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 Sigismund
        Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach
        neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 284-288 
         
        Ergänzungen und Berichtigungen zu den Kommentaren
        von Kleists Werken. Das Käthchen von Heilbronn
        
         
        
         
          e) Das Käthchen von Heilbronn. 
        In den kritischen Besprechungen und in der literarästhetischen Würdigung des
        Käthchen von Heilbronn ist bewußt oder unbewußt bis in die neueste Zeit
        sehr zum Schaden für das Verständnis, die beabsichtigte wissenschaftliche Tendenz in den
        Vordergrund gestellt und damit das Käthchen mehr oder weniger zu einer Sexualpsychopathin
        gestempelt worden. Das ist um so auffallender, als kein Dichter so scharf die Grenze
        zwischen Gesundem und Krankhaftem gezogen hat, als kein Dramatiker so ängstlich wie
        Kleist die Grenze vermieden hat, wo das geistige Leben aufhört gesund zu sein. In seinem
        Bestreben, das Seelenleben in allen Höhen und Tiefen zu erfassen, psychische
        Erscheinungen in ihrer Totalität darzustellen, kann dem Dichter und vor allem dem
        Dramatiker nicht das Recht abgesprochen werden, seelische Vorgänge zu enthüllen, die
        nicht mehr normal verlaufen oder die ein ausgesprochen gestörtes Seelenleben erkennen
        lassen. So finden wir das Krankhafte mit aller Realistik schon bei Sophokles und nicht
        minder ausgesprochen bei Shakespeare und über Goethe und Schiller bis zu Ibsen. Dabei
        wird natürlich der Dichter die geistige Affektion lediglich nach künstlerischem Ermessen
        benutzen und schildern, das wissenschaftliche oder psychiatrische Lehrbuch kann und darf
        ihm nicht die Richtschnur verleihen; ebensowenig wie er sich um die historische Wahrheit
        kümmert, wird er sich abhängig machen von schwankenden wissenschaft- <285:> lichen
        oder psychiatrischen Lehrsätzen. Der Dramatiker dichtet ebensowenig für ein Parterre von
        Psychiatern wie Historikern. Die Dramen, welche krankhafte geistige Äußerungen wirklich
        naturgetreu wiedergeben, sind keineswegs die besten. Im Gegenteil, nur ein schlechtes
        Stück kann das Psychopathische der Wirklichkeit entsprechend schildern, denn das
        Psychopathische genau der Natur abgelauscht widerspricht der psychologischen Wahrheit, die
        das einzige und oberste Gesetz der Dichtkunst ist. Wenn also wirklich, wie man immer
        betont, Kleist nach den Lehren Schuberts, nach der Lektüre einschlägiger Werke, nach
        persönlichen Beobachtungen, eine Sensitive, eine Somnambule auf die Bühne gebracht oder
        dramatisch und bühnenmäßig bis in die geheimsten Vorgänge des Seelenlebens naturgetreu
        zu gestalten versucht hätte, ich würde darin keinen Vorzug des Dramas erblicken. Aber
        ebensowenig wie der Prinz von Homburg sollte das Käthchen eine Nachtwandlerin oder eine
        Somnambule sein. Nichts ist verkehrter als der Standpunkt du Prels, welcher mit allem
        Rüstzeug psychiatrischen Wissens, aber nur mit oberflächlicher Kenntnis des Dramas aus
        der Heldin ein Somnambule machen will. Käthchen hat nichts Nervöses, nichts krankhaft
        Somnambulistisches an sich, im Gegenteil, sie ist, wie gleich zu Anfang der Vater von ihr
        berichtet, gesund an Leben und Seele, wie die ersten Menschen, die geboren sein
        mögen. Mit aller Entschiedenheit betont der Dichter, daß Käthchen nicht krank,
        nicht irgendwie erblich belastet ist, wie wir es immer bei einer Somnambule voraussetzen.
        Welches die wahre Absicht des Dichters gewesen ist, darüber belehren uns am besten die
        Ausführungen Böttigers, die aus persönlicher Bekanntschaft herrühren, und die ich
        unten in extenso wiedergebe, gemeinsam mit der Überlieferung,
        nach welcher Kleist seiner Braut, die er verlassen, das Bild wahrer mädchenhafter Liebe
        schildern wollte. 
         Kleist will die Liebe eines
        auserwählten, höchststehenden Mädchens von vollkommener körperlicher und geistiger
        Entwicklung vorführen. Dazu wählt er die im Geheimen erzogene <286:> Tochter des
        Deutschen Kaisers, des Oberhauptes des heiligen römischen Reiches. Der Kaiser bedeutet
        nicht, wie man dem Stücke vorgeworfen, den deus ex machina, sondern er
        ist die notwendige Voraussetzung. Nach dem naiven Glauben des Mittelalters erscheint die
        Kaisertochter würdig genug, daß ihr der Himmel durch einen Engel einen ebenbürtigen
        Bräutigam zuführt. Das geschieht zunächst in dem Doppeltraum während der
        Sylvesternacht. Soweit ist die notwendige Voraussetzung des folgenden Vorganges und damit
        das eigentliche Gerüst des ganzen Stückes rein märchenhaft. Den korrespondierenden
        Doppeltraum wissenschaftlich erklären zu wollen, ist ganz unhaltbar, wie ich schon in
        meinem Kleist-Problem (S. 114) näher ausgeführt habe. Die nächtliche Vision hat
        auf das Mädchen den tiefsten Eindruck hervorgerufen, und bei der ersten Begegnung mit
        ihrem Ritter zeigt sich ihre willenlose Ergebenheit in einem Maße, wie es sonst nur unter
        dem Banne einer posthypnotischen Suggestion der Fall ist. Käthchen gleicht äußerlich in
        der Folge einer Hypnotisierten, aber in Wirklichkeit will sie der Dichter nicht zeigen
        unter dem beabsichtigten Einflusse eine Hypnotiseurs, sondern unter dem Zwange der
        himmlischen Liebe, die sich hier wie bei einer Somnambulen äußert in völliger Aufgabe
        der eigenen Persönlichkeit und in willenloser Hingabe an den Geliebten. 
           Wir
        wissen, daß Kleist mit seiner Braut gebrochen hat, als sie seinem durchaus berechtigten
        Wunsche nicht Folge leistete. Nachdem er acht Tage lang in seinem Zimmer herumgetobt
        hatte, entwarf er in hastiger Eile, wie berichtet wird in wenigen Wochen, das Stück, in
        welchem er das Spiegelbild der höchsten und wahren Liebe vorführte. Daß ihre äußeren
        Kennzeichen dem des somnambulen Zustandes gleichen, berechtigt uns nicht, aus Käthchen
        eine psychopathische, hysterische, mondsüchtige Somnambule zu machen. Sie muß auf der
        Bühne wirken nicht als die niedliche Naive, sondern als die auserwählte und tatkräftige
        Heldin, als die hoheitsvolle Kaisertochter. Die Dichtung mag in einzelnen Anklängen an
        die Lektüre von Schriften <287:> erinnern, die die Nachtseiten des Lebens
        behandeln, und es ist gewiß interessant und wissenswert, sie aufzusuchen, aber die
        eigentliche Grundlage des Stückes ist märchenhaft, und wenn nicht eine bestimmte
        Volkssage, so hat doch der naive Volksglaube dem Dichter die Anregung und den Stoff
        geboten. Dem Käthchen gegenüber muß man die Ansprüche der absoluten Kritik daheim
        lassen, wie schon Treitschke hervorgehoben hat. Das Märchen gehorcht nun einmal nicht den
        Gesetzen des Dramas. Wer an das zarte Gebilde den ästhetisch-kritischen Maßstab anlegt,
        wer mit nüchterner Vernunft ihm beizukommen versucht, dem muß es ergehen wie Hebbel
        (Tageb. III 3323), den die verstandesgemäße Analyse völlig in die Irre führt. 
           Die
        Angaben über die Aufnahme des Käthchens bei Z. und Sch. bedürfen einiger Ergänzungen.
        Vor der Aufführung des Stückes in Dresden (Dezember 1816) wurde es im Isarthor-Theater
        zu München mit großem Beifall aufgenommen. Das beweist die folgende Korrespondenz im
        Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode. Weimar. Junius 1816. S. 391ff.: 
           Über
        die Theater in München heißt es bei Isarthor-Theater u. a.: 
         
        Eine liebliche Erscheinung war uns die Aufführung des Käthchen von Heilbronn.
        Diese anziehende, mystisch-romantische Dichtung des unglücklichen Kleist, den das
        Leben zu schwer gedrückt, kennt sicher jede fühlende Seele. Die eigentümliche Ansicht
        der Liebe, die sich darin so wahr und kunstlos ausspricht, findet überall offene
        Gemüter. Käthchens begierdenloses, stillduldendes, anbetendes Herz, das nichts als Liebe
        fühlt und doch nicht kennt, hier im Contraste mit dem materialen Ritter von Strahl, in
        dessen Busen nur zuweilen heilige Gefühle aufschlagen, gewährt einen tiefen Blick ins
        Leben. Die dramatische Behandlung hat eine Originalität, die wohlthätig gegen das
        Angewöhnte und Erworbene, das wir täglich vor uns bringen sehen, absticht: wenn auch gar
        vieles in der Behandlung des Ganzen und der einzelnen Szenen anders zu wünschen wäre.
        Die Darstellung von Seiten Käthchens, die so anspruchslos die Hauptperson ist,
        unübertrefflich. Mad. Carl gab diese Rolle mit einer so zarten Scheu, einer
        solchen romantischen Gemüthlichkeit, mit so liebenswürdiger und ahnungsloser Unschuld,
        daß sie selbst die, welche diese zarte Dichtung recht derb befühlen, hinriß. Hr. Carl
        <288:> hat als Ritter Graf von Strahl, einige Momente köstlich gegeben, selbst den
        ganzen Charakter gut aufgefaßt, aber ihn nicht immer fest und klar gehalten. Hr. Wohlbrück,
        als Waffenschmidt, muß noch mit Achtung genannt werden. alle übrigen aber haben die
        vortrefflich geordnete Darstellung nur darum nicht verdorben, weil sie zu unbedeutende
        waren. Hätte man bei dieser Bühne auf mehr intellectuelles und künstlerisches
        Zusammenwirken zu rechnen, so würden alle Darstellungen vortrefflich seyn, denn das Mechanische
        ist es wirklich, da muß man der Thätigkeit und Energie des Herrn Carl den
        lautesten Dank zollen, wenn man auch über Manches anderer Meinung ist. Dieses Schauspiel
        wurde bereits öfter wiederholt, und füllet das Haus immer so, daß viele Neugierige
        wieder nach Hause gehen müssen. N. M. 
         
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