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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 1-4

Ernst von Pfuel und andere Freunde Kleists aus der Potsdamer Militärzeit

I. Teil

Heinrich v. Kleist und seine Zeitgenossen.

„Gott wird die Pfeile mir, die treffen, reichen!“
(Prinz. III. 5.)

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I. Kapitel.

Ernst von Pfuel und andere Freunde Kleists aus der Potsdamer Militärzeit.

Wenn wir die Beziehungen Kleists zu seinen Zeitgenossen und den zahlreichen Freunden, die ihm im Leben sehr nahe gestanden, einer kritischen Prüfung unterziehen, so machen wir sehr bald die befremdende Erfahrung, daß sie wohl alle seinen Wert und seine hohen Eigenschaften im Leben und nach dem Tode öffentlich anerkannten, daß sie aber sein poetisches Erbe sehr schlecht behüteten, und daß sie vor allem auch die Nachwelt nur sehr mangelhaft mit brauchbarem biographischen Material über ihren Freund bedacht haben. Friedrich Christoph Dahlmann war der einzige, der an Julian Schmidt einen zusammenhängenden Bericht über die Tage gab, welche er mit Kleist zusammenverlebt, ein Bericht, der wenigstens eine Episode im Leben des Dichters in ein helles Licht stellt. Aber auch dieser einzige sachgemäße Bericht, den Freundeshand geliefert, entstammt sicher mehr fremden Einflüssen, als einem liebevollen Gedenken; denn auch Dahlmann hat wenig Pietät an den Tag gelegt, als er eine große Anzahl Gedichte aus der Hinterlassenschaft Kleists der Nachwelt vorenthielt, die erst lange nach seinem Tode durch einen Zufall und nur lückenhaft an das Licht kamen. Und nun gar die anderen. Einzelne verleugnen Kleist gänzlich, andere erwähnen wohl seiner, aber ihre Schriften, Briefe oder Autobiographien bringen nur spärliche Andeutungen oder lückenhafte Berichte, <2:> wenig geeignet, unsere Kenntnis von Kleists Persönlichkeit zu erweitern und zu vertiefen. Am eigenartigsten trieb es Ernst von Pfuel, der, als ältester, intimster, und durch zahlreiche Bande mit Kleist verknüpfter Freund, der natürliche Anwalt und Wächter seines Andenkens, dieses nicht bloß auf das ärgste vernachlässigt, sondern durch leichtsinnig-unkontrolierbare Angaben verzerrt und entstellt hat. Was er anderen über seinen Freund mitzuteilen wußte, das beschränkt sich auf ganz wenige anekdotenhafte Züge. Der an sich belanglose Zwischenfall von den reichlich fließenden Tränen bei dem Tode der Penthesilea ist die wichtigste Mitteilung, die er Adolf Wilbrandt aus dem Leben seines berühmten Freundes machte. Alle, die sich an ihn um Auskunft über Kleist wendeten, bekamen immer wieder diese Anekdote aufgetischt. Varnhagen hat sie zweimal in verschiedener Fassung niedergeschrieben und seiner Mappe beigefügt, in der er offenbar Material für eine Kleistarbeit oder -Biographie sammelte. Dann findet sie sich in der bekannten Form bei Wilbrandt, und schließlich gibt sie ganz unabhängig mit offensichtlichen Entstellungen Franz Wallner wieder in einem Aufsatze: „Vom alten Pfuel. Charakterzüge aus dem Leben eines alten Veteranen.“ Der Aufsatz bringt aus dem Mund Pfuels Beiträge zu Kleist und Pfuel und findet sich in der „Gartenlaube“, Jahrg. 67, Nr. 1; er gehört, wie so vieles andere, zu den Kleistbeiträgen, die am Wege liegen blieben.
Wir beklagen nicht bloß, daß Pfuels Mund verschlossen blieb, sondern noch viel mehr, daß er durch leichtsinnige und subjektiv gefärbte Anschauungen viele falsche Auffassungen und Irrtümer in die Kleistliteratur hineingetragen hat. Der eigenartigen Persönlichkeit, der empfindsamen Dichternatur seines Freundes hat er niemals das nötige Verständnis entgegengebracht; nach Kleists unglückseligem Ende war er der erste und einzige, der den letzten Schritt seines Freundes nicht aus dem Zwange äußerer Verhältnisse, sondern auf innere, seelische, triebartige Kräfte zurückführte. Das lehrt <3:> uns der Brief Brentanos \1\ über Kleists Ende, der Pfuels Ansichten wiedergibt, und darüber belehren uns ähnliche Äußerungen anderer Freunde, die sich auf Pfuel berufen, und auf die wir später zurückkommen werden. Es ist kein bloßer Zufall, daß die Biographie Wilbrandts, die ihr Material vornehmlich den Mitteilungen des Staatsministers a. D. General v. Pfuel verdankt, den Höhepunkt jener Auffassung bedeutet, welche Kleists Eigenart auf eine krankhafte Organisation zurückführt. Nach einem an Abenteuern und allen möglichen Wechselfällen reichen Lebens hatten sich zudem im vorgerückten Alter die Tatsachen in Pfuels Erinnerung verwischt, sein Gedächtnis täuschte ihn, und was Wilbrandt aus seinem Munde erfuhr, ist zum größten Teil nachweisbar unrichtig. Ich habe schon an anderer Stelle \2\ Pfuels Berichterstattung als fehlerhaft und unzuverlässig nachgewiesen; nichtsdestoweniger halten auch die neueren Biographien alle die Legenden fest, welche aus dieser Quelle stammen. Wollen wir eine zutreffende Einsicht in Kleists Charakter gewinnen, wollen wir seine Eigenart verstehen lernen, so müssen wir uns vor allen Dingen freimachen von den falschen Vorstellungen, die Pfuel in die Kleistforschung hineingetragen hat und müssen als oberste Aufgabe betrachten, das Verhältnis der beiden Freunde zueinander auf Grund zuverlässigen Materials klarzustellen.
Die angedeutete Aufgabe stößt auf große Schwierigkeiten. Eine Biographie Pfuels, die uns als Unterlage dienen könnte, fehlt uns; die biographische Skizze von Wippermann auf Grund handschriftlicher Urkunden und Familiennachrichten in der Allgemeinen Deutschen Biographie (Leipzig 1887) bringt nur wenig Material für die Lebensperiode, die für uns von Interesse ist und ist auch in ihren Angaben für diese <4:> Zeit nicht zuverlässig. Auch die nicht gerade zahlreichen anderweitigen Beiträge zum Leben Pfuels beziehen sich meist auf die Zeit nach dem Tode Kleists, in der er mehr in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses trat. Das Material für die folgende Darstellung bieten im wesentlichen handschriftliche Urkunden aus dem Archiv der Familie v. Pfuel, das mir der gegenwärtige Archivverwalter in entgegenkommender Weise überlassen hat. Das Material ist zu Lebzeiten Ernsts zusammengetragen und vor allem auch kritisch gesichtet; da fast zu allem, was vorhanden ist, von kritischer Hand Randglossen gemacht sind, so bin ich in der Lage, nur das zu benutzen und für die folgenden Ausführungen zu verwerten, was von strenger und sicherer Kritik gutgeheißen ist. Ich verweise darauf, daß ich aus dem Material des Archivs bereits eine Arbeit über das Verhältnis Pfuels zu Goethe veröffentlicht habe, deren Fortsetzung\1\ einem Funde in der Berliner Königl. Bibliothek entstammt, und daß dem Pfuel-Archiv auch drei Briefe Kleists an seinen Jugendfreund entnommen sind, deren Veröffentlichung an dieser Stelle ich mir vorbehalten, und die dann wie bereits erwähnt\2\ ohne mein Wissen in die Sammlung Kleistscher Briefe aufgenommen worden sind. Das Archivmaterial konnte ich ergänzen durch einige Notizen, die dem Bestande unserer Königlichen Bibliothek entnommen sind.

\1\ E. Kayka „Kleist und die Romantik“. Forschungen zur neueren Literaturgeschichte XXXI. Berlin 1906.
\2\ Euphorion IX. 4 und Kleist-Problem.
\1\ Sonntagsbeilage zur „Vossischen Zeitung“ 1904 Nr. 15 u. 1905 Nr. 3.
\2\ Näheres siehe in „Deutschland“ Februar 1907 „Heinrich v. Kleist in seinen Briefen“.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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