Amelia Valtolina

Die Scharaden Heinrich von Kleists

Ein Text am Spieltisch und das Rätsel in der Rolle des Croupiers: die Wörter stürzen sich in das Ungewisse einer Bedeutung, und wenn’s am schönsten ist, zertrümmert das rien ne va plus unerbittlich die Illusion der Wahrheit. Aber, les jeux sont faits, der Text hat mittlerweile gesetzt, und was hat es schon zu besagen, wenn das Wahre weiterhin verborgen bleibt? »Es ist ein Wurf, wie mit dem Würfel; aber es gibt nichts anderes.«[1]

Daß Kleist seinen Beruf als Schriftsteller sehr ernst nahm, bedeutet noch lange nicht, daß auch seine Schriften sich ernst nehmen müssen, ganz im Gegenteil. Man könnte sogar sagen, daß gerade der Ernst der Themen über die Autorintention hinaus eine rhetorische Struktur schafft, die auf dem Sockel des Pathos die Ironie errichtet. Oder, wie im Falle der in den »Berliner Abendblättern« veröffentlichten Anekdoten, auf dem Rätsel die Rätselkunde.

Denn die Kleistschen Anekdoten sind im Grunde Scharaden. Damit soll ihre ursprüngliche Zuordnung durchaus nicht in Frage gestellt werden.[2] Die Bezeichnung »Scharade« will höchstens ein rhetorisches Gewebe aufzeigen, das die unmittelbare Referentialität der »unerhörten Begebenheit« zunichte macht und sie in einer Hyperbel des Stils und seiner hermeneutischen Latenzen ausbreitet. Denn das Glücksspiel, der Würfelwurf, schließt die Annahme eines Kalküls, einer Logik des puren Stils, nicht aus.

In einem Brief an Ernst von Pfuel schreibt Kleist:»Ich kann ein Differentiale finden, und einen Vers machen; sind das nicht die beiden Enden der menschlichen Fähigkeit?«.[3] (???) Aber handelt es sich wirklich um »Endpunkte«, um »Schlußpunkte«? Soll dieser Satz tatsächlich als beiläufige Wiederholung eines Postulats der Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts gelesen werden, daß nämlich Mathematik und Poesie einander entsprechen?[4] Und wenn man die Würfel noch einmal werfen würde? Dann würde das andere Gesicht von »Ende« sich zeigen, seine Bedeutung von »Zweck, Absicht«, und dann scheint der von seiner herkömmlichen Bedeutung gelöste Satzsinn dem Vers einen bemerkenswert umstürzlerischen erkennstnistheoretischen Wert zu verleihen. So gelesen vereinigt Kleists Behauptung die Differentialrechnung und die dichterische Fähigkeit in einem analogen Verfahren negativer Erkenntnis, die eine wird der mathematischen Funktion zugeschrieben, die andere der Sprache. »Vers«, aus dem lateinischen versus, kommt ja von vertere (»umdrehen«, »wenden«, aber auch »umstürzen«, »umwerfen«). Mit Zustimmung der Etymologie ließe sich also behaupten, daß die Poesie, also die Verskunst, wie die Differentialrechnung zu einem Verständnis überleitet, das auf dem Ausschluß basiert, der Abweichung, dem Unterschied. Nicht zufällig kann in der deutschen Sprache das Verb »begreifen« mit »sich von etwas einen Vers machen« umschrieben werden. Daß »begreifen« und »Griffel« sprachgeschichtlich aus derselben Wurzel stammen, darüber hat eine von Kleists Anekdoten noch einiges zu erzählen[5].

Denn diese Anekdoten beruhen jeweils auf einem schon schriftlich fixierten plot – Kleist schrieb bloß hier und dort aufgelesene Anekdoten um –, ähnlich einem Palimpsest, wo es dem Stil zukommt, den Subtext zu verändern in einem Figurenspiel, das nichts ist als die Allegorie einer Lektüre eben dieses Subtextes, wobei der Text »die Autorität seines rhetorischen Modus anerkennt und gleichzeitig abstreitet«.[6] Er wird so zu einer Scharade, in der das Moment der Auflösung – der Würfelwurf – die Oberhand gewinnt über eine hypothetische Bedeutung – den Einsatz –, die endgültig festgelegt werden muß.

Im Licht ihrer stilistischen Strategie erweisen sich diese Anekdoten, die gewöhnlich an den Rand der Werke Kleists gestellt werden, als zentral in den Überlegungen des Dichters zu Kunst und Poetik – wobei die gekonnt verborgene Form eine Vorrangstellung einnimmt, die das ihr zugrunde liegende Paradox ist[7] – und erscheinen hauptsächlich als winzige Kapitel eines Diskurses über den Stil, der an den Grundfesten der epistemologischen Kategorien rüttelt und die Verläßlichkeit einer wie auch immer gearteten historischen Tradierung in Zweifel zieht. Anders ausgedrückt: der den Griffel Klios – der Muse der Geschichte, deren Attribute Griffel und Schriftrolle sind – durch den Wagemut des Stils ersetzt.

Der Kontext, in dem diese Scharaden erarbeitet wurden, hätte denn auch nicht geeigneter sein können. Kleists journalistische Arbeit an den »Berliner Abendblättern« war bekanntlich ein täglicher Kampf mit der Zensur mit den Waffen der Rhetorik, der Verkleidung, des Verschlüsselt–Schreibens, also ständige Stilübungen. Der Redakteur Kleist war daher in erster Linie ein großer Stilist – ein abgebrühter Falschspieler im Würfelspiel. Im Bereich dieser betrügerischen Tätigkeit fanden eine typisch Kleistsche Form auch die Anekdoten, die der Autor zur Unterhaltung zu veröffentlichen beabsichtigte, auf einer Linie mit seiner Intention, eine volksnahe Zeitung zu schaffen. Kleist selbst verweist auf diese Absicht in einem Brief an den Fürsten Lichnowsky, um diese einflußreiche Persönlichkeit zu besänftigen, die an der Veröffentlichung einiger Anekdoten in den »Berliner Abendblättern« Anstoß genommen hatte. Kleist schreibt, das Publikum zeige eine große Begeisterung für diese Geschichten, womit er deren volkstümlichen Charakter hervorhebt, gleich darauf jedoch festhält, »die Geschichte könnte, so wie ich sie aufgeschrieben, in Erz gegraben werden«[8] – eine Bemerkung, die das wesentlich stilistische Interesse des Autors hervorhebt. Übrigens ist ja auch der Nachdruck, mit dem auf den volkstümlichen Charakter hingewiesen wird, nicht so naiv, wie es scheinen mag, da Kleist sich für seine Zwecke mit Vorliebe volkstümlicher Formen bediente – man denke etwa daran, welch dünne spekulative Fäden er im Aufsatz »Über das Marionettentheater« an eine so einfache Figur wie die Marionette zu hängen vermochte. Dies um so mehr, als die Anekdote, mit ihrem Privileg der Respektlosigkeit in der Erzählung berühmter Vorfälle, unbekannter Geschichten über bedeutende Persönlichkeiten oder deren Fehler und Idiosynkrasien, dem Autor den idealen Vorwand bot, um seine eigenen Schlachten zu schlagen, auf dem Feld der Politik, insbesondere aber auf dem Feld der Literatur.

Doch nicht nur das. Das Fesselnde an diesen Anekdoten ist der rätselhafte Verlauf des Textes, eine kreisförmige Bewegung, in der sich die Bedeutungen in einem fortwährenden Würfelwurf in Rätsel zersplittern und damit jegliches a priori zerstören. Überdies scheint der gewollt anonyme Charakter der Anekdoten – Kleist veröffentlichte sie, ohne seinen Namen zu nennen – die anonyme auctoritas der Geschichte nachzuäffen, nur um die Unhaltbarkeit der Kategorien zu zeigen, allen voran die der Wahrheit und der göttlichen Gerechtigkeit, die ihre wahre Natur, ihren Charakter der reinen Ideologie und Mystifizierung, verbergen.

Meisterhaft geschieht das in der Anekdote »Der Griffel Gottes«, in der sich aus dem Zusammenbrechen jeden Monuments aere perennius von den verschiedenen Bedeutungen des Wortes »Griffel« allein der Griffel des Stils rettet.

»In Polen war eine Gräfinn von P...., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution ertheilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: *sie ist gerichtet!* – Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existirt noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen.«[9]

Die grausame Protagonistin ist eine Gräfin – aus dem Griechischen graphéus (Schreiber), auf das auch das Wort »Griffel« zurückgeht –, eine brutale Domina, die ihre Lebensgeschichte voller Gewalttätigkeiten ins Fleisch ihrer Untertanen schreibt (»bis auf das Blut«). Bei einer ersten Lektüre scheint die Anekdote die Macht der Gerechtigkeit Gottes und die Vergänglichkeit menschlichen Ruhms zu bezeugen Doch wenn man erneut die Würfel wirft ... Denn: Handelt es sich bei dem Vermögen, das die Frau dem Kloster hinterläßt, tatsächlich um weltliche Besitztümer? Verleiht nicht der Sinn des Satzes (»wofür ihr das Kloster [...]«), der den vom Kloster vorgenommenen Schreibakt (die Inschrift auf dem Leichenstein) dem Erbe der Adligen zur Seite stellt, dem »Vermögen« die Bedeutung von »Kraft, Fähigkeit«? Im Sinne des ursprünglichen Semems (graphéus) hinterläßt die Gräfin dem Kloster über ihren materiellen Besitz hinaus eine Fähigkeit, die bezeichnet wird mit Ausdrücken aus dem Bereich der Schrift. Ein Griffel, der ins Blut der Untertanen getaucht worden war und nun mit gleicher Kraft – auf die das Verb »setzen« und das Attribut »aus Erz gegossen« hinweisen – zum ewigen Ruhm der Frau ein Denkmal zu errichten sich anschickt. Der Griffel der Macht verwandelt sich also in den Griffel der Geschichte, während der lapidare Stil Grausamkeit für Heiligkeit ausgibt. Nun aber werden Klio und der Begriff der »historischen Tatsache« von der Ausdrucksform der Lüge geziehen: Nicht von ungefähr spricht die Inschrift auf dem Leichenstein nicht von einem Ereignis, sondern von einem Umstand – Um–Stand um was? –, und nicht von ungefähr wird die Erwähnung im Plusquamperfekt als etwas Abgeschlossenes dargestellt (»Erwähnung geschehen war«). Was geschieht und so Eingang in die Geschichte findet, ist die Geschichte selbst. Reine Ideologie. Es ist die Inschrift, die mit religiösem Segen auf dem Stein »geschieht« (»geschehen war«), während der Text nochmals die Würfel wirft und mit dem Wort »geschehen« eine Assoziation aufwirft, die von »Geschehen« über »Geschichte« auf einen bildlichen Ausdruck hinweist:den »Griffel der Geschichte«. Der Griffel der Geschichte als Verwandlung des Griffels der Macht läßt auf diese Art den Ruhm der Gräfin mit einem Leichenstein entstehen, der zugleich Grabmal der Wahrheit und Denkmal der Ideologie ist.

Hier geschieht nun eine weitere Metamorphose des Griffels, der in Gestalt eines Blitzes die schon schriftlich festgehaltene Geschichte dekonstruiert, und zwar mit einer wahrhaft meisterlichen stilistischen Scharade. Der Blitzschlag, diese sprichwörtliche Ikone des Witzes in den theoretischen Abhandlungen des 18. Jahrhunderts,[10] bedeutet mehr als eine scharfsinnige Umkehrung, einen Geistesblitz. Dieser »Griffel Gottes«, der die Bronze schmilzt – »und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: *sie ist gerichtet!*« –, ist die recht ungöttliche Vermummung eines Griffels des Stils: mit Hilfe eines versteckten Zitats aus Schillers »Fiesko«[11] entweiht dieser Griffel das Denkmal mit einer Scharade, die den Begriff der göttlichen Gerechtigkeit profaniert, ohne auch nur im geringsten die Wahrheit durchscheinen zu lassen. Denn:»Sie ist gerichtet!« sind die bekannten Worte des Mephisto am Ende von »Faust I«, dessen Gestalt in einem ironischen Rollenwechsel hier die Gestalt des im Titel der Anekdote erwähnten Gottes überlagert, wobei die Bedeutung der scheinbaren Verdammung problematischer wird: Wer spricht das Urteil aus, Gott oder Mephisto?

Und während Kleists Stil den monumentalen Goethe angreift – wie übrigens in anderen Anekdoten auch, von »Der neuere (glücklichere) Werther«[12] bis zu der verschlüsselten, lange nicht veröffentlichten, in der Kleist gegen Goethe wettert und ihm mit ausgewogenen Anspielungen die Schuld für den Mißerfolg der Weimarer Aufführung des »Zerbrochnen Krugs« zur Last legt[13] –, straft der Stil das scheinbare happy end und bereitet durch den Gedankenstrich auf den letzten Würfelwurf vor, nämlich die Schlußbemerkung, in der die Anekdote auf sich selbst zurückgeworfen wird und durch die an die Schriftgelehrten – Experten der Schrift oder der Heiligen Schrift? – gerichtete Aufforderung, die Schrift zu entziffern, den Leser als Experten der Schriften einlädt, das Spiel mit den Stilen, dem er unwissentlich beigewohnt hat, von einem neuen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Denn vor seinen Augen ist die Anekdote zu einem Leichenstein geworden und die Scharade zu einem Schauspiel des Stils, dem er als erster zugesehen hat. Der neuerliche Würfelwurf bringt also die Anekdote auf ihren Pfad zurück, und während die Lektüre zum Text zurückkehrt, erscheint die Analogie zwischen dem Griffel Gottes, der die auf dem Stein erwähnte Geschichte umstürzt, und dem Stil der Anekdote, der die »unerhörte Begebenheit« wanken macht und die Signifikate im Rätselspiel der Signifikanten auflöst. Jeder Lösung zum Trotz.

Einem ähnlichen Gesetz der Zerlegung folgt auch die Anekdote über den Kapuziner, der einen Schwaben zum Richtplatz begleitet:

»Ein Kapuziner begleitete einen Schwaben bei sehr regnigtem Wetter zum Galgen. Der Verurtheilte klagte unterwegs mehrmal zu Gott, daß er, bei so schlechtem und unfreundlichem Wetter, einen so sauren Gang thun müsse. Der Kapuziner wollte ihn christlich trösten und sagte: du Lump, was klagst du viel, du brauchst doch bloß hinzugehen, ich aber muß, bei diesem Wetter, wieder zurück, denselben Weg. – Wer es empfunden hat, wie öde Einem, auch selbst an einem schönen Tage, der Rückweg vom Richtplatz wird, der wird den Ausspruch des Kapuziners nicht so dumm finden.«[14]

Und wieder setzt der – auch hier durch einen Gedankenstrich angezeigte – Würfelwurf eine Rückwendung des Textes auf sich selbst in Bewegung, was – jenseits des makabren Humors und des Witzes, mit dem man die Anekdote interpretieren wollte – den Begriff des christlichen Trostes stört. Denn während auf einer unmittelbaren Bezugsebene die Anekdote dem Weg des Schwaben folgt – nicht so sehr ein »Gang« als vielmehr ein Hingehen – und zu Gott klagt, kehrt der Text, wie der Kapuziner auch, zurück und desemantisiert den vorgeblichen »Trost« des Glaubens vor dem Hintergrund einer Trostlosigkeit, die auf immer ein »Rückweg vom Richtplatz« sein wird, eine eklatante, trauervolle Ferne.

Auch aus den Scharaden des Stils in der kurzen Anekdote mit dem Titel »Helgoländisches Gottesgericht« geht die Gerechtigkeit Gottes nicht besser hervor:

»Die Helgoländer haben eine sonderbare Art, ihre Streitigkeiten in zweifelhaften Fällen, zu entscheiden; und wie die Partheyen, bei anderen Völkerschaften, zu den Waffen greifen, und das Blut entscheiden lassen, so werfen sie ihre Lootsenzeichen (Medaillen von Messing, mit einer Nummer, die einem jeden von ihnen zugehört) in einem Huth, und lassen durch einen Schiedsrichter, Eine derselben herausziehn. Der Eigenthümer der Nummer bekommt alsdann Recht.«[15]

Dem Gottesurteil mittels Blut und Waffe stellt der Stil der Anekdote durch ein neuerliches Aufwerfen der Signifikate eine ironische Alternative zur Seite: das Gericht Gottes tritt hier in Form eines Hutes in Erscheinung, eine in der Luft hängende Scharade einer unwahrscheinlichen Ob–Hut, die an die schützende Hand Gottes gemahnt. Der Urteilsspruch wird seinerseits unklaren Lotsenzeichen anvertraut, Trugbildern eines Orakels (Los). So willkürlich erscheinen diese Lotsenzeichen, daß sie einer (in Klammern gesetzten) Erklärung bedürfen. Doch umsonst. Denn die Anekdote geht ihren Gang mit einer Formulierung, die jede Hypothese einer festgesetzten Bedeutung abweist. Welche Funktion hat denn ein Schiedsrichter – einer der unterscheidet und richtet – bei der Ziehung eines Loses? Oder besser: bei der Festetzung dessen, was an sich, als Zeichen, einen arbiträren Wert hat? Und welchen Wert haben dann alle Erklärungen, wenn sogar das göttliche Urteil von einer eingeklammerten Parenthese abhängt?

Mit noch halsbrecherischem Wagemut wird das Dreigestirn Gerechtigkeit – Geschichte – Wahrheit in der Anekdote über »die Baxer« aufs Spiel gesetzt:

»Zwei berühmte Englische Baxer, der Eine aus Portsmouth gebürtig, der Andere aus Plymouth, die seit vielen Jahren von einander gehört hatten, ohne sich zu sehen, beschlossen, da sie in London zusammentrafen, zur Entscheidung der Frage, wem von ihnen der Siegerruhm gebühre, einen öffentlichen Wettkampf zu halten. Demnach stellten sich beide, im Angesicht des Volks, mit geballten Fäusten, im Garten einer Kneipe, gegeneinander; und als der Plymouther den Portsmouther, in wenig Augenblicken, dergestalt auf die Brust traf, daß er Blut spie, rief dieser, indem er sich dem Mund abwischte: brav! – Als aber bald darauf, da sie sich wieder gestellt hatten, der Porthsmouther den Plymouther, mit der Faust der geballten Rechten, dergestalt auf den Leib traf, daß dieser, indem er die Augen verkehrte, umfiel, rief der Letztere: das ist auch nicht übel – ! Worauf das Volk, das im Kreise herumstand, laut aufjauchzte, und, während der Plymouther, der an den Gedärmen verletzt worden war, todt weggetragen ward, dem Portsmouther den Siegsruhm zuerkannte. – Der Porthsmouther soll aber auch Tags darauf am Blutsturz gestorben sein.«[16]

Die zwei Boxer, deren hier mit einer topographischen Angabe von vielsagender metaphorischer Prägnanz Erwähnung geschieht, entpuppen sich, dank des gemeinsamen Semes »mouth« (Mund), als zwei Seiten eines einzigen Signifikanten, der angetreten ist, um für das Signifikat, den Siegerruhm, zu kämpfen. Aber während die Ausdrucksform auf der Spekularität zwischen den beiden Kämpfern besteht, läßt das rhetorische Gewebe eine Definition von Ruhm und Gerechtigkeit im Ring der Anekdote erscheinen, die der letzte Würfelwurf, mit dem üblichen Neuansatz der Lektüre (auch hier durch einen Gedankenstrich gekennzeichnet) ganz entschieden k. o. schlägt. Der scheinabre Ausweg aus dem Dilemma – das hier durch den Ausdruck »Kneipe«, der eigentlich »Klemme«, also »enger, bedrückender Raum« bedeutet, suggeriert wird – mit der folgenden Ausrufung des Sieges des Portsmouthers ist nichts als ein Täuschungsmanöver des Textes. Es sollte nämlich nicht übersehen werden, daß im Laufe dieses Kampfes zwischen Signifikanten – der eben »mit der Faust der geballten Rechten« gewonnen wird, der symbolischen Faust der göttlichen Gerechtigkeit – der anfängliche »Siegerruhm« zu einem bescheideneren »Siegsruhm« schrumpft, der seinerseits geschmälert wird durch den letzten Wurf des Sinns, mit dem die Anekdote schließt. Denn der Schlußsatz stellt nicht nur die Lesart in Frage, die der Text bislang geboten hat – wobei die Zuerkennung des Siegesruhms durch das Volk sich als vorschnell erweist: der tote Gegner hat den siegreichen Schlag ausgeführt, der durch den verspäteten Blutsturz angezeigt wird. Die kaum wahrnehmbare Scharade, der der Signifikant unterzogen wird (von »Portsmouther« zu »Porthsmouther«), straft auch den Berichterstatter Lügen und damit, mit diesem falschen lapsus calami, die ganze Überlieferung der Geschichte. Der großen Geschichte. Wie üblich beendet das Rätsel den Würfelwurf mit seinem rien ne va plus. Doch wie auch immer. Les jeux sont faits...