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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Werner Deetjen, Luise Wieland und Kleist, in: JbKG (1925/26), 97-105; darin: 97-103

Luise Wieland an Charlotte Geßner, September 1811

Deine drey lieben Briefe meine einzige innig geliebte Schwester liegen vor mir und ich will den ruhigen stillen Sonntagmorgen so viel ichs vermag benutzen sie zu beantworten! – an mir ist es Verzeihung von Dir zu erflehen, und ich erröthe die Deinigen so häufig in den heisersehnten Briefen lesen zu müssen! – O des verwöhnten verzärtelten Mädchens die keine Prüfung dieser Art ertragen kann ohne ihre Klagen, ihren Kummer in das Herz der Vielgeliebten auszugiesen und Ihr mit ihren unedlen Zweifeln und Vermuthungen wehe zu thun! wie oft werde ich noch in meinen reiferen Jahren an den unglücklichen Folgen zu dulden und zu leiden haben die die zu große Nachsicht u. Liebe meiner gütigen Eltern, Geschwistern u. Freunde, ja ohne es nur von weiten zu ahnden nothwendig nach sich ziehen musten. – Sieh dieser Schwäche noch eine Zeitlang nach die für die Zukunft mich <98:> allein quälen soll. Nicht ohne ein leißes Zittern öffnete ich den wohl verwahrten geheimnißvollen Brief von den ich mir für jetz ja für immer bedeutend viel versprach; – was wollte was wünschte ich mehr als Deine freundschaftliche Theilnahme an meinen frühen Leiden die sich so warm in jeder Zeile ausdrückte daß ich nicht nur vollkommen befriedigt auch von derselben gerührt hätte seyn sollen – ich war es auch, und doch kann ich dir für den ganzen Inhalt in diesen Augenblick nicht danken; für die Zukunft werde ich, wenn ich ruhiger u. fester bin, Deine gute und weise Absicht erkennen, ihr und Dir auch gewiß herzlich Dank wissen; nur jetz spricht ein Gefühl dagegen für das ich keinen Namen habe, das Du Dir aber gewiß zu erklären wissen wirst.
Geheilt sagst Du meine Theure! – wenn ich offen u. wahr seyn soll so muß ich Dir auch bekennen daß ich es noch nicht bin – daß ich es weder durch die schon seit 8 J[ahren] lange Trennung u. gegen die Misbilligung meiner Vernunft, bin: die gewiß alles anwande um die Oberhand über dieselbe zu erhalten. Las Dich dies Geständniß welches ich Dir als meine liebste Schwester, als die einzige die mich verstehen und fassen kann, schuldig zu seyn glaube, nicht erschrecken noch betrüben, es wird eine Zeit kommen, wo ich es seyn werde. Sey auch nicht wegen meiner Zukunft besorgt meine Liebe; ohne mir einen Lebensplan gemacht zu haben, wie könte man dies auch, ohne nicht seiner Bestimmung vorzugreifen welches sich kein Sterblicher erlauben sollte –, bin ich vollkommen ruhig über dieselbe. Hauptsächlich deswegen weil mein Vorsatz unwiderruflich fest steht daß ich unsern Vater nicht verlassen werde – denn ohne einer zu großen Eitelkeit beschuldigt zu werden darf ich Dir meine Charlotte gestehen daß ich im Haus von unseren weiblichen Personale diejenige bin, die in der Folge unseren Vater am nützlichsten seyn werde – dieser Gedanke muß u. wird jeden anderen Wunsch Platz machen. Gottlob befindet sich unser theurer Vater so wohl u. stark daß wir uns die Hoffnung machen dürfen ihm noch viele Jahre zu besitzen, denn auch von seinen körperlichen Kräften, von seinen ungeschwächten lebhaften Geist reden seine neuen Werke, – kann ich Dir Proben geben wenn ich Dir sage daß er vor einigen Tagen nach Oberweimar einen Dorf <99:> eine kleine Stunde von hier zu Fuß gegangen ist und nachdem er Buttermilch, u. ziemlich viel, auch Butterbrod gegessen hatte mit uns wieder zu Fuß, freilich nicht ohne auszuruhen, nach Haus ging und sehr gut bekommen ist. Sein Aussehen ist gesund auch ist er stärker geworden, denn Du weist, daß er in seiner Jugend und späteren Jahren immer sehr mager war. Erlebe ich die Zeit die für uns und einen großen Theil unseres Erdkreises immer zu früh kommen wird in der mich keine kindlichen Pflichten an einen Ort feßelen, den ich nicht liebe – so hoffe ich bei Dir bei den Deinen eine gütige Aufnahme zu finden die Ihr der verlaßnen nicht versagen könt noch werdet: daß ich Euch in keinen Fall beschwehrlich fallen werde dafür sollen Entbehrung und Ausdauer, wozu der Grund früh in mir gelegt wurde, sorgen. Ich habe in dieser Hinsicht schon lange angefangen manches zu entbehren was ich bei kalter Überlegung als Überfluß erkennen muß und es wird mir nicht schwehr weil ich niemahls das Verlangen fühlte durch einen wohlgewählten u. schimmernden Anzug mich auszuzeichnen und zu gefallen. Nach meinem Gefühl kann ein Weib vor allen aber ein junges Mädchen nicht bescheiden und anständig genug gekleidet seyn, und so rechne ich mir diese Regel als kein Verdienst an weil sie mir mehr Vortheil bringt als billig u. gut ist. Doch ich kehre nach dieser langen Abschweifung noch einmahl zu meinen ernsten und ersten Gegenstand dieser Epistel zurück um mich für ein u. allemahl über ihm auszusprechen weil es Dir vieleicht nöthig zu wissen, und mir wohlthuend ist Dir mich immer so zu geben als ich bin. Unter den vielen Fehlern von den meine Briefe an Dich wimmeln mögen ist der wohl der gröste daß ich mich zum Hauptgegenstand derselben mache oder bin; doch zweifle ich daß meine Eigenliebe der Grund davon ist, sondern wie ich hoffe allein von den Umstand herrührt daß wir uns nicht persönlich bekannt sind – ich suche daher mit einer wahren Ängstlichkeit mich Dir bekanter u. vertrauter zu machen, Dir von meinen Charakter Verstand u. Herzen die richtige Ansicht zu geben, damit ich den Folgen vorbeuge die eine sich selbst gemachte Vorstellung von den besagten nachtheiliges für mich und Dich haben könte. Kann ich mir dies versprechen so werde ich sicherer auftreten und vieleicht gewinnen dann meine Briefe an Interesse die ihnen jetz nur <100:> Deine gütige Parteilichkeit geben kann. Das Verlangen Dich zu sehen liegt zu tief in meinem Herzen als das es je zum Schweigen gebracht werden könte – doch darf ich der Hoffnung es bald erfüllt zu sehen nicht, garnicht Raum geben: einen leisen Wunsch den ich auszusprechen wagte als ich mit unseren Vater allein war wurde mit Güte und Liebe als Etwas Unmögliches erklärt. Die angeführten Gründe beschähmten rührten mich tief u. ich selbst fühlte es lebhaft es dürfe nicht seyn u. dürfte ichs auch, ich würde meinen Vater unter diesen Umgebungen nicht verlassen können.
Dich meine Geliebte rief eine große schöne Bestimmung aus den Armen aus der Nähe des Vaters, aber in den Besitz deiner Lieben in der Erfüllung deiner größeren schönen Pflichten findet Deine Seele Ersatz für den Verlust ihn nahe seyn zu können. Indessen dein Vater stolz auf seine Tochter Charlotte ist die seine Erwartung so vollkommen erfüllt hat und sich in stillen Gemüth freut wie sehr wie allen Sie würdig sey so von ihm und allen geliebt zu werden. O glaube mir treulich Du bist in der Entfernung ihn ewig nah, und werther als Du es ihn hättest werden können wenn Du für ihn hättest leben dürfen. Vieles in Deinen Anlagen würde sich unter seinen Augen entwickelt und ausgebildet haben – aber gewiß in der Hauptsache wären durch die Unthätigkeit u. durch die Unnothwendigkeit Deine Kräfte erschlafft oder nie erweckt worden welches den vorzüglichsten Menschen begegnen kann. Unser Vater ist, um es mit einen Wort auszudrücken, zu sehr ein Dichter um auf ein Kind besonders weiblichen Geschlechts guten Einfluß zu haben, eher wenn sie nicht eine große Festigkeit besitzt ist er für sie nachtheilig, leicht werden wir zu weichlich eines Theils verzärtelt u. dann wieder mit einer Härte behandelt die, wenn er sie bei der folgenden Überlegung selbst fühlt, eine zu herablassende Selbsterkenntniß u. Begegnung herbeiführt, die nur zu leicht eine ganz entgegengesetzte Würkung hat. Und Überhaupt hat er zu viel zu arbeiten beschäftigt sich noch so viel mit seinen Liebling Cicero\1\, wie er es früher durch seine reiche Fantasie war, als das er sich mit der Ausbildung unsres Geistes viel abgeben könte. So fehlte denn auch mir <101:> als die jüngste u. schwächste vieles zu meiner Moralischen u. Geistigen Ausbildung in den gewiß wohlthuenden Sonnenschein des täglichen Beisammenseins mit unseren Vater den ich kindlich liebe u. verehre u. dessen ganzen Werth ich fassen u. fühlen kann. Den Verlust unserer Mutter\1\ fühlte ich erst da so tief als ich fand daß ich in der Schwester S[chorcht]\2\ keine zweite Mutter finden würde die mir nur von weiten die zu früh verlorne ersetzen könte. Bei welcher ernsten Gelegenheit sie dies bewies habe ich Dir gesagt, als unter den Augen des Vaters, der nie seine Kinder beobachten konte, jene Leidenschaft entstand die durch das unglückseliche Benehmen dieser Schwester immer mehr genährt wurde. Was ich erst glauben muste lernte ich später fühlen daß ich nicht so wieder geliebt wurde wie ich liebte – doch ermangelte ich nicht mir vorzustellen daß wenn er mich nach so vielen Jahren wieder sehen würde sich sein mir oft wahrhaft bezeugter Antheil leicht in Liebe verwandeln könte, in eine Liebe die der meinigen an Stärke und Reinheit ähnlich sey! – Die Lectüre einiger seiner Schriften\3\ ein reiferer Verstand u. unbefangeneres Gemüth öffneten mir hierrüber die Augen u. ich sah und sagte mir es oft, mit was für einen Sterblichen ichs zu thun gehabt habe. Was Du mir von u. über ihn geschrieben hast bestätiget nur zu wahr alles dies, und ich bin auch überzeugt das ich in seinen Besitz, wenn die großen Hindernisse auch nicht wären, die sich zwischen diese Verbindung legen sie unmöglich zu machen, nicht glücklich seyn würde. Trotz diesen Betrachtungen ist mein Interesse an ihm nicht so geschwächt daß ich nicht lebhaften Antheil an seinen Schicksal nähme welches nicht erfreulich ist. O wie schade ist es um ihn er ist von Natur so edel und liebenswürdig u. wie freue ich mich, daß Du ihm erkant u. ihn auch Gerech- <102:> tigkeit hast wiederfahren lassen. Was könte ein ruhiges festes u. selbstständiges Gemüth u. ein guter Verstand nicht alles in die Länge über ihn vermögen, er ist nicht roh genug u. selbst zu gut um unser Geschlecht nicht zu achten, er hatte eine lebhafte Hochachtung u. Liebe für Dich, die ihm im Anfang auch mein Herz gewann. Freuen werde ich mich immer K[leist] wiederzusehen wie wohl dazu keine Aussicht ist weil er sich von Vater vergessen glaubt. Solte aber ein Zufall ihn nach W.[eimar] führen, so soll mein Benehmen ganz so seyn wie es die Selbstachtung erfordert u. die Würde meines Geschlechts, von der ich keinen kleinen Begrif habe, gebietet: Dann soll auch dein Rath meine Freundin mich leiten u. stärken, wenn ich schwanke, u. meine sinkenden Kräfte erheben, wenn ich schwächer seyn sollte als ich mich jetz in meiner stolzeren Ruhe fühle. Mein Äußeres kann auf keinen Mann Eindruck machen – u. wie sollte ihnen zugemuthet werden das bessere in mir zu suchen u. zu finden welches sie entdecken zu können keine Vermuthung haben: also vor ihnen bin ich gesichert, und mein Gefühl für K[leist] die Simpathie für sein edleres Wesen erhält mein Andenken an ihn so neu das ich vor einer zweiten Liebe auch gesichert bin; und so werde ich mir meine Freiheit erhalten können ohne ein Opfer zu bringen zumahl weil ich mich zu schwach fühle die vielumfassenden Pflichten einer Gattin u. Mutter erfüllen zu können. – Ich unterhalte jetz auch einen Briefwechsel mit Ludwig\1\, der sich würklich zu seinem Vortheil gebessert hat, wozu seine Kärklichkeit beigetragen haben mag aber wohl auch Nothwendigkeit u. reifliche Überlegung seinen Antheil haben kann. Ich lies die Gelegenheit nicht unbenutz[t] ihn von seinen Freund K[leist] zu schreiben u. sagte ihm meinen Wunsch ihn nicht zu verlassen da er ihm wie ich glaubte nüzlich seyn könte – er dürfe dies thun ohne für mich noch für dies alte Verhältniß Etwas zu befürchten gegen welches er, u. so mit vielen Recht, gesinnt gewesen sey: pp. Mein Brief scheint einen tieferen Eindruck auf ihn gemacht zu haben als ich gehofft hatte, nach meinen Befehl hatte er nur im allgemeinen von K[leist] gesprochen, zufrieden bin ich nicht mit dem was er angieb[t] warum sie entfernt von einander blieben, doch kann <103:> ich nichts dagegen einwenden. Es war dies das für solche lebhafte Menschen wie sie ein Briefwechsel nicht hinreichend genug sey da sie gewohnt seyen sich durch Gebehrten u. Blicke zu verstehen. Kämen sie aber durch einen Zufall wieder zusammen, so würde sich das alte Verhältniß von selbst wieder anknüpfen denn seine Liebe zu ihm sey die Alte in der Freundschaft blieb[e] er treu u. d. g. Daß er sich so klug aus der nicht leichten Aufgabe zog hat mich gefreut u. vor einigen Wochen schrieb ich ihn wieder. Suche keinen neben Zweck bei diesen Wunsch den ich bei voller Überlegung an Bruder [Ludwig] that, ich wünschte blos K[leist] einen Freund auf dem er sich verlassen u. der ihn in seiner Lage wo er bei nah allein stehen muß nützlich u. tröstlich seyn sollte. Denn er ist einer von denen die nicht allein stehen können ohne nicht am Ende in den Strudel unserer Zeit mit hinein gerissen zu werden.

\1\ M. Tullius Cicero’s Sämmtl. Briefe übersetzt und erläutert von C. M. Wieland. Zürich. 1808ff.
\1\ Gest. 1801.
\2\ Wielands zweite Tochter Caroline Schorcht, geb. 1770, die auch nach Aussage der Nachkommen das Verhältnis begünstigt hat.
\3\ Besonders liebte Luise das „Käthchen von Heilbronn“. Sophie Reinhold, Wielands älteste Tochter, geb. 1768, Gattin des Philosophen K. L. Reinhold, dankt ihr in einem Briefe vom 22. März 1811, daß sie sie auf die „intereßante Lecktüre“ aufmerksam gemacht habe: „Recht gern mögte ich diesen Kleist der mich seiner Originalität und Genialität wegen, und um deinetwillen intereßirt, Persöhnlich kennen lernen“. (Ungedruckt im Goethe- und Schiller-Archiv.)
\1\ Ihr mit Kleist befreundeter Bruder (1777-1819).

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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