der Schriftsteller am Ende des Berichtes durch den Mund eines der Anwesenden sagt: »Lassen Sie ihn, sprach ein Mitglied der Gesellschaft; die Geschichte steht in dem Anhang zu Schillers Geschichte vom Abfall der vereinigten Niederlande; und der Verf. bemerkt ausdrücklich, daß ein Dichter von diesem Factum keinen Gebrauch machen könne, der Geschichtschreiber aber, wegen der Unverwerflichkeit der Quellen und der Übereinstimmung der Zeugnisse, genöthigt sei, dasselbe aufzunehmen.«[33] Das Paradox entsteht hier dadurch, daß gerade der Dichter Kleist Gebrauch von Fakten aus der »Belagerung von Antwerpen«[34] von Schiller und dem Beitrag von Karl Curths zur »Geschichte der Niederlande«[35] macht, um zu beweisen, daß es ihm freigestellt ist, ein reales Ereignis als phantastisch zu thematisieren oder ein phantastisches Ereignis als real darzustellen, was ein Historiker nicht könnte. Mit anderen Begriffen wird dieser Prozeß auch in dem Aufsatz »Allerneuester Erziehungsplan«, der vom 29. bis 31. Oktober und vom 9. bis 10. November 1810 erschien,[36] thematisiert. Es ist kein Zufall, daß Kleist in diesem Zusammenhang über die Experimentalphysik spricht und argumentiert, daß zwei elektrische Körper entgegengesetzter Ladung im Fall eines Kontaktes untereinander, ihre Energien ausgleichen, indem die Vorherrschaft des einen auf den anderen übergeht.[37] Kleist behauptet, daß dieses »Gesetz« »nicht bloß von Meinungen und Begehrungen, sondern, auf weit allgemeinere Weise, auch von Gefühlen, Affecten, Eigenschaften und Charakteren «[38] gilt.

Zu dem letzten Punkt (d), sei in Kürze nur gesagt, daß für Kleist der Tod und die Naturkatastrophen immer eine fixe Idee gewesen sind, auch wenn die Vaterschaft der Ärzte und der Naturforscher schon sichtbar wurde. Für dieses Gebiet gilt jedoch mehr als für jedes andere das Anführen von exempla (Präzedenzfällen), wie Jörg Schönert zu Recht bemerkt, der als Quelle von Informationen zur Kriminalgeschichte eine Veröffentlichung aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nennt: »Unlängst wurden Exemplare des Wochenblattes ›Stolbergische Sammlung Neuer und Merckwürdiger Welt–Geschichte‹ entdeckt, das von 1731 bis etwa 1744 erschien und von J. G. Schnabel, dem Autor der ›Insel Felsenburg‹ herausgegeben wurde.«[39]

Auch für Todesfälle, von denen sich Kleist ein reiches Repertoire zugelegt hatte, gilt das Prinzip der Experimentalphysik und der Dialektik zwischen Chronik und Unterhaltung. Das sinistre Subjekt stellt für Kleist die beste Gelegenheit dar, seine Überraschungstechnik zu perfektionieren. Hinsichtlich dieser Technik hat Marina Bistolfi konstatiert, daß »die trockene Bündigkeit einer Sprache, die von Kommata, die wie musikalische Zeichen gebraucht werden, rhythmisch skandiert wird, zusammen mit einer auch psychologischen Charakterisierung der Personen, die wenigen Haupteigenschaften anvertraut wird, viele Anekdoten in makabre short stories transformiert, in denen die Grenze zwischen Absurdem und der augenscheinlichen Normalität, zwischen Lachen und Schrecken, sich als völlig belanglos und zufällig erweist«.[40]

Walter Müller–Seidel hat schon vor einigen Jahren bemerkt, wie bedeutsam die Unterscheidung von Totschlag und Hinrichtung für Kleist ist und wie das Ereignis eines gewaltsamen Todes immer ein Verhältnis zur Wiederherstellung der »Ordnung der Dinge« haben muß, die durch eine schlechte Anwendung der Justiz in einer Gemeinschaft umgeworfen oder durch schweres, unter das Strafrecht fallendes Vergehen geschändet worden ist.[41] Müller–Seidel hat besonders betont, daß Kleist den Tod nie schrecklicher dargestellt hat, als er tatsächlich ist, sondern vielmehr die Grausamkeit der Menschen akzentuiet hat, die ihrer Natur nach die Angst von sich fernhalten, indem sie ein an ihrer Stelle leidendes Opfer finden. Auch in diesem Fall wird der Beobachter in den Text geführt und gleichzeitig als äußerer Betrachter positioniert, der, fern von allem, als »Mönch am Meer« die Szene beobachtet, »als ob [ihm] die Augenlieder weggeschnitten wären«. Das Unheimliche fällt noch einmal mit dem Abnormen, das in der Natur zu finden ist und nicht Schöpfung der mißgestaltenden Phantasie, zusammen.