Peter Staengle

»Eine Art von Vorläufer der Zeitungen«

Zur politischen Berichterstattung in Kleists »Berliner Abendblättern«

I

Die »Berliner Abendblätter« des zweiten Quartals, also nach dem Verlagswechsel der Zeitung von Julius Eduard Hitzig zu August Kuhns »Kunst– und Industrie–Comptoir«, genießen in der Kleistforschung keinen guten Ruf und haben fast keine nähere Beachtung gefunden. Zum Gemeinplatz geworden ist die Ansicht, die Helmut Sembdner in seiner 1939 veröffentlichten, inzwischen klassischen Studie formuliert hat: »Die eigentlichen Abendblätter, wie Kleist sie ursprünglich plante, sind am 22. Dez. mit Bl. 72 eingegangen. Was danach noch bei Kuhn erschien, hat kaum mehr etwas mit ihnen gemeinsam«.[1] Dieser Befund wäre unproblematisch, diente er lediglich der Deskription. Er führt jedoch eine Wertung mit sich, deren Kriterien vielleicht für die dichterische Praxis, kaum aber für das journalistische Geschäft gelten können und darauf abheben, daß das Profil einer Tageszeitung durch wenigstens zwei Faktoren maßgeblich bestimmt werde: durch die »Handschrift« des Chefredakteurs/Herausgebers,[2] sofern sie dem Blatt eine spezifische ideologische Tendenz verleiht, sowie durch den Anteil von Originalbeiträgen. Ersteres klingt in Sembdners Formulierung »ursprünglich plante« an, wohingegen letzteres ausdrücklich den Niedergang von Kleists Zeitung belegen soll: »Während also im Hitzig–Quartal fast 3/4 der Beiträge eigener Herkunft waren […], füllten im Kuhn–Quartal allein 3/4 des Raumes Abdrucke aus anderen Blättern, die zumeist wörtlich übernommen waren. Von einer Zeitung mit eigenem Gesicht kann demnach im Kuhn–Quartal nicht mehr die Rede sein«.[3] Mit anderen Worten: Die Dominanz des »Bülletins der öffentlichen Blätter« und des näheren der politischen Berichterstattung im zweiten Quartal – nach Sembdners Statistik macht sie darin nahezu zwei Drittel des Umfangs aus – verwandelt Kleists Zeitungsprojekt in einen Gegenstand, für den die Publizistik, nicht mehr die Literaturwissenschaft zuständig sein soll.

Eine solche Zweiteilung wiederholt, wie es scheint, im historischen Rückblick das zeitgenössische Publikumsverhalten. Der Erfolg, den die »Berliner Abendblätter« beim Publikum anfänglich hatten, wird als Indikator für die Neuartigkeit des publizistischen Konzepts in Anspruch genommen. Das Schwinden des Erfolgs läßt sich dann gleichsetzen mit dem Verlust dieser Neuartigkeit und mithin mit einem Rückfall auf das Niveau der Tagespresse, in welcher der Herausgeber/Redakteur als Persönlichkeit kaum oder gar nicht mehr erkennbar ist. Bis zur Übernahme des Blattes durch Kuhn, so die unausgesprochene These, ist sein Herausgeber Heinrich von Kleist,[4] danach eine unpersönliche Instanz, die in einem publizistischen Niemandsland, das von Verboten (etwa der Theaterberichte) und scharfer Zensuraufsicht eng umgrenzt wird, lustlos vier Oktavseiten pro Tag zusammenflickt.In dieselbe Richtung scheint Kleists »Anzeige« in der Schlußnummer vom 30. März 1811 zu deuten.[5] Das muß freilich nicht viel besagen, denn es könnte eine Rechtfertigung post festum sein. Für das Scheitern des Blattes ausschließlich administrative Restriktionen verantwortlich zu machen, hieße ein Loblied anstimmen auf eine Pressefreiheit, die es auch schon in den Monaten Oktober bis Dezember 1810 nicht gab. Zutreffend ist zwar, daß Kleist gezwungen war, die Konzeption der »Berliner Abendblätter« Ende 1810 neu zu fassen. Es wäre jedoch zu untersuchen – und im folgenden möchte ich hierzu einige Beobachtungen vortragen –, ob dieser Konzeptionswechsel nur defensiv und lediglich auf das bloße Weiterleben der Zeitung angelegt war, oder ob nicht Kleist vielmehr für den ihm verbliebenen – äußerst schmalen – Freiraum tatsächlich ein neues Zeitungskonzept entwickelte und adäquat verwirklichte, wenn auch am Publikumsinteresse vorbei. Es könnte sich herausstellen, daß die Zeitung, analog zu den »Intelligenzblättern« der Zeit, die kommentarlos und ohne redaktionelles Beiwerk Anzeigen druckten, in eine Art politisches Intelligenzblatt, eine Zeitung der Schlagzeilen, umfunktioniert worden ist. Außerdem darf bezweifelt werden, daß Kleist die Nummern des zweiten Quartals ohne Bedacht und allein angetrieben von dem Horror vor weißem Papier und vor Kuhns Regreßforderungen[6] gefüllt hat: er wählte sein Material aus dem Angebot der eingelaufenen Zeitungen aus – wie heute jeder Redakteur aus den Artikeln von Presseagenturen –, kürzte es und arrangierte die Texte. Der zur Verfügung stehende Platz war knapp. Redaktion bedeutete deshalb Akzentuierung, Fokussierung der Aufmerksamkeit.

II

Die bisherige Konzentration auf das erste »Abendblätter«–Quartal hat ihren Grund ganz offensichtlich in einem philologischen Erkenntnisinteresse, das im wesentlichen auf Autorschaft bezogen ist.[7] Dies läßt sich an der älteren, auf die Zuschreibung anonymer Texte konzentrierten Forschung ebenso feststellen wie an neueren Arbeiten, in denen nicht mehr der einzelne Text, sondern die Kontextualisierung, die Struktur des Arrangements in den Vordergrund gerückt ist. In der zweiten Perspektive gerät Kleist als Autor und zugleich als Textarrangeur in den Blick. Nur: Die Aufmerksamkeit für die Komposition des ersten »Abendblätter«–Quartals hat noch nicht dazu geführt, Kleist auch als Journalisten zu exponieren. Wie ich vermute, hängt dieser Umstand mit einem Verdinglichungsphänomen zusammen. Die »Berliner Abendblätter«, die bekanntlich erst seit dem 1925 erstmals erschienenen Faksimile[8] der Forschung vollständig zugänglich sind, werden, gleich einem Roman, als ein gewissermaßen geschlossenes Werk untersucht, aus dem die für die Entstehung des Korpus konstitutive Sukzession der täglichen Ausgaben getilgt ist. Fast unweigerlich entsteht so der Eindruck, als handle es sich, wo von Kleist als Herausgeber und Redakteur die Rede ist, um einen Redakteur im Sinne eines Lektors oder gar um einen Montagekünstler avant la lettre, der autonom über sein Material verfügt.

Einige der Probleme, die sich bei der Lektüre des ersten Quartals der »Berliner Abendblätter« als eines aus Einzeltexten komponierten Gesamtzusammenhangs ergeben, lassen sich anhand der These darlegen, die Jochen Marquardt in einem Aufsatz von 1986 veröffentlicht hat: »So spiegelt sich in auffälliger Weise die Struktur vieler Texte in deren Inhalt und umgekehrt. Die Texte verflechten sich auf diese Weise mit anderen Beiträgen (nicht nur der jeweiligen Nummer) und schließen sich zum organischen Mediengefüge zusammen«.[9] In methodischer Hinsicht radikalisiert diese These die Position Reinhold Steigs, der in seinem voluminösen Buch »Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe« (1901) die »Abendblätter«–Beiträge thematisch gruppiert hatte (Politik, Theater, Kunst etc.). Steig tat dies gleichsam von außen und unter dem leitenden Gedanken, die »Berliner Abendblätter« als frondistisches Kampforgan altpreußischer Konservativer zu propagieren;[10] was sich diesem Schema nicht fügte, ließ Steig unberücksichtigt. Sichtbar machte er jedoch die primär außerliterarische Referenz der Texte, auf die Ereignisse der Zeit und gleichermaßen auf den Kenntnisstand des Publikums, auf dessen Informiertheit, auf kursierende Gerüchte, Ängste und Meinungen. Marquardt hingegen versucht die Zeitung von innen her zu erschließen und erkennt in ihr eine engmaschige, poetischen Mustern der Klassik gehorchende literarische Totalität, eine »funktional motivierte Textverschränkung«.[11] In dieser Optik sind die Wirklichkeitsbezüge der Texte weitgehend gekappt.

Die totalisierende »Abenblätter«–Lektüre, die dem Nachweis der »funktionalen Bezogenheit« der Zeitungsartikel untereinander dient, muß die Auskunft über journalistische, und das heißt außerliterarische, Kontexte schuldig bleiben, da durch diese Kontexte Nichtkalkulierbares ins Spiel kommt, das sich einer Integration auf literarischer Ebene sperrt. In Marquardts Aufsatz wird die politische Tagesberichterstattung denn auch nicht erwähnt, man könnte auch sagen, sie wird wie ein mißliebiger Fremdkörper ausgeschlossen, den die Interpretation nicht zu resorbieren vermag. Politische Ereignisse sind nur begrenzt vorhersehbar, noch weniger ist es das Angebot an publikationstauglicher Information. Derlei Unwägbarkeiten begegnet das Medium Tageszeitung durch die Textsorte des Kommentars. Kommentare kompensieren, was an eintreffenden Informationen unerwartet, in einem emphatischen Sinne neu ist. Damit schaffen sie, was Marquardts Ansatz eine gewisse Berechtigung gibt, einen textuellen Binnenraum. Erforderlich ist jedoch, und diesen Umstand läßt die rein textkoordinierende Lektüre außer acht, daß der Kommentar entweder umgehend geliefert werden kann – was bei lokalen Ereignissen kaum Probleme bereitet[12] – oder aber, sofern er zeitlich verzögert erscheint, vom Leser auf das kommentierte Ereignis zurückbeziehbar ist. Letzteres sollte mit Blick auf das Publikum der »Berliner Abendblätter« Anlaß zur Skepsis sein. Die Möglichkeit, die »Abendblätter« zugleich retrospektiv wie prospektiv zu lesen, haben wir erst seit dem Ende der Zeitung. Für die zeitgenössische Lektüre ist hingegen mit engen zeitlichen Intervallen zu rechnen. Etwaige Kontexte, sofern man sie nicht wie Steig qua Abstraktion herstellen will, sind rekonstruierbar allenfalls im Umfang jeweils weniger Ausgaben – die »Berliner Abendblätter«, um dies zu wiederholen, waren eine Tageszeitung, kein Roman.

Das folgende Beispiel möge verdeutlichen, wie wichtig die Berücksichtigung außerliterarischer Kontexte für ein historisches Verständnis von »Abendblätter«–Artikeln ist. Am 13. Oktober reportiert Kleists Zeitung unter der Überschrift »Miscellen« die Zusage des französischen Armeekommandanten in Eisenach, »daß künftig alle Pulverwägen vorher untersucht werden«[13] sollen, und am 16. November heißt es im 41. Blatt, der französische Botschafter habe von Napoleon »120 000 Fr. zur Vertheilung unter die verunglückten Eisenacher erhalten«[14]. Beide Meldungen dürften für den heutigen Leser rätselhaft sein, ja fraglich ist bereits, ob sie überhaupt miteinander im Zusammenhang stehen. Sichtbar wird ihre Verbindung durch einen Bericht vom 6. Februar 1811; erst hier ist davon die Rede, daß Eisenach »durch die Pulver–Entzündung am 1. Sept. v. J. ungemein gelitten«[15] habe. Weshalb sollten diese drei Nachrichten mit anderen Artikeln verschränkt sein? Der zeitgenössische Leser benötigte zu ihrem Verständnis keine Deutungshilfe. Kleist brauchte nicht zu explizieren, worum es ging. Die »Vossische Zeitung« etwa hatte schon am 13. September folgenden Bericht gedruckt: »Ein schreckl. Unglück, dem gleich, wovon die Stadt Leiden am 12ten Januar 1807 heimgesucht wurde, hat die Stadt Eisenach betroffen. Am 1sten September, Abends gegen 9 Uhr, führte ein Kommando Franz. Artillerie mehrere Pulverwagen, die von Magdeburg kamen, […] durch Eisenach. Plötzlich fing das Pulver Feuer. Eine fürchterliche Explosion erfolgte. Viele Pferde und noch mehrere Menschen wurden dadurch getödtet oder verstümmelt, viele Häuser zertrümmert oder beschädigt, und eine Feuersbrunst entstand, die einen beträchtlichen Theil der Stadt einäscherte«.[16] Über weitere Einzelheiten berichtete die »Vossische Zeitung« in ihren Ausgaben vom 15. und 22. September.

III

Der weitaus größte Teil der politischen Berichterstattung in den »Berliner Abendblättern« ist nicht oder allenfalls von ferne in einen wie auch immer gearteten »organischen« Zusammenhang mit direkt oder indirekt kommentierenden Artikeln zu bringen. Was man stattdessen antrifft, sind Serien fortlaufender Berichte, am prominentesten über den Krieg auf der Iberischen Halbinsel, den Gesundheitszustand des englischen Königs und über den russisch–türkischen Krieg, aber auch über die Schwangerschaft der französischen Kaiserin oder über die Reise des schwedischen Kronprinzen nach Stockholm. Innerhalb dieser Serien, die man als Chroniken von futurisch offenen Ereignisketten bezeichnen könnte, kommentieren sich die Meldungen durch ihr jeweiliges Nacheinander gewissermaßen durch sich selbst. Das wohl berühmteste, da durch Zensurakten dokumentierte Beispiel ist der Artikel über französische Verluste in Spanien:[17] »Laut Particularberichten aus Paris soll das Armee–Corps des Gen. Reynier, an den Portugiesischen Gränzen, von einer großen Übermacht und mit ansehnlichem Verlust zurückgedrängt worden sein. Der Herzog von Abrantes soll dieses Corps zu spät oder gar nicht unterstützt haben, worauf er in Ungnade gefallen und zur Verantwortung gezogen sein soll«. Als Quelle werden die »Gemeinnützigen Schweizerischen Nachrichten« genannt; ungewöhnlich für einen nachgestellten Quellenverweis ist dieser mit dem Datum des Erstdrucks versehen: »19. Oct.«. Unmittelbar im Anschluß daran folgt eine Meldung entgegengesetzten, der offiziellen Lesart entsprechenden Inhalts: »Der Moniteur vom 24. Oct. enthält zwei Briefe vom Div. Gen. Drouet und vom General–Intendanten der Portug. Armee, Lambert, über die glücklichen Fortschritte der französischen Truppen in Portugal.« In der folgenden Ausgabe der »Abendblätter«, vom 5. November, einem Montag, heißt es dann in einem durch seine Gewundenheit verräterischen Dementi: »Ein französischer Courier, der vergangenen Donnerstag in Berlin angekommen, soll, dem Vernehmen nach dem Gerücht, als ob die französischen Waffen in Portugal Nachtheile erlitten hätten, widersprochen, und im Gegentheil von Siegsnachrichten erzählt haben, die bei seinem Abgang aus Paris in dieser Stadt angekommen wären.«[18] Einen Monat später sollte der inkriminierte Artikel über die französischen Verluste[19] in den »Berliner Abendblättern« (5. 12. 1810, Bl. 57) ein Nachspiel haben, das als solches freilich nur von Insidern dechiffriert werden konnte.[20]

Ein weiteres Beispiel für die Seriellität der politischen Berichterstattung ist mit der sächsischen Stadt Torgau verknüpft. Eröffnet wird die Serie am 23. Oktober mit der Meldung, »daß nicht Wittenberg, sondern Torgau eine sächsische Festung werden soll«.[21] Es folgt die, wie ich behaupten möchte, nicht nur ihres Kuriositätswerts willen mitgeteilte »Miscelle« vom 12. November: »Ein Soldat, der in den Gefängnissen zu Torgau in Ketten lag, ist halb von den Ratten aufgefressen, gefunden worden. Dieser Unglückliche […] hat sich gegen den Angrif dieser Thiere nicht vertheidigen können«.[22] Das 58. Blatt (6. Dezember) bringt die Nachricht einer »Rindviehseuche« im »Torgauischen Amte in Sachsen«.[23] Drei Wochen später, am 28. Dezember, wird anläßlich einer Notiz aus nicht zu ermittelnder Quelle (sie beginnt mit der Beglaubigung: »Öffentliche Blätter erzählen […]«) an die Miszelle vom 12. November erinnert: »Diese Geschichte ist wahrscheinlich ein Seitenstück zu den fabelhaften Menschenfresser–Ratzen in Torgau«[24]; man wird wohl annehmen müssen, daß diese »Geschichte« dem Publikum nicht vor allem aufgrund des »Abendblätter«–Abdrucks erinnerlich war. Ab Februar 1811 rücken die Planungen zum Bau der Festung wieder in den Vordergrund. Dreimal wird über ihren Fortgang berichtet, am 9. und 20. Februar sowie am 1. März.[25] Die kontinuierliche Berichterstattung bildet durch ihre Seriellität eine eigene Kohärenz aus, welche innerhalb der »Berliner Abendblätter« keiner weiteren Abstützung bedarf – und auch keine findet. Relevanz wächst diesen Nachrichten nicht kraft ihrer Plazierung innerhalb der Zeitung zu, sie wird vielmehr von außen gestiftet. Die sieben auf Torgau bezogenen Nachrichten konnte Kleist nicht deshalb über einen Zeitraum von annähernd viereinhalb Monaten verteilen, weil er mit dem Gedächtnis seiner Leser gerechnet hat, sondern weil sowohl die Rattengeschichte als auch die Pläne für den Festungsbau beim Berliner Publikum zum Tagesgespräch gehörten und deshalb während dieses Zeitraums jederzeit ansprechbar waren.

IV

Der Einzug der politischen Berichterstattung in die »Berliner Abendblätter« ist keine Verlegenheitslösung, um der Zeitung ein Weiterleben nach dem Rückgang des Publikumsinteresses zu sichern. Vielmehr gehörte ein Nachrichtenteil von Anfang an zum Profil des Blattes. Unübersehbar ist freilich, daß der ihm zur Verfügung stehende Spielraum von der Zensur zunehmend beschnitten wurde. Die Imperative, denen die Zensur gehorchte,[26] waren vorgegeben durch die Reorganisation des preußischen Staates, die preußische Außenpolitik innerhalb des Napoleonischen Systems und späterhin auch durch das publizistische Verlautbarungsmonopol, das den beiden großen Berliner Blättern, der »Vossischen« und der »Spenerschen Zeitung«, verliehen worden war. Die Etablierung von Kleists Projekt, das ohne das für politische Zeitungen unabdingbare Privileg auszukommen hatte, mußte deshalb strategisch angelegt sein. Das erste Zeugnis, aus dem wir etwas über die bevorstehende Gründung des Blattes erfahren, erweckt den Eindruck, als ob die »Berliner Abendblätter« keine Zeitung im eigentlichen Sinne, sondern eine apolitische Unterhaltungsgazette hätten werden sollen. »Kleist«, schreibt Achim von Arnim am 3. September 1810 an die Brüder Grimm, »giebt jetzt ein Abendblatt im Hitzigschen Verlage heraus, wozu Ihr einige Casseler Notizen, Späße u. dgl. liefern müßt, es soll sich vorläufig gar nicht auf Belehrung oder Dichtungen einlassen, sondern mit allerlei Amüsanten die Leser ins Garn locken; lächerliche Briefe u. dgl. sind ein besondrer Fund«.[27] Den Unterhaltungscharakter betont auch die erste Anzeige, mit der in der »Vossischen Zeitung« (25. September) für das neue Unternehmen geworben wurde; die von Hitzig verlegte Zeitung, heißt es darin in einer hintersinnigen Wendung, werde ein Blatt sein, »welches das Publikum, in sofern dergleichen überhaupt ausführbar ist, auf eine vernünftige Art unterhält«.[28] Bereits im 4. Blatt, vom 4. Oktober, relativiert Kleist die programmatisch verkündete Unterhaltungsintention: »Die Polizeilichen Notizen […]«, schreibt der Herausgeber, »haben nicht bloß den Zweck, das Publikum zu unterhalten, und den natürlichen Wunsch, von den Tagesbegebenheiten authentisch unterrichtet zu werden [von »Unterrichtung« war bis dato nirgends die Rede], zu befriedigen. Der Zweck ist zugleich, die oft ganz entstellten Erzählungen über an sich gegründete Thatsachen und Ereignisse zu berichtigen […]«.[29] An diese Verlautbarung anknüpfend liest man dann einen Tag später im Avertissement »An das Publikum« die durch gesperrten Druck hervorgehobene Versicherung, »*daß bloß das, was dieses Blatt aus Berlin meldet, das Neueste und das Wahrhafteste sei.*«[30]

Schrittweise, doch zügig haben die »Berliner Abendblätter« den Anspruch angemeldet, als einzige Zeitung aktuell und authentisch aus und über Berlin zu berichten. Sie reklamieren damit für sich das publizistische Terrain zwischen der »Vossischen« und der »Spenerschen Zeitung«, die auswärtige Nachrichten sowie innenpolitische Mitteilungen und Verlautbarungen druckten, und, auf der anderen Seite, den Intelligenzblättern, die zwar auf das Lokale bezogen waren, dies aber nur in Form von Anzeigen zu den Lesern brachten. In zeitgenössischen Presseberichten über Kleists »Abendblätter« ist anfänglich ihr selbstbewußt verkündeter Anspruch auch dokumentiert. So heißt es etwa im ortsansässigen Journal »Der Freimüthige, oder Berlinisches Unterhaltungsblatt für gebildete, unbefangene Leser« vom 22. Oktober 1810, die »Berliner Abendblätter« seien eine »neue[…] Zeitschrift, die sich lediglich mit Berlin beschäftigt und für Berlin geschrieben ist«.[31] Daß sich die Zeitung »lediglich mit Berlin beschäftigt«, kann bereits für die erste Nummer, in der sich, nach dem Aufmacher »Gebet des Zoroaster«, der Beginn des »Fragments eines Schreibens aus Paris« findet, bestenfalls im übertragenen Sinne gelten – sofern man etwa von den Pariser Verhältnissen auf die im damaligen Berlin grassierende und verschiedentlich glossierte Bauwut schließen wollte. Dem widerspricht auch nicht, daß in den nächsten Wochen die das Ausland betreffenden Meldungen tatsächlich in den Hintergrund treten. Eine regelmäßige und kontinuierlich ausgebaute Berichterstattung über auswärtige Ereignisse (Miszellen, Tagesbegebenheiten, Korrespondenznen und Notizen) setzt am 26. Oktober ein – einen Tag vor der Proklamation von Hardenbergs Finanzedikt. Am 21. November, exakt ein Jahr vor Kleists Tod, hat die Rubrik »Bülletin der öffentlichen Blätter« Premiere, die das Profil der »Berliner Abendblätter« während des zweiten Quartals entscheidend prägen wird.

V

Mit Beginn des zweiten Quartals ist die einheimische Berichterstattung fast völlig zum Erliegen gekommen, ja selbst der Name Berlin wird nur noch höchst vereinzelt erwähnt. Mit lokalem Bezug sind die polizeilichen Nachrichten in den Nummern 1, 13, 15 und 21, die Stellungnahme des französischen Konsistoriums auf die »Anfrage« vom 24. Dezember in Nr. 3, der Aufsatz über Zins– und Kapitalzahlungen in Preußen in Nr. 14 sowie, in Nr. 29, die Gegendarstellung der Universität Berlin zu einem Bericht über eine angebliche Studentenschlägerei.

Der sich in der Konzeption niederschlagende Kurswechsel der »Berliner Abendblätter« findet seine programmatische Formulierung in der »Ankündigung«, die erstmals im »Freimüthigen« vom 20. Dezember publiziert worden ist. Kleists Zeitung, heißt es u. a. darin, werde »in zwei Punkten […] folgende wesentliche Ausdehnung erhalten«; erstens werde, wozu es nicht kam, die Zeitung »in wöchentlichen Darstellungen, specielle Mittheilungen über alle, das Gemeinwohl und die öffentliche Sicherheit betreffende interessante Ereignisse, in dem ganzen Umfang der Monarchie, enthalten«, und zweitens »[w]ird *das Bülletin der öffentlichen Blätter* ausführlicher, als es bisher geschehen ist, einen Auszug [!] der wichtigsten, neu angekommenen, officiellen Nachrichten des Auslandes communiciren, und in so fern, da das Blatt täglich erscheint und der Abgang der Posten zu seiner täglichen Versendung benutzt werden kann, eine Art von Vorläufer der Zeitungen [!] werden«.[32] Der zweite Punkt, und das ist signifikant, hat in der Anzeige, wie sie in der »Vossischen« und der »Spenerschen Zeitung« am 3. bzw. am 1. Januar erschienen ist, einen anderen Wortlaut: »Außerdem wird in *dem Bülletin der öffentlichen Blätter* in derselben Art, als es bisher geschehen, ein Auszug der wichtigsten Nachrichten des Auslandes mitgetheilt werden«.[33]

Als alleiniges, die Lektüre anderer Zeitungen überflüssig machendes Organ waren die »Berliner Abendblätter« nie konzipiert. Der ausführlichen Berichterstattung der offiziösen, unter Privileg erscheinenden Blätter konnten sie, schon ihres Umfangs wegen, nichts Gleichwertiges entgegensetzen. In ihrem ersten Quartal war ihre Funktion, die anderen Zeitungen kritisch–polemisch zu begleiten. Im zweiten Quartal sollte diese Gleichzeitigkeit in ein Nacheinander umgewandelt werden (»Vorläufer der Zeitungen«). Kleist sah vor, daß die »Berliner Abendblätter« die Schlagzeile brachten und die nachhinkenden Zeitungen die Information dazu, daß sie das Publikum auf Artikel vorbereiteten, aus dem nach Berlin gelangten Nachrichtenangebot das Wesentliche herausschälten, Aktualität diktierten und so die anderen, vor allem die offiziösen Zeitungen unter Zugzwang setzten.

Liest man die »Berliner Abendblätter« und etwa die dreimal pro Woche erscheinende »Vossische Zeitung« während der ersten drei Monate des Jahres 1811 parallel, so scheint auf den ersten Blick Kleists Konzept aufgegangen zu sein. Fast alle Meldungen der »Abendblätter« kehren in der »Vossischen Zeitung« wieder, mitunter mit identischem Wortlaut, zumeist bei weitem ausführlicher – es trifft durchaus nicht zu, wie Aretz behauptet hat, daß das zweite Quartal »nur noch inaktuelle Nachrichten«[34] gebracht hat. Daß Kleists Zeitung gescheitert ist, läßt sich nicht vom Inhalt her begründen. Ursachen für das Scheitern des Konzepts waren vielmehr ein schleppend langsamer Informationstransfer und, damit zusammenhängend, eine nur schwach entwickelte Aktualitätserwartung in der Rezeption. An jenen Tagen, an denen die »Berliner Abendblätter« und die »Vossische Zeitung« gleichzeitig ausgegeben worden sind, bringen beide fast immer dieselben Informationen in unterschiedlicher Ausführlichkeit. Beide Zeitungen hatten sich weitgehend derselben Quellen bedient. Wenn Nachrichten, etwa vom Krieg in Spanien und Portugal, ca. zwei Monate unterwegs waren – über die Stationen: französische Zensur, Zeitungserstdruck, Posttransport –, ehe sie endlich Berlin erreichten und dort zum Nachdruck vorlagen, so kam es dem Publikum auf einen Tag früher oder später auch nicht mehr an.