Elmar Locher

Verstellte Schriften. Differenz und Spur.

Anmerkungen zum materiellen Substrat bei Kleist.

I. Das Erhabene oder: Kleist mit Kant, und ...

Seit Werner Hamachers »Das Beben der Darstellung«[1] schreibt sich die bis dahin eher generell gehaltene Kant–Kleist–Beziehung in einer prägnanten Volte auf das Erhabene zu. Hamacher hat deutlich gemacht, daß die Kantische Fragestellung des Erhabenen als Darstellungsproblem das Beben des Bebens in den Text als Erschütterung der Darstellung verlängert: Angesichts der Unermeßlichkeit der Natur im mathematisch Erhabenen wie im dynamisch Erhabenen versagt die Einbildungskraft im Bildermachen und muß bei der Vernunft Hilfe suchen. Der Mensch seinerseits erfährt so zum einen seine Ohnmächtigkeit, zum anderen aber wird er sich seiner selbst als Vernunftwesen inne, das sich keiner Macht beugt. Der Abbruch, den die Natur macht, scheint den Menschen zu vernichten in seinem »Wehsein«, als Vernunftwesen aber ersteht er zu neuem »Frohsein«, zumindest bei Schiller. In § 23 seiner »Kritik der Urteilskraft« hält Kant in einem Passus, auf den noch Hegel in seiner »Symbolik der Erhabenheit« zurückkommen wird, fest: »[Das] eigentlich Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft: welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen läßt, rege gemacht und ins Gemüt gerufen werden.«[2] Diese Unangemessenheit führt zur Erschütterung, zu einem »schnellwechselnden Abstoßen und Anziehen ebendesselben Objekts«.[3] Das hat Folgen für die Darstellung, nach Hamacher: »Nicht nur hat die Darstellung keinen festen Stand mehr auf einem ihr äußerlichen Fundament, sondern in ihr selbst öffnet sich, nach Kants Formulierung, »gleichsam ein Abgrund, worin sie sich selbst zu verlieren fürchtet«.[4] Es geht also in Kants Analytik des Erhabenen nicht so sehr um die Darstellung, zum Beispiel, eines Erdbebens, sondern um ein Erdbeben der Darstellung, ohne daß sie eine Darstellung nicht wäre. Kleists »Erdbeben in Chili« stellt dies Erdbeben nicht dar, ohne zugleich das Beben der Darstellung zu sein.[5] Besonders deutlich schlägt diese Erschütterung in der anaphorischen ›Hier‹–Häufung zur Darstellung der Folgen aus der Sicht Jeronimos durch: »Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte, hier schrieen Leute von brennenden Dächern herab, hier kämpften Menschen und Thiere mit den Wellen, hier war ein muthiger Retter bemüht, zu helfen; hier stand ein Anderer, bleich wie der Tod, und streckte sprachlos zitternde Hände zum Himmel.«[6] Liegt in der ersten ›Hier‹–Abfolge noch die Bewegung Jeronimos vor, die uns die Origo–Perspektive erlaubt, so zeigt die weitere ›Hier‹–Abfolge diese Bewegung als aufgehobene. Das ›hier‹ aber, das sich nur innerhalb eines Zeigfeldes mit Bezug auf die Stimme, die »hier und jetzt« ›ich‹ sagt, bestimmen läßt, akzeleriert, in der Stillstellung der Bewegung Jeronimos, den Text. In den Text geht, da diese Stimme nicht gleichzeitig an verschiedenen Orten »hier und jetzt« sagen kann, die Beschleunigung – Raumkoordinaten und Zeitachsen aushebelnd – als Erschütterung der Darstellung selbst ein.[7]

Die Problematik des Erhabenen und seiner Darstellung bei Kleist entzündet sich dann nicht zuletzt und zufällig an der Bearbeitung des Brentano/Arnim–Textes der »Berliner Abendblätter« zu Capar David Friedrichs Bild »Mönch am Meer« zuerst in den 1990 gleichzeitig erscheinenden Arbeiten von Christian Begemann »Brentano und Kleist vor Friedrichs Mönch am Meer. Aspekte eines Umbruchs in der Geschichte der Wahrnehmung« und Bernhard Greiner »Die Wende in der Kunst: Kleist mit Kant«,[8] in der Weiterführung durch Ekkehard Zeeb, zuerst im Aufsatz »Kleist, Kant und/mit Paul de Man – vor dem Rahmen der Kunst. Verschiedene Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft« in dem von Gerhard Neumann herausgegebenen Sammelband.[9] Einer wie mir scheint fundamentalen Einlassung zur Kleist–Forschung, wenn man Max Kommerell (1937) einmal ausklammert und nur en passant auf die auf genaues Lesen insistierenden Notate von Roland Reuß zur »Brandenburger Kleist–Ausgabe« eingehen will, die ebenso eindringlich die Erschütterung der »gebrochenen Sprachen« bei Kleist wie deren »Geklüfft« zu lesen versuchten. Das Verdienst Gerhard Neumanns scheint mir zu sein, daß er die gebrochene Sprache in der immer neuen Versuchsanordnung bei Kleist auf das verlorene Paradies und die daraus resultierenden Aporien des casus perplexus und der verstellt/verstellenden Schrift auf die Ordnung der Zeichen rückbezieht, den daraus resultierenden Wahrheitsverlust, ihre Lesbarkeit respektive Unlesbarkeit, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Dies erlaubt ihm, bei Kleist von einem »Krieg der Zeichen« zu sprechen. Er öffnet in seinen mikrologischen Kleist–Lektüren, vielleicht eindringlicher als Paul de Man, die Kleistschen Texte auf die »Allegorie des Lesens« hin. Etwas früher haben sich dazu auf einem anderen Schauplatz ebenso eindringlich Stimmen zum grundierenden Ton der Diskussion Kant mit Kleist vernehmen lassen, die das Erhabene bei Kant auf das Darstellungsproblem hin fokussierten.[10] Dieser Text erfährt gewissermaßen die deutsche Weiterschrift in dem Band Christiaan Hart–Nibbrigs »Was heißt Darstellen?« von 1994, vor allem in der Fragestellung von Rodolphe Gasché zur Hypotypose bei Kant.[11]

Verschob Hamacher das Kleistsche Beben in die Materialität des Textes, so zeigt sich vor »Friedrichs Seelandschaft« bei Greiner und Zeeb die neue Qualität dieser Materialität in ihrem Bezug auf die Fragestellung des Erhabenen, spezifisch auf den »Abbruch des Bildes« und auf die Reflexion des Rahmens, daß das Bild »nichts als den Rahm, zum Vordergrund hat«. Für Kleist ergibt sich somit für die Position des Betrachters die Vorstellung, »als ob Einem die Augenlieder weggeschnitten wären«.[12] Die Wende, die sich bei Kleist abzeichnet in der Einlassung zum erfahrbaren Sinnlichen und der Idee, von Signifikant und Signifikat, ist die Volte in die Materialität. Nur: Greiner und Zeeb akzentuieren anders. Besonders deutlich markiert Greiner seine Position in der kurzen Lektüre der Cäcilienerzählung, nachdem er sich auf Kleists Text zu Friedrichs Bild eingelassen hat. Die Erfahrung des Erhabenen als Erfahrung des »Göttlichen« liest sich dann so: »So ist die Relation zwischen musikalischem Kunstwerk (als Signifikantem) und Gotteserfahrung (als Signifikat) erneut ins Materielle verschoben zur Relation zwischem Signifikantem und materiellem Substrat des Signifikats (die Wundererscheinung als physische Manifestation Gottes in der menschlichen Wirklichkeit).«[13] Darauf werde ich in Abschnitt IV zurückkommen. In dieser Wende hin zum materiellen Substrat zeige sich die Ambivalenz Kleists, weil die physische Ohnmacht – anders als bei Kant oder Schiller – nicht den Aufstieg zur sittlichen Größe bereithalte, sondern beides: Entmenschung und Erhebung.[14] Demgegenüber verdeutlicht Zeeb in seiner Lektüre »Kleist mit Kant/de Man«, daß dieser Zug ins Materielle sich festschreibt an »eine[r] Materialität des Buchstabens, die der Symbolisierung bedarf (und der das ›Symbol‹ bedarf), diese(s) aber zugleich verunmöglicht, durchstreicht [...]«.[15] In der Darbietung des Erhabenen öffnet sich eine Dialektik. Das Erhabene läßt sich nicht ins mimetische Abbild bringen, es bietet sich dar im Zwischen von Beschauer und Bild. Im Denken des Erhabenen verweisen die Kontur einer Absicht, eines Zweckes, der Rahmen eines Bildes, die Spur der Schrift auf nichts anderes als auf sich selbst, und in dieser Präsentation ihrer selbst stellen sie ihren eigenen Abbruch dar: Das Unbegrenzte läßt sich nicht auf das Unendliche als Begriff beziehen, immer wieder muß es zu seinem Anfang zurück, bestimmt sich nur a limine.[16] Dieser problematischen Frage des materiellen Substrats versuche ich mich im folgenden in drei Anläufen zu nähern.

II. Nacktheit und Hülle: die Endlosbewegung innerhalb einer binären metaphorischen Substitution.

Doch um ein anderes Problem des Erhabenen und seines Interesses daran beginnt die Frage der Darstellung zu kreisen: »*Einfalt* [...] ist gleichsam der Stil der Natur im Erhabenen«, hatte Kant befunden,[17] und diese Einfachheit wird allseitig gesucht und kann sich nur in einem nicht enden wollenden Hin und Her von Signifikant und Signifikat, von Verhüllung und Nacktheit, in der Reduktion auf Körpermetaphorik, in einer Struktur des »bloß so«, also eben »nicht so«, in der nichts mehr dafür steht, wofür es zu stehen vorgibt, definieren. Und bereits Schiller zeigt, in welche Endlosbewegung der metaphorischen Substitutionen sich die Darstellung fortschreiben muß, will sie innerhalb dieser binären Struktur sich bestimmen. In »Über naive und sentimentalische Dichtung« findet sich der Satz, der das Sentimentalische vom Naiven zu differenzieren versucht: »Wenn dort das Zeichen dem Bezeichneten ewig heterogen und fremd bleibt, so springt hier wie durch innere Nothwendigkeit die Sprache aus dem Gedanken hervor, und ist so sehr eins mit demselben, daß selbst unter der körperlichen Hülle der Geist wie entblößet erscheint. Eine solche Art des Ausdrucks, wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet, und wo die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam nackend läßt, da ihn die andre nie darstellen kann, ohne ihn zugleich zu verhüllen, ist es, was man in der Schreibart vorzugsweise genialisch und geistreich nennt.«[18] Wo das Zeichen ganz im Bezeichneten verschwindet, das hatte auch Kleist imaginiert, in den »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«: »Ja, wenn man diese Landschaft mit ihrer eignen Kreide und mit ihrem eigenen Wasser mahlte; so, glaube ich, man könnte die Füchse und Wölfe damit zum Heulen bringen: das Stärkste, was man, ohne allen Zweifel, zum Lobe für diese Art von Landschaftsmahlerei beibringen kann.«[19] Nur, diese Landschaft wäre zurückgenommen in die Natur, löschte sich selbst und ihre Zeichenstruktur. Oder anders gewendet: Im konjunktivischen Sprechen Kleists wird eine Landschaft gedacht, die so lebhaft abgebildet ist, daß sie sich selbst – in ihren eigenen Materialien – darzustellen scheint. Dies aber wäre – nun auf die Malerei gelegt – das Verfahren der Hypotypose. Erstaunlich ist, daß Kleist an einer zentralen Stelle der Problematik des Erhabenen[20] die Frage nach der Darstellbarkeit stellt und auf das Verfahren der Hypotypose als realitätsbildender kommt. Als rhetorische Figur aber meint die Hypotypose auch »eine Veranschaulichung, bei der das lebhaft Dargestellte so bis ins einzelne gehend vorgeführt wird, daß es nicht nur präsent zu sein, sondern auch sich selbst zu präsentieren scheint«.[21] Das Gemüt wird damit, im Zusammenspiel seiner Vermögen, durch das Schauspiel, das es sich bietet, affiziert. Im Bilde Kleists affizierte das so Dargestellte noch die Füchse und Wölfe. Und dieser Passus scheint nun auch der Stelle, an der Kant die Frage stellt nach der Redefigur, die dem Verstand viel zu denken gibt in ihrer Möglichkeit der Affektion des Gemüts und der Selbstaffektion, verwandt. Als die Figur dessen aber, was in der Frage nach dem Erhabenen als der bloße Augenschein sich zeigt, in Absehung von jeder teleologischen Betrachtung, erweist sich bei Kant die Hypotypose als die Form des Bild–Gebens für den Begriff, »den nur die Vernunft denken und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann«,[22] die Hypotypose als die rhetorische Figur, die notwendig wird, »um die elementare Beziehung zwischen Anschauung und Begriffen und daher die Realität, das Leben und die Selbstaffektion des Gemüts zu begreifen«.[23]

Im »Brief eines Dichters an einen anderen« verwehrt sich der Dichter gegen das Lob des anderen Dichters, der die Zweckmäßigkeit des zugrundeliegenden Metrums, den Reiz des Wohlklangs, die Reinheit und Richtigkeit des Ausdrucks und der Sprache pries. Denn: »Sprache, Rhythmus, Wohlklang u. s. w. und so reizend diese Dinge auch, in sofern sie den Geist einhüllen, sein mögen, so sind sie doch an und für sich, aus diesem höheren Gesichtspunkt betrachtet, nichts, als ein wahrer, obschon natürlicher und nothwendiger Übelstand; und die Kunst kann, in Bezug auf sie, auf nichts gehen, als sie möglichst *verschwinden* zu machen. Ich bemühe mich aus meinen besten Kräften, dem Ausdruck Klarheit, dem Versbau Bedeutung, dem Klang der Worte Anmuth und Leben zu geben: aber bloß, damit diese Dinge gar nicht, vielmehr einzig und allein der Gedanke, den sie einschliessen, erscheine.«[24]

Ein zweifaches Problem scheint der Brief in der vordergründigen Problemlage einer »Analytik des Schönen« zu benennen. Er hält zum einen die transzendentale Frage verborgen, wie denn der Geist in seiner Beziehung zum Erhabenen und zugleich als das Einfache sich darstellen läßt, zum anderen aber stellt er die Frage nach dem Rahmen, nach dem parergon im Sinne Kants. Ob man nun an dieser Stelle »Geist« als Erhabenes faßt oder ihn nur in seiner »ästhetischen Bedeutung« darlegen will: in beiden Fällen ergibt sich ein Darstellungsproblem, das sich mit dem Darstellungsproblem des Erhabenen verknüpft. In § 49 seiner »Kritik der Urteilskraft«, der den Titel »Von den Vermögen des Gemüts, welche das Genie ausmachen« trägt, kommt Kant auf den »Geist« in ästhetischer Bedeutung zu sprechen. Er definiert ihn – jenseits der Eleganz und der Feierlichkeit der Rede – als das belebende Prinzip, »was die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d. i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt«.[25] Nach Kant ist dieses Prinzip nun nichts anderes als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen: »Nun behaupte ich, dieses Prinzip sei nichts anders, als das Vermögen der Darstellung *ästhetischer Ideen*; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. *Begriff* adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.«[26] So erweist sie sich als Gegenstück der Vernunftidee, »welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine *Anschauung* (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.«[27] In § 23, in der Frage der »Analytik des Erhabenen«, findet sich nun das Pendant, von dem Kant spricht und auf das noch Hegel sich beziehen wird. Es heißt dort: »[...] denn das eigentliche Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft: welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen läßt, rege gemacht und ins Gemüt gerufen werden.«[28] Somit würde, indem der Text die Unangemessenheit der Darstellbarkeit des »Geistes« nach allen Seiten als immer neu gestellte Frage, in immer neuer metaphorischer Substitution analogisch auslegt, das Gemüt rege gemacht. Und damit gelänge die Darstellung, »nicht vermittelst einer direkten Anschauung, sondern nur nach einer Analogie mit derselben, d. i. der Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann«.[29]

Das Strittige am vorliegenden Geschmacksurteil scheint sich dann an der Frage zu entzünden, was das Innere der Schönheit bestimme und was daran nur als Äußerliches, als rhetorisches Beiwerk, Zierat, erscheine. Um das aber bestimmen zu können, bedarf es der Grenze des Innen und des Außen des Kunstgegenstandes.

In § 14 seiner »Kritik der Urteilskraft« kommt Kant auf die »Zieraten« (parerga) zu sprechen und hält fest: »Selbst was man *Zieraten* (parerga) nennt, d. i. dasjenige, was nicht in die ganze Vorstellung des Gegenstandes als Bestandstück innerlich, sondern nur äußerlich als Zutat gehört und das Wohlgefallen des Geschmacks vergrößert, tut dieses doch auch nur durch seine Form: wie Einfassungen der Gemälde, oder Gewänder an Statuen, oder Säulengänge um Prachtgebäude. Besteht aber der Zierat nicht selbst in der schönen Form, ist er, wie der goldene Rahmen, bloß um durch seinen Reiz das Gemälde dem Beifall zu empfehlen angebracht: so heißt er alsdann *Schmuck*, und tut der echten Schönheit Abbruch.«[30] Doch um dies entscheiden zu können, muß man wissen, wie das Innen als das Eingerahmte, von einem Außen, das ausgeschlossen bleibt, zu unterscheiden wäre. Es bedarf also eines »Diskurses über den Rahmen«. Es bleibt Derridas Feststellung: »Und wenn Kant auf die Frage: ›Was ist ein Rahmen?‹ antwortet: ein parergon, eine Zusammensetzung aus Innen und Außen, aber eine Zusammensetzung, die kein Gemisch oder eine halbe Sache ist, sondern ein Außen, das vom Innen in das Innen gerufen wird, um dieses als Innen zu konstituieren; und wenn er als Beispiel für ein parergon neben dem Rahmen das Gewand und die Säule anführt, dann fragt man schon nach Beweisen und sagt sich, daß es hier ›große Schwierigkeiten‹ gibt.«[31]

Als Inneres scheint der »Geist« angesprochen, der von einem Äußeren, zu dem in letzter Instanz der Dichter freilich auch die Sprache zählt, eingeschlossen[32] wird. Doch dieses Einschließen berührt Innen wie Außen. Das »aber bloß« des Dichters scheint die Form der Kantischen Bestimmung des »bloß so« wieder aufzunehmen. Und in dieser Bestimmung erscheint das Spiel der Imagination als Spiel der Subtraktion, der Trope des Suffix ›–los‹, ›reim–los‹, ›klang–los‹, ›anmuts–los‹, ›sprach–los‹: das Erhabene ist formlos.[33] Wer den bestirnten Himmel erhaben nennen will, »muß absehen von allem, was er darüber weiß«, und auch der Ozean ist zu nehmen »bloß wie die Dichter es tun, nach dem, was der Augenschein zeigt«. »Vom Sehen das Denken abzuziehen, beim Sehen vom Denken abzusehen«, kommentiert Hart–Nibbrig.[34]

Eine Doppelbewegung also imaginiert der Dichter bei Kleist in der Bewegung des Textes, zum einen indem er die Tropen als Hülle des Geistes entfaltet, die im unverzichtbaren Spiel der Signifikanten dem Geist Gestalt, Figur, Stimme gibt, »aber bloß«, um in der gleichzeitigen Gegenbewegung dazu das Verschwinden eben der Hülle, der Figuration, in Szene zu setzen: »Denn das ist die Eigenschaft aller ächten Form, daß der Geist augenblicklich und unmittelbar daraus hervortritt, während die mangelhafte ihn, wie ein schlechter Spiegel, gebunden hält, und uns an nichts erinnert, als an sich selbst.«[35] Der Geist hat sich in seiner vollen Durchsichtigkeit über die Form zu erheben, von keiner Spaltung, Absonderung von sich selbst will er wissen. Man könnte von einer zweifachen Faltung sprechen: Er möchte die Spaltung, den Abgrund, in den sich die Darstellung selbst zu verlieren fürchtet, im Ausfalten der tropologischen Struktur gleichsam überspannen, gleichzeitig aber und im Gegenzug dazu die Hülle wieder einfalten zur Einfachheit, zur perspicuitas hin, zur Einfalt. Faltung aber bleibt als die Restmarkierung, obwohl er ohne Hülle in Augenschein genommen werden soll, augenblicklich. Doch damit etwas erscheine, bedarf es des Einschließens, der Grenze, der Differenzierung, des materiellen Substrats, die diesen Geist erst auszufällen in der Lage sind, denn sonst bliebe er indistinkte Nebelhülle. Der Geist bedarf, um zu erscheinen, der Verbindung »mit etwas Gröberem, Körperlichen«.[36] Dem Geist wäre entgegenzutreten als Geist, ohne auf das Kleid der Gedanken zu achten, vollends auf Sprache zu verzichten wäre das Ziel: »Wenn ich beim Dichten in meinen Busen fassen, meinen Gedanken ergreifen, und mit Händen, ohne weitere Zuthat, in den Deinigen legen könnte«.[37] Doch in dieser Volte – und das konjunktivische Sprechen scheint zu wissen, daß sich hierin wieder bloß die Struktur eines »als ob« zeigt – müßte erst recht der Körper als Schacht, als Einschluß des Gedankens, als Grab, in dem eine fremde Seele ruht, aufgebrochen werden, und schwerlich wäre der Geist ohne Zutat mit Händen zu fassen. Um die luftigere Hülle des Signifikanten der Sprache zu löschen, um der puren Durchsichtigkeit willen auf das Unverstellte hin, muß Anleihe genommen werden bei körperlich Konsistenterem. An anderer Stelle wird das Körperorgan Herz zum Signifikanten für das unverstellte Gefühl, für das reine Signifikat. Das Reinste und Durchsichtigste muß dem Klumpen sich anbequemen. Doch durchgestrichen wäre das körperlichste materielle Substrat und sprachlos das Zeichen, hätte es nicht seit langem schon seine Buchstäblichkeit gelöscht in metaphorischer Substitution. Der Geist ist nicht zu haben ohne den zerstückelten Körper, dieser aber bliebe, ohne Symbol, dessen er bedarf, bloßer Klumpen. Die Durchsichtigkeit wird selbst undurchschaubar in ihrer notwendigen Reduktion auf die Körpermetaphorik hin. Das Einfache ist so nicht zu haben, es erscheint als die Sehnsuchtsfigur immer neuer Figuration, die aber gleichzeitig nichts anderes als ihre eigene Verschiebung inszeniert.

Nach Ekkehard Zeeb scheint Kleists »Brief eines Dichters an einen anderen« auf der Linie der Argumentation Hegels zu liegen, wenn dieser feststellt, die Figuration des Zeitmaßes der Silben und Wörter sowie Rhythmus und Wohlklang seien zwar nicht »als das eigentliche Element für den Inhalt, sondern als eine akzidentellere Äußerlichkeit«[38] zu werten. Zeeb selbst bezieht sich allerdings auch auf einen anderen Passus bei Hegel, in dem die Poesie als »ihrem Begriffe nach wesentlich tönend«[39] gewertet wird. Und obwohl die Poesie als einzige unter den Künsten »schon im Elemente des Geistes ihren wesentlichsten Seiten nach fertig ist, [...] muß sie als Kunst nicht ganz die Seite ihrer wirklichen Äußerung von sich abstreifen, wenn sie nicht zu einer ähnlichen Unvollständigkeit kommen will, in welcher z. B. eine bloße Zeichnung die Gemälde großer Koloristen ersetzen soll.«[40]

Vielleicht aber verdeutlichen die durchaus widersprüchlichen Einlassungen Hegels nichts anderes als eben diese Suche nach dem Rahmen, nach der Linie, die uns ein Inneres von einem nur Äußerlichen zu trennen vermöchte, und schreiben nur Kants parergon–Frage weiter.

III. »Der Griffel Gottes« oder Das Lesen des Hypotextes

Die Kleistsche Anekdote der »Berliner Abendblätter« vom 5. Oktober 1810 inszeniert in einem vorgeblich physikotheologischen Schreibakt die anagrammatische Umschrift einer testamentarischen Inschrift.[41] Er schreibt das Gedächtnis des Textes neu, die Schrift des Eingedenkens setzt er um in den Richtspruch des Urteils: »*sie ist gerichtet!*«[42] Jede Schrift ist, nach Derrida, testamentarisch. In ihr sichert sich, durch eine nebulöse Gegenwart hindurch, die Zukunft. Was diese Schrift inszeniert, ist Rest, Überlebsel, wird lesbar als Differenz und Spur eines gelebten Lebens. Diese Schrift des Epitaphs buchstabiert dem Vorfahren Gesicht und Stimme, die Umschrift aber entzieht ihm beides in der neuen Figuration: facement und defacement als anhaltender, dekonstruktiver Prozeß. Als Schrift aber dauert sie länger als wir, setzt sich der Korrosion und dem Verlöschen der Zeichen aus, würde vielleicht aber so aus ihrer Verstellung zur Wahrheit hin entstellt werden: nur, in welcher Zeit? In der Umschrift durch den Griffel Gottes werden die zwei Zeitdimensionen, auf die es anzukommen scheint, verdeutlicht. Die Schrift folgt der Homogenität der Linie, im Aneinanderreihen der Signifikanten folgen wir dem Prinzip der linearen Sukzessivität, der Konsekutivität.[43] Dieser Konzeption der Schrift, die sich bei de Saussure findet, schreibt sich ein Verständnis der Zeit ein, das sich gleichfalls der linearen Sukzessivität verpflichtet weiß. Diese fände ihren Abschluß und gleichzeitig das Ende aller Auslegungsarbeit des Lesens, die Wahrheit des Textes, am Ende aller Zeiten. Nun aber macht de Saussure gleichwohl deutlich, daß die Annahme der Linearität der Zeichen, deren Elemente nacheinander auftreten, nicht ungefragt für die Sprache schlechthin gilt. In seinen Einlassungen zu den Anagrammen hält de Saussure ein anderes Verräumlichungsparadigma der Schrift bereit: »[...] In einem so speziellen Bereich wie dem unsrigen [im Bereich der Anagramme] läßt sich eine Frage wie die nach der Konsekutivität oder Nicht–Konsekutivität immer nur vermöge der Grundgesetzlichkeit des menschlichen Wortes im allgemeinen stellen.«[44] Und genau auf diese neue Verräumlichung scheint es der Griffel Gottes abgesehen zu haben. Er verräumlicht neu. In dieser neuen Verräumlichung aber unterbricht er die lineare Zeit, holt das eschatologische Moment der Wahrheit in die Konsekutivität des Textes ein, indem er die Beziehung der Sprache zum Richtspruch offenlegt. Der neue Satz also lautet: »*sie ist gerichtet!*«

Was aber dieser neue Satz freilegt, wäre immer schon zu lesen gewesen, hätte man nicht die Linearität der Zeit zugrundegelegt und wäre man nicht der Konsekutivität der Zeichen gefolgt. Die Signifikanten des einen Textes des Leichensteins verstellen den Zugang zum anderen Text, den der Griffel Gottes nun freilegt; der Leseakt des einen ist ein Verlesen des anderen Textes. Der Schreibakt des Griffels legt eine Bewegung des Textes frei, die wir als Bewegung vom Phänotext hin zum Genotext oder Hypotext deuten können. Die anagrammatische Umschrift aber, die Kleist inszeniert, gilt es auf den Begriff des Anagramms hin zu präzisieren, wie er aus den Anagrammstudien de Saussures hervorgeht.[45] Ja, man kann sogar weiter gehen und sagen, der Kleistsche Text nimmt die Entwicklung vorweg, die der bei de Saussure eingeschriebene Göttername hin zum Hypotext der Moderne gegangen ist.

Als von einer ganz eigenen Substanz aber erweist sich der Schreibakt selbst. Wir können eigentlich nicht von einem Schreiben sprechen, wir müssen vielmehr von einem Löschen ausgehen. Das Löschen legt die Materialität des Leichensteins wie die Materialität der Signifikanten nahe. Der Blitz, der als das Schreibinstrument Gottes wirkt, schmilzt die Materialität der Zeichen. Das System der Differenzen, das allein Bedeutung ausfällt und als das Sprache begriffen werden muß, wird rückgeführt in die indistinkte Erzmasse. Bedeutung löscht sich und schreibt sich gleichsam neu, die Signifikanten isolierend, die als Überlebsel sich zum neuen Text ordnen. Dieser Schreibprozeß Gottes ist aber im eigentlichen Sinne nicht écriture sondern lecture. In der bewußten écriture des Anagramms ist dem Dichter das Leitwort bekannt, das Signifikat bleibt bewußtseinspräsent, der Signifikant als distinkte Einheit, die sich von allen anderen Signifikanten des Sytems unterscheidet, zu dem nun neue signifiants gebildet werden, die mit dem signifié des ersten Signifikanten in Beziehung stehen und im Text verstreut werden – dieser Signifikant bleibt ebenfalls als distinkte Einheit päsent. Dies ist die eine Seite der Anagrammtechnik, die von Starobinski und Lévi–Strauss als bricolage gefaßt wird.[46] Im Vorgang des Lesens aber müssen die einzelnen Signifikanten gesammelt werden zum Leitwort, das der Leser noch gar nicht kennt – wobei auch nicht sicher ist, ob es ein solches überhaupt gibt. Diese lecture des Hypotextes wird nun als die neue Schrift ausgefällt. Um einiges komplexer erweist sich das Anagramm der unbewußten écriture. Der Leseakt wird aber auch in diesem Fall zum Schreibakt selbst. Entscheidend aber scheint mir, daß die Kleistsche Anekdote, die lecture als écriture bestimmt, beide festmacht an der Materialität des Signifikanten, und zwar ganz buchstäblich. Kleists Hinweis auf die Schriftgelehrten, die den Vorfall zu deuten hätten, erweist sich so als von einer Hintergründigkeit, die ein erster Blick gar nicht freigibt. Es geht um Schrift und um das Lesen dieser Schrift. Der Text stellt die Schrift als différance, als die Verräumlichung und den Einzug des Aufschubs in der Zeit dar und setzt diese ineins mit der Bewegung des Textes. Diese Bewegung aber enthüllt gleichsam das theologische Substrat des Textes, auf das hin der Terminus ›der Schriftgelehrte‹ seine Wahrheit expliziert. Der Text läßt sich lesen als die Allegorie des Lesens selbst, die Wahrheit des Textes aber, die er in seiner Bewegung zum Hypotext hin freilegt, wird von Kleist erneut zu bewahrheiten versucht durch den Doppelbezug auf den noch vorhandenen Leichenstein und auf die Augenzeugen, denen sich der Vorfall als Augenschein darbot.

IV. Schrift der Musik oder Spur und Differenz

Zurück zu unserer Ausgangsfrage, zur Frage nach dem materiellen Substrat bei Kleist. Bernhard Greiner macht dieses in der Erzählung »Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik« an der Wundererscheinung als der Präsenz des erhabenen Göttlichen fest.[47] Die Frage nach der Wundererscheinung aber stellt, und dies sei nur in Klammern angemerkt, erneut die Frage nach dem Rahmen. Kant selbst befaßt sich in der Abhandlung »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« mit dem Phänomen des Wunders, und er thematisiert im Zusammenhang damit die Frage nach dem Rahmen, insofern Wunder in einer vernünftigen Religion für Kant keinen Platz haben.[48] Culler weist jedoch darauf hin, daß sie, als parerga, »einen Mangel im Innern der vernünftigen Religion [komopensieren]«.[49] Die Frage nach dem Rahmen, der die Cäcilienerzählung schon im Titel ausweist als Taufangebinde, der die Legende zeitlich und örtlich bestimmt, stellt sich erneut zweifach auf dem Weg der Mutter zum Kloster. »[...] fanden die Weiber den Dom, weil eben gebaut wurde, am Eingang durch Planken versperrt, und konnten, wenn sie sich mühsam erhoben, durch die Öffnung der Bretter hindurch von dem Inneren nichts, als die prächtig funkelnde Rose im Hintergrund der Kirche wahrnehmen. [...] Dabei stand ein Gewitter, dunkelschwarz, mit vergoldetetn Rändern, im Hintergrunde des Baus; dasselbe hatte schon über die Gegend von Aachen ausgedonnert, und nachdem es noch einige kraftlose Blitze, gegen die Richtung, wo der Dom stand, geschleudert hatte, sank es, zu Dünsten aufgelöst, misvergnügt murmelnd im Osten herab.«[50] Diese Rahmungen erscheinen erneut im Zusammenhang mit dem »in Augenschein nehmen« des Ortes, der zugleich, als Element des Erhabenen, ein Entsetzliches und ein Faszinosum indiziert, also in das Innere des Textes führt. Und vor dem Dom sinkt das Gewitter, »zu Dünsten aufgelöst, misvergnügt murmelnd im Osten herab«. Als das zentrale Thema dieser Rahmungen kann man nun mit Gerhard Neumann den Krieg der Zeichen, als der Frage nach der Beglaubigung von Bild und Schrift und der bilder– wie schriftlosen Musik, sehen.[51] Man kann auch, wie Thomas Groß zeigt, den Text Kleists in seiner selbstreferentiellen Funktion lesen, als sprachliche Inszenierung des Problems, das zwischen Protestantismus und Katholizismus verhandelt wird, ob die Kunst »Geistiges sinnlich wahrnehmbar machen kann«.[52] Ich stimme Thomas Groß zu, wenn er das Scheitern eines intentionalen Begreifens oder intentionalen Sehens, das der Text darstellt, zu einem konstitutiven Element des Textes selbst erhebt. Ein Problem ergibt sich für mich, wenn das »in Augenschein nehmen« der sinnlichen Erscheinung des Geistigen, mit intentionalem Bewußtsein untersuchen zu wollen, gedeutet wird.[53] Die Folgen sind nicht unerheblich, denn sie führen Thomas Groß zu folgendem Fazit: »Der Text schreibt sich, sofern ihm geglaubt wird, ein in das Ganze menschlicher Lebensbezüge; er bewegt und ver–rückt, indem er die Intentionalität außer Kraft setzt und den Rezipienten im literarisch–poetischen Bild birgt. [...] [Der Text] eröffnet einen sprachjenseitigen Bereich, der geistig bildahft ist [Herv. v. mir, E. L.] und (vorübergehend) die Zeit und ihren zerstörenden Charakter aufhebt: den Bereich wahrhafter Kommunikation.«[54] Wenn man nun Kleist mit Kant liest, zeigt sich, daß das »in Augenschein nehmen« eben ein gänzlich intentionsloses Sehen ist, oder, mit Paul de Man gesprochen, ein materiales. Der Text eröffnet also nur insofern einen sprachjenseitigen Bereich, indem er den Zeichencharakter verhandelt, indem er immer wieder die Frage nach dem materiellen Substrat des Signifikats stellt.

Ich glaube nun, daß gute Gründe dafür sprechen, dieses materielle Substrat unter anderem am Signifikanten der Schrift festzumachen, und nicht an der Wundererscheinung der heiligen Cäcilie, wie dies Greiner versucht. Christine Lubkoll hat in ihrer Arbeit auf die Zentralität der Schrift der Partitur hingewiesen.[55] Der Text fokussiert die Partitur mehrfach. Vor der Aufführung wird die Partitur verteilt, die Partitur wird in unmittelbarer Nähe der Äbtissin aufbewahrt, das »bloße« ›Ab‹nehmen, das »in Augenschein nehmen« der »prosaischen Materialität des Buchstabens«[56] von seiten der Mutter führt zu ähnlichen Folgen wie das Absingen der Messe in der Kirche bei den Brüdern. Der Text spricht nicht vom Lesen, er nennt Betrachten und den »bloßen Anblick«: »Sie betrachtete die unbekannten zauberischen Zeichen [...] Es war ihr, als ob das ganze Schrecken der Tonkunst, das ihre Söhne verderbt hatte, über ihrem Haupte rauschend daherzöge; sie glaubte, bei dem bloßen Anblick ihre Sinne zu verlieren [...].«[57] Wieder setzt Kleist – an entscheidender Stelle – das Kantische »bloß«. Könnte die Konversion der Brüder noch festgemacht werden an der Wundererscheinung der Cäcilie als dem materiellen Substrat des Göttlichen – doch auch sie bedurfte der Partitur, als schützender, thesaurierender, Kontinuität wahrender –, so wird die Erfahrung der Mutter ganz ausdrücklich auf die magischen Zeichen der Schrift bezogen. Diese entziehen ihr den Subjektstatus in der Erfahrung des »es war ihr« und führen sie, ähnlich wie die Anwesenden in der Kirche, über dreihundert – die »Berliner Abendblätter« sprechen noch von über dreitausend –, in die Nähe des Todes.

Die Materialität der Schrift freilich indiziert nicht Präsenz, sie ist Differenz: »Dieser Ausdruck, dies sinnliche Ding oder Bild stellt dann so wenig sich selber vor, daß es vielmehr einen ihm fremden Inhalt, mit dem es in gar keiner eigentümlichen Gemeinschaft zu stehen braucht, vor die Vorstellung bringt.«[58] Die Schrift der Partitur wird in ihrer Auswendigkeit[59] zur sichernden Gedächtnisspur des Göttlich–Erhabenen. Die Erfahrung mit den Zeichen der Partitur aber zeigt, daß es sich hierbei beim Kleistschen Text, ähnlich dem Zeichen bei Hegel, um eine Differenz handelt zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten, »[...] zwischen der signifikanten Intention (bedeuten*), die eine bewegende, belebende Tätigkeit einschließt, und dem inerten Körper des Signifikanten«.[60] Die Erfahrung des Erhabenen, die im Betrachter eine emotionale Erschütterung hervorruft, bleibt im Falle der Mutter dem »bloßen Anblick« der magischen Zeichen, ihrer puren Materialität, verhaftet.

Die Aufführung der uralten Messe erfolgt im »Absingen«. Dieses Singen richtet sich noch auf ein Objekt, auf die Partitur, von der es sich im ›ab‹ lösen kann. Das Absingen der Brüder aber richtet sich nicht auf die Partitur, kann sich also demnach nicht von der Schrift lösen. Der Richtungswechsel, der sich da abzeichnet, bleibt zu reflektieren. Die Fassung der »Berliner Abendblätter« bezeichnet den Vorgang, dem die Brüder unterworfen sind, noch ausdrücklich als »absingen«[61], der endgültige Text spricht von »intoniren«, hält aber den Vorgang des Absingens selbst im Substantiv »Absingung«[62] noch fest. Das Absingen von seiten der Schwestern unter der Leitung der Schwester Antonia oder ihrer Doppelgängerin, der heiligen Cäcilie, die wie die Äbtissin über die Schrift zu wachen scheint, führt bei den Brüdern im eigentlichen Sinne zu einer doppelten Konversion. Die erste, die ihren Übertritt zum Katholizismus anzeigt, scheint außer Frage. Die zweite erweist sich als komplexer. In dieser scheint sich in der Übersetzung der Partitur aus dem inerten Körper der Signifikanten in den Ton der menschlichen Stimme, in einem neuen Akt der Umschrift, die Partitur selbst in den Körper zu graben, in diesem sich zu sedimentieren als Spur: »Dagegen, bei Anhebung der Musik, nehmen eure Söhne plötzlich, in gleichzeitiger Bewegung, und auf eine uns auffallende Weise, die Hüthe ab; sie legen, nach und nach, wie in tiefer unaussprechlicher Rührung, die Hände vor ihr herabgebeugtes Gesicht [...].«[63] Der Körper der Brüder wird nun selbst in der Erstarrung – »da ich diese vier Männer nach wie vor, mit gefalteten Händen, den Boden mit Brust und Scheiteln küssend als ob sie zu Stein erstarrt wären«[64] – gleichsam zum Grab, zum Schacht der Pyramide, der die fremde Seele der Partitur als Ton umschließt.[65] Was ihr weiteres Leben zu bestimmen scheint, nach der Konversion, ist ein Ausgehen dieser sedimentierten Spur, ist ein erinnerndes Abtragen von Schuld im Gesang, »wie von den Lippen ewig verdammter Sünder, aus dem tiefsten Grund der flammenvollen Hölle«.[66]

Ihr Absingen, das in der Signifikantenallusion noch die Nähe zu ›Absinn‹ (delirium, Wahnsinn) und ›absinnig‹ (widersinnig, sinnlos, thöricht)[67] wahrt, indiziert im ›Ab‹ des ›Gesangs‹ die Entfernung von diesem. Der Abgesang erschiene dann, in Analogie zum Abgrund, als der Gesang, der sich selbst verläßt und in die Tiefe reicht.[68]

Das Absingen der Brüder läßt des weiteren, wohl durch das Einziehen von unartikulierten Tönen, den Nachbarschaftssinn der Worte im eigentlichen Sinne miteinander verschleifend, eine neue Umsetzung vernehmen, freilich nicht mehr im göttlich erhabenen Gesang, sondern in Verlautungen, die der sinnstiftenden Artikulation der Sprache als eines gegliederten Körpers verlustig gegangen sind und die die menschliche Stimme der des wilden Tieres annähern: Erscheint an dieser Stelle »eine Fragmentierung von Sätzen und Propositionen in einzelne, diskrete Wörter oder von Wörtern in Silben oder letztlich in Buchstaben«,[69] die dem zerstückelten und zergliederten Körper Kants im Akt des »in Augenscheinnehmens« und dem Kleists an anderen Stellen korrespondiert? Erbebt in dieser Stimme, dem Geheule wilder Tiere ähnlich, als Spur des ehemaligen Glaubens – als Restmarkierung gewissermaßen – der Widerstand gegen den neuen? Und die weitere Frage wäre, ob der Text etwas ahnt von der Konversion im Sinne Freuds, die dieser in der Symptomatologie der Hysterikerin ausgemacht hat und im Absprechen eine mögliche Therapie entwarf?