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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 75-78

Das Haus Cohen und andere Gesellschaftskreise während Kleists erster Berliner Periode (1800-05)

Daß Kleist das Verhältnis der Frau von Werthern zu Brockes und sie selbst auch persönlich kannte, ist zweifellos\1\. Auch in den Briefen Kleists, besonders während der Würzburger Reise, finden sich manche Andeutungen, die nur verständlich werden unter Berücksichtigung von Brockes’ Liebesaffäre. Es zeigt sich hierbei eine hervorstechende Charaktereigenschaft sowohl des Menschen als besonders des Dichters Kleist. Er kennt kein Geheimnis Vertrauensleuten gegenüber, soweit es seine Person betrifft. Selbst den geheimnisvollen Zweck seiner Würzburger Reise verrät er der Braut, als er glaubt ihn ihr mitteilen zu können. Das sagt er selbst, das zeigt sich auch objektiv darin, daß er während der Reise niemals den „Arzt“ erwähnt, wohl aber nach seiner Rückkehr. Kleist teilt seiner Schwester mit Vergnügen allen möglichen Stadt- und Garnisonklatsch mit, aber er ist sehr zurückhaltend und diskret, soweit es sich um die Angelegenheiten befreundeter und nahestehender Personen handelt. Das ist besonders wichtig für die Beurteilung des Dichters Kleist. Er, der so leicht jeden Stoff, der sich ihm bietet, dichterisch zu gestalten versteht, greift niemals einen solchen auf, den ihm die Gesellschaft oder der Freundeskreis bietet. Unglückliche Ehen, eigentümliche Menschenschicksale bietet ihm das Leben in Fülle – niemals zeigen seine Schriften ein Andeutung, einen Abglanz davon. An dem Beispiel des Kohlhaas werde ich zeigen können (S. 248), daß er alle Andeutungen sorgsam vermeidet, die nach irgendwelcher Richtung selbst Fernstehende verletzen können. Auch Brockes gegenüber bleibt er streng diskret und nur flüchtige, gelegentliche Andeutungen in seinen Briefen verraten <76:> des Freundes langdauerndes Liebesverhältnis. In der kurzen Lebensskizze über Brockes sagt er (31. Januar 1801), daß er in Frankfurt am Main die Liebe kennen lernte, die ihn nicht glücklich machte. Nachdem er Brockes in Koblenz aufgesucht und zur Teilnahme an der Reise veranlaßt hatte, schreibt Kleist seiner Schwester (21. August 1800), es werde sie beruhigen, daß Brockes bei der Reise „denselben Zweck“ verfolgt, wie er selbst. Wie ist das zu deuten? Kleist schwebte als Zweck seiner Reise das Glück der Ehe vor. Es muß also Brockes, der denselben Zweck vor Augen hatte, auch auf dieser Reise eine Annäherung an seine Braut, die Realisierung seiner Ehe erstrebt haben. Eine flüchtige Andeutung von Brockes’ Liebe enthält Kleists Schreiben an seine Braut von der ersten Reisestation (1. September 1800). Kleist schildert wie er bei einbrechender Nacht im Wagen auf dem Rücken liegend den Himmel und die Wolken betrachtet, „Brockes und ich, wir suchten beide und fanden Ähnlichkeiten in den Formen des Gewölks, er die seinigen, ich die meinigen“. In Öderau (Kreishauptmannschaft Chemnitz) haben die Reisenden nach ihrer Abreise von Dresden, nach einer Fahrt von nur sechs Meilen Station gemacht. Kleist schreibt seiner Braut, daß Brockes hier übernachten wolle „aus Gründen, die ich Dir in der Folge mitteilen werde“. Die Gründe sind nicht schwer zu erraten: Frau v. Werthern hatte ihre Besitzung und ihren Wohnsitz in Groß-Neuhof (Postbezirk Erfurt) unweit Weimar; sie unterhielt enge Beziehungen nach Weimar hin (s. S. 420). Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß Brockes in Öderau Station machte, um hier mit seiner Braut zusammenzutreffen, die ihm wohl hierhin entgegengeeilt war. Jedenfalls war hier, wenn die Freunde ihre Reiseroute innehielten, der geeignetste Rendezvousplatz. Auf einen späteren Hinweis Kleists im Jahre 1807 komme ich weiter unten zurück (S. 362).
Außer der Braut von Brockes lernte Kleist noch eine andere Dame kennen, welche mit Brockes befreundet war. <77:> Es war die auch von Zolling erwähnte Julie\1\ Westfeld, die nachmalige Professorin Bouterwek in Göttingen, ein sehr kluges, gebildetes Mädchen, die Tochter eines Amtmannes Westfeld in der Nähe von Göttingen, wo Goethe auch einmal zu Besuch weilte. Nach der Familientradition brachte sie Brockes ein mehr als freundschaftliches Gefühl entgegen und hatte jahrelang ihr Herz an ihn gehängt. Auch Kleist war mit ihr persönlich bekannt, und zwar muß er ihre Bekanntschaft gemacht haben, als er auf der Reise mit Ulrike in Göttingen sich aufhielt; jedenfalls wird er sie mit einer Empfehlung von Brockes und auf seine Veranlassung aufgesucht haben. Von ihr mag die Einladung zu dem Balle stammen, an dem die Geschwister in Göttingen teilnahmen, und über welchen Kleist resigniert an seine Braut schreibt (3. Juni 1801): „Heute sind wir hier auf einem Balle, wo die Füße springen werden, indessen das Herz weint.“ Wir besitzen eine Äußerung der Westfeld über Kleist vom 24. Februar 1802: „Haben Sie keine Nachricht von Wyttenbach und Kleist? … Von Ihnen möchte ich noch wissen, was Kleist so ungefähr erfahren hat. Ich glaube gewiß, ich sehe ihn wieder, vielleicht bald und möchte nicht unvorbereitet sein.“ Der hier erwähnte Dr. med. Karl Wyttenbach war der Arzt Kleists während seiner monatelangen schweren Erkrankung in Bern. Kleist nennt ihn in seinem Billet an Pannwitz vom August 1802 Doktor und Apotheker und einen „ehrlichen Mann“. Der Briefstelle entnehme ich, daß Wyttenbach seit langer Zeit Brockes und seiner Freundin bekannt war. Da Wyttenbach seit 1790 praktizierte, so fällt seine Studienzeit, die er wahrscheinlich zum Teil in Göttingen verbrachte mit der von Brockes zusammen. Kleist wird an ihn empfohlen worden sein und muß während seines ersten Aufenthaltes in Bern seine Bekanntschaft gemacht haben. Als er einige Monate später auf der Aarinsel erkrankte, wird er den befreundeten Arzt in Bern wieder aufgesucht haben. Die <78:> Briefschreiberin spricht die Gewißheit aus, Kleist wiederzusehen. Ich deute die Äußerung dahin, daß Kleist ihr resp. Brockes wie seiner Braut mitgeteilt hat, daß er in die Heimat nur dann wiederkehrt, wenn sein Dichtertraum in Erfüllung geht. Kleists Freundin drückt in ihren Zeilen somit die feste Zuversicht aus, daß es Kleist gelingen werde, seine und seiner Freunde hohe Erwartungen zu befriedigen.

\1\ Zolling nennt die Braut fälschlich Luise Westfeld.
\1\ Der Vorname Luise bei Zolling ist falsch.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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