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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Hermann Fricke, Ein alter Protokoll-Entwurf über Kleists letzte Stunden, in: JbKG (1938), 29-37; darin: 32-35

Entwurf oder Abschrift eines resümierenden Berichts\1\


[Seite 1:] Am Mittwoch den 20ten Novbr: c: [1811] Nachmittag um 2 Uhr kamen | zwey Fremden, ein Herr und eine Dame mit eigen Fuhrwerk von | Berlin gefahren; stiegen bey mir ab, und erbaten sich Mittagessen. | Sie sagten: sie wolten sich nur einige Stunden aufhalten, und einige | Fremden aus Potsdam erwarten: und wünschten, ein eignes Zimmer | zu haben. Wir wiesen sie unten linker Hand ein Zimmer an, womit | die Dame aber nicht zufrieden war, und lieber oben ein Zimmer haben | wolte. Es wurde ihnen nun oben ein Zimmer angewiesen; worauf die | Dame fragte, ob Sie nicht noch ein Zimmer gleich daneben haben könten? | welches auch sogleich angewiesen wurde. Hierauf trat die Dame ans | Fenster, und fragte: ob sie nicht einen Kahn bekommen könten, um über | die See auf der andern Seite hinüber zu fahren? meine Frau antworte- | te; wir könten wohl einen Kahn haben, dies verursachte aber viel Umstände. | Dagegen könten Sie leicht zu Fuß nach der andern Seite des Sees kommen, | welches der Dame sehr lieb war. Sie fragte nun nach einen Sopha, | und da wir keinen hatten, bat sie um zwey Betten, in jeden Zimmer | eins, damit die Fremden, weil solche vielleicht in der Nacht erst kämen | sich etwas ausruhen könten. Nachdem beyde sehr vergnügt zu sammen | <33:> gespeist hatten: gingen sie auf der andern Seite des Sees in der Ge- | gend spazieren, wo sie sich zuletzt erschossen, kamen bald wieder zu- | rük, und bezahlten ihren Fuhrmann, der nun leer nach Berlin zurük | fahren muste. Hierauf tranken Sie Coffé, erbaten sich Feder und Tinte, | blieben auf ihr Zimmer und schrieben daselbst. | Nach einiger Zeit baten sie sich Abendessen aus, und hatten Wein | und Rum bey sich; nachdem sie gespeist hatten, schrieben sie wie- | der, und als das Mädchen ihnen Wasser brachte; und fragte; | ob sie noch etwas befählen? erhielt sie zur Antwort: Nein | [Seite 2:] nichts mehr; wenn aber die Fremden kommen, vieleicht Thee. | Der Hausknecht, welcher die Nacht wachte, hat auf dem Zimmer beständig Licht brennen | sehn, und beyde zuweilen gehen hören. So verging die Nacht. Am Morgen um 5 Uhr | kam die Dame herunter, und bat um eine Portion Coffé, diese tranken beyde, und um 7 | Uhr noch eine Portion, so wurde es 9 Uhr. Das Mädchen muste nun ihre Kleider | reinigen: und auf die Frage ob sie zu Mittag essen wolten? entgegneten sie, | daß sie nur etwas Bouillon trinken, und auf den Abend dafür desto besser | essen wolten. Sie baten sich nun ihre Rechnung aus, die sie bezahlten, und quit- | tirt zurük verlangten. Nun verlangten sie einen Boten nach Berlin, welchen sie | einen Brief zu besorgen gaben, und dieser ging um 12 Uhr ab. Auf die Frage, was | sie am Abend speisen wolten? erwiederte der Herr: wir bekommen heute | Abend zwey Fremden, die müssen recht gut essen: ach nein; sagte die Dame: | ich dächte, wir ließen es, sie können auch mit einem Eierkuchen vorlieb nehmen, | wie wir: nun, sagte der Herr; denn essen wir morgen Mittag desto | besser; und beyde wiederholten: Auf den Abend kommen zwey Gäste. | Nun tranken sie ihre Bouillon, erkundigten sich abwechselnd nach der Uhr, und | fragten; wenn der Bote wohl gewiß in Berlin sein könte? Da er um 12 Uhr | weggegangen war, so versicherten wir, daß er um 3 höchstens halb 4 Uhr da | sein müsse. Nach einer Weile kamen beyde herunter, verlangten zwey Porti- | onen Coffé, und fragten noch einmal; ob nun der Bote wohl da sein könte? nun | bald, sagten wir. Hierauf gingen beyde hinaus; und sprachen über die Lage | und die schöne Gegend: waren aber dabey so vergnügt und Scherzhaft: daß man | gar nichts besonderes an beyde bemerken konte. Wir glaubten, sie ließen sich | durch den Boten einen Wagen von Berlin holen, darin sie wieder nach Berlin zurük | fahren wolten. Beyde kamen nun in die Küche, und die Dame fragte meine Frau | ob sie wohl den Coffé jenseits der See auf den schönen grünen Platz wolle | [Seite 3:] hinbringen lassen, es sey eine sehr schöne Aussicht da. meine Frau äußer- | te ihre Verwunderung darüber, da es doch so weit sey: der Herr sagte aber sehr zuvor | <34:> kommend; er wolle den Leuten ihre Mühe gern bezahlen: und erbat sich noch für 8 gr: | Rum. Hierauf gingen beyde nach den bestimten Plaz, und als meine Frau sagte; | sie wolte indessen die Zimmer reinigen lassen: verbaten beyde es mit | dem Bemerken: „Daß lieber alles darin so bleiben mögte“. Die Dame hatte ein | (Ls532 Ls532)   Körbchen, welches mit einen weißen Tuch bedekt war am Arm: worin wahr- | scheinlich die Pistolen gelegen haben. Weil wir den Coffé und den Rum hin- | geschikt hatten; verlangten sie auch einen Tisch und zwey Stühle; auch diese wurden | hingeschikt: dann ließ der Herr sich noch ein Bleystift ausbitten; und ließ | fragen: wieviel der Coffé koste. Wir glaubten nun; der Herr sey ein | Künstler, und wolle die Gegend aufnehmen. Als ich das Bleystift über | schikte, ließ ich dabey sagen; daß es mit der Bezahlung für den Coffé noch Zeit | hätte: beide kamen die Frau schon einige Schritte entgegen: und die Dame | übergab ihr das Coffé Geschirr, worin in einen Tassenkopf das Geld für den | Coffé und den Rum lag: wobey die Dame sagte: hier sind vier Groschen für | ihre Mühe, das andre Geld giebt sie den Wirth, und den Tassenkopf wasche | sie rein aus, und bringe ihn mir wieder. Die Frau ging fort, und beyde | Fremden eilten nach den Tisch zurük. Als die Frau etwa 40 Schritt gegangen | war, fiel ein Schuß, nach etwa 30 Schritt fiel ein zweiter Schuß, die | Frau glaubte aber; daß sie zum Vergnügen schießen; weil beyde so | scherzhaft und so munter gewesen waren: Steine ins Wasser gewor- | fen hatten, und mit einander gescherzt und gesprungen hatten. | Als die Frau den Tassenkopf wiederbringen solte, fanden wir es | sonderbar, daß da sie keinen Coffé mehr hätten; sie noch einen Tas- | senkopf wieder haben wolten: Doch nahm die Frau den Tassenkopf | [Seite 4:] und wolte ihn hintragen. Als sie auf den Plaz hinkam, fand sie beyde Per- | sonen in Blut liegend entleibt. Stummes Entsezen ergriff die Aufwärte- | rin, die nun von Schrek betäubt nach ihrer Wohnung zurük eilte: und un- | ser Mädchen, die ihr so rennen sah, zurief: die beyde Fremden hätten | sich erschossen, und lägen todt da. Auch uns allen sezt die Nachricht in Erstau- | nen; wir gehen zuerst oben nach die Stuben, finden aber die Thüren fest | verschlossen. Wir dringen nun durch eine Seitenthür in das eine Zimmer, | diese war aber mit alle im Zimmer befindliche Stühle verrammelt. | Außer ein versiegelt Päkchen war im Zimmer nichts vorhanden. | Nun eilten wir alle nach den Plaz, und fanden beyde entseelt; die | Dame in einer sizenden Stellung hinten über gelehnt, den Oberrock von | beyden Seiten aufgeschlagen, und die Hände auf der Brust zusam- | mengefaltet. Die Kugel war in der linken Brust Ls532)   durchs Herz und | am linken Schulterbladt wieder heraus gegangen. Der Herr in der- | selben Grube vor ihr knieend, und durch den Mund eine Kugel in den | Kopf geschossen, die ihm das Leben geraubt hatte. Beyde waren gar | nicht entstellt, vielmehr hatten sie eine heitre zufriedene Miene. | Wir ließen nun den Herrn die Taschen visitiren, in der Absicht, ob er nicht | etwa noch mit den erhaltenen Bleystift etwas geschrieben hätte, fanden | <35:> aber nichts, als die beyde Schlüssel von die Zimmer. Wir sandten nun | gleich einen Bericht nach Potsdam an die Polizey. | Um 6 Uhr kamen 2 Herren von Berlin gefahren, der eine stieg aus, | und fragte: ob die beyde Fremden noch hier wären? auf die Antwort, | daß beyde nicht mehr lebten; fragte er noch einmal, ob es wahr wäre? | wir sagten; daß beyde jenseits des Sees erschossen in ihren Blute | lägen. Nun stieg der andre Herr auch aus: welches der Herr | Rendant Vogel, der Ehemann der entleibten war: kam in die | [Seite 5:] Stube, warf den Hut in einen Winkel, die Handschuh in den andern; und war über | den Verlust seiner Gattin ganz untröstlich. Wir erkundigten uns nun, wer der | Herr wäre, welcher sich mit der Dame erschossen hätte, und erfuhren; daß | es Herr Heinrich von Kleist, ein Hausfreund von Herrn Vogel gewesen | sey. Die jetzt gekommenen waren also die beyden Fremden, für die die Ent- | leibten wegen des Abendessens so viel Sorge getragen hatten. | Wir warteten nun bis 11 Uhr Abends, und da von Seiten der Polizey niemand | kam, gingen wir alle zur Ruhe. Am Morgen ließ Herr Vogel sich eine | Haarloke von seine Frau holen: und beyde Herren reiseten wieder | nach Berlin zurük. Zu Mittag war der andre Herr, welcher mit Hr: | Vogel zurük gereiset war; der Herr Kriegsrath Peguilhen wieder | bei uns und lies dicht neben beyde Todten ein großes Grab graben, | mit dem Bemerken; daß er zwey Särge von Berlin schiken würde, | worin beyde in die Grube neben einander begraben werden solten. | Um 2 Uhr Nachmittag den 22ten kamen der Herr Hof Medicus und | Polizey-Offizianten von Berlin, nahmen alles zu Protocoll, ließen | die Leichen nach dem kleinen Hause bringen; und daselbst öfnen, | und untersuchen. Hernach wurden beyde in die bestimte Särge | gelegt, und Abends um 10 Uhr in ihre Ruhestätte begraben.

\1\Der Text enthält die Aussagen des Ehepaars Stimming und von Dorothea Luise Riebisch
[1811] Zusatz von fremder Hand; andere Tinte (Fricke, S. 32)

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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