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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 351-356

Kleists Liebesleben

Ich habe bereits an anderer Stelle hervorgehoben, daß Kleist offenbar häufig bei seinen Freunden, die seiner empfindsamen komplizierten Natur wenig Verständnis entgegenbringen konnten, Anstoß erregte, daß es zu gelegentlichen Konflikten, die er selbst am meisten bedauerte, kam, und daß er dann in überströmender Zärtlichkeit Briefe an sie richtete. Unter bestimmten Umständen und in der Nachwirkung gewisser Eindrücke kann dann sein überzärtliches Wesen, seine leidenschaftliche Sehnsucht nach wahrer echter Freundschaft, die nach seinen eigenen Worten die Genüsse der Liebe ersetzen kann, gemischt mit rein ästhetischen Empfindungen bei seinem fortreißenden Temperament sehr bedenklich in das Sexuelle abirren. Andeutungsweise kommt das zum Ausdruck in Briefen an Lohse, Rühle und andere, am ausgesprochensten in dem Gefühlserguß an Pfuel: „Du stelltest das Zeitalter der Griechen in meinem Herzen wieder her;“ heißt es da, „ich hätte bei Dir schlafen können, Du lieber Junge! so umarmte Dich meine ganze Seele. Ich habe Deinen schönen Leib oft, wenn Du in Thun vor meinen Augen in den See stiegst, mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen betrachtet … Mir ist die ganze Gesetzgebung des Lykurgus, und sein Begriff von der Liebe der Jünglinge, <352:> durch die Empfindung, die Du mir geweckt hast, klar geworden. Komm zu mir … Ich heirate niemals, sei Du die Frau mir, die Kinder und die Enkel.“ Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß mit diesem Dithyrambos die Grenze überschritten ist, wo der Enthusiasmus aufhört und die Liebe zum Freunde beginnt, und diese Auffassung wird nicht widerlegt, wenn Minde-Pouet seinen Kommentar auf den Hinweis beschränkt, daß die spartanische Knabenliebe nur mentorhafte, nicht mädchenhafte Empfindungen zur Voraussetzung hat. Nur wer die Eigenart Kleistscher Briefe berücksichtigt, kann sich mit dieser befremdenden Briefstelle abfinden. Unter dem Eindruck gewisser Erlebnisse, besonders eindrucksvoller Lektüre, unter der Nachwirkung dichterischer Erregungen und Phantasien finden sich vereinzelte Briefstellen und ausführliche Darstellungen in Kleists Briefen, die mit den Tatsachen, mit wirklich Erlebtem und Empfundenen, absolut nichts zu tun haben. Der angeführte Brief, der so vollständig von den übrigen Briefen an Pfuel absticht, entspricht ebensowenig der Wahrheit resp. Kleists wahrhaften Empfindungen, als etwa das in dem Brief von der Aarinsel geschilderte Liebesidyll einen tatsächlichen Vorgang wiedergibt. Nicht eine Sexualempfindung erweckt die Erinnerung an die spartanische Gesetzgebung, sondern umgekehrt, der mächtige Eindruck der letzteren ruft die Reminiszenz wach an den badenden Freund und damit eine Summe von Gefühlen im Sinne jenes Problems, das ihn zweifellos mächtig angezogen hat. Der Altmeister Goethe hat mit Bezug auf Zacharias Werner über dichterische Gefühlsergüsse wie den vorliegenden eine Ansicht ausgesprochen, welche die Perversitätenschnüffler zur Richtschnur wählen sollten: „Dichtern, schreibt er an Frau Frommann, sieht man überhaupt wohl nach, wenn sie das Vorrecht, sagen zu können, was sie fühlen, gegen den Freund, gegen die Geliebte vielleicht übermäßig ausüben.“
Für die Entscheidung der Frage, welche uns hier vorliegt, ist weder im Falle Kleist noch sonst etwas getan, wenn man <353:> einzelne Symptome für die Diagnose herausgreift oder sie widerlegt. Auf diese Weise kommen jene leider so überaus häufigen Perversitätsdiagnosen zustande, bei denen nur die Perversität der Gedankenäußerung überzeugend wirkt. Besonders im Falle Kleist sind unsere Kenntnisse viel zu mangelhaft, als daß wir aus materiellen Gründen eine Diagnose zu stellen imstande wären. gewiß wäre es mir ein leichtes, gegen Verdächtigungen wie in dem wiedergegebenen Briefe alle möglichen und stichhaltigen Einwendungen aus dem Leben Kleists, aus seinem Verhalten, aus seinen Äußerungen entgegenzuhalten: ich kann sein Liebesleben heranholen, ich kann mich darauf berufen, daß er dichterisch viel mehr beeinflußt wurde von Frauen als von Männern, die auf seine geistige Entwicklung überhaupt sehr wenig gewirkt haben, ich könnte an die Affäre Iffland erinnern usw. usw., aber mit alledem würde nichts erreicht; jede Auseinandersetzung wäre erfolglos, man würde Simulation und beabsichtigte Täuschung ins Feld führen, man würde im besten Falle sagen, daß Kleist wohl nicht homosexuell, aber bisexuell empfand und würde andere Einwände vorbringen. In letzter Reihe ist tatsächlich auch die Entscheidung der Frage nicht Sache des Psychologen und Psychiaters, sondern des Literarästheten. Der Mensch kann täuschen, er kann mit Absicht die Freunde und die Welt irreführen, der Dichter kann den Äußerungen seines Gefühlslebens, seiner Phantasie nicht auf die Dauer Zwang antun. Im Sinnen- und Geistesleben besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen physiologischem Bestande und physiologischer Leistung. Wenn man diesen einzig berechtigten Standpunkt ins Auge faßt, dann findet man in Kleists Werken, in manchen Gedichten, in vielen Szenen seiner Dramen, eine natürliche, gesunde, normale Sinnlichkeit, dann läßt seine gesamte dichterische Produktion, seine poetische Entwicklung, wie wir sie oben geschildert haben, einen so ausgesprochen heterosexuellen Charakter erkennen, daß es einfach widersinnig ist, dahinter eine sexuell-psychopathische Persönlichkeit zu suchen. Platens krankhafte Veran- <354:> lagung dokumentiert sich in seinen Werken, nicht bloß in seinem Tagebuch, und wer den Unterschied zwischen normalem und conträrem Sexualempfinden erkennen will, der vergleiche Kleists Agnes, Evchen, die Marquise, Käthchen, Natalie etwa mit Wildes Frauengestalten.
Nach dem Bruch mit Wilhelmine hören wir sehr bald und in rascher Folge von zärtlichen Beziehungen Kleists. Nur gerüchtweise und ganz ohne jede materielle Grundlage. In der neuesten Biographie sind diese Gerüchte überhaupt nicht erwähnt. Für das Verständnis von Kleists Liebesleben liegt ja eine große Schwierigkeit darin, daß wir von dem einen Verhältnis zu Wilhelmine so sehr viel wissen und es bis in alle Phasen der Entwicklung und des Abschlusses verfolgen können, während wir von zahlreichen anderen Beziehungen nur ganz vage und unbestimmte Angaben haben. Dadurch wird die Darstellung verschoben, und wir bekommen einen ganz schiefen Eindruck. Nach der üblichen Auffassung, die natürlich bei dem großen Material, das wir besitzen, das Verlöbnis mit Wilhelmine in den Vordergrund stellen, müßte Wilhelmine die Liebe und die Braut von Kleist gewesen sein. Und doch belehrt uns das Studium von Kleists Briefen, daß von einer großen Leidenschaft, überhaupt von wahrer Liebe nicht die Rede sei; und doch suchen wir vergebens nach dem Kriterium, das schließlich für die Liebe des Dichters das maßgebende sein muß, wie gibt sich seine Liebe zu Wilhelmine in seinen Schriften und Dichtungen zu erkennen, wie hat Wilhelmine ihn als Dichter gefördert, wo finden wir ihre Spuren. Vergebens werden wir danach suchen, und schon dieser wichtigste Umstand sollte uns überzeugen, daß Wilhelmine im Liebesleben des Dichters keine große Rolle gespielt hat. Andere Liebesidyllen, die sich in entlegener Gegend abspielten und schon deswegen mehr im Geheimen blieben, bei denen eine geringere Sorgfalt und Ordnungsliebe der Braut der Nachwelt weniger Liebesbriefe erhalten hat, und die so uns kaum bemerkbare Spuren hinterlassen haben, können aber Kleists Herz und Sinne in viel höherem Maße ge- <355:> fangen genommen haben, für sein ganzes Leben und für seine dichterische Entwicklung von viel weittragenderer Bedeutung gewesen sein. Wenn wir von diesem Standpunkt Kleists Liebesaffären betrachten, werden wir einige von ihnen zunächst nur als Gerüchte registrieren können, einzelne andere aber werden wir in der Lage sein, an der Hand neuen Materials in ein helleres Licht zu setzen.
Kleists Reise mit Pfuel, die in Paris endete, bedeutete eine Fahrt nach Abenteuern und besonders nach Liebesabenteuern, wie ich schon oben (S. 14) aus dem vorhandenen Material gefolgert habe. Auf dem Heimwege von Paris soll er die Bekanntschaft der Günderode gemacht und in Wiesbaden mit der Tochter eines Predigers ein zartes Verhältnis angeknüpft haben. Kein sicheres Zeugnis besitzen wir für diese Gerüchte; wir werden sie aber nicht ohne weiteres von der Hand weisen können, einmal weil solche Gerüchte nicht ganz grundlos zu entstehen pflegen, andererseits weil Kleist in der vorhergehenden und mehr noch in der folgenden Zeit ein großes Liebesbedürfnis an den Tag legt. Die Neigung der noch nicht vierzehnjährigen, sehr frühreifen Tochter Wielands, als Kleist in seinem Hause anfangs 1803 weilte, scheint in dem Herzen des Dichters einen starken Widerhall hervorgerufen zu haben. Das beweisen seine nachmaligen brieflichen Äußerungen an Ulrike, die für den sonst namentlich in Herzensangelegenheiten so verschlossenen Dichter so vielsagend klingen. Im voraufgehenden Jahre, im Frühjahr 1802 muß sich ein auf Kleist sehr nachhaltig wirkendes Liebesereignis während seines Aufenthaltes in der Schweiz abgespielt haben. Von der Aarinsel bei Thun schildert er Ulrike ein zärtliches Liebesidyll, welches auf ein intimes Verhältnis mit dem „Mädeli“ schließen ließ. Genauere Nachforschungen haben, wie sich von vornherein annehmen ließ, das irrige dieser Annahme erwiesen. Aber doch scheint alles darauf hinzuweisen, daß hier am Thuner See sich ein Ereignis abspielte, das auf die Sexualsphäre Kleists einen starken und nachhaltigen Eindruck hervorrief. Die Liebesidylle, die er in <356:> seinem Briefe schildert, ist ein Produkt seiner Phantasie, aber ein äußerer Anstoß muß vorhanden sein. Daß eine Nachwirkung dichterischer Tätigkeit, wie so häufig bei Kleist vorliegt, scheint ausgeschlossen, für ein greifbares Ereignis spricht die Tatsache, daß nicht bloß bei dieser Briefstelle, sondern auch in der Folge die Berührung oder Schilderung eines das Sexuelle berührenden Themas auffallend häufig die Erinnerung an den Thuner See wachruft. Ich erinnere an das Gedicht: „Der Schrecken im Bade“, in das zweifellos Reminiszenzen vom Thuner See hineinspielen und an jene Stelle im „Marionetten-Theater“, in der eine zwischen Kleist und Pfuel sich abspielende Szene, die das sexuelle Gebiet streift, an den Thuner See verlegt wird. Ich glaube, der Brief selbst und die angeführten dichterischen Dokumente lassen den Schluß zu, daß sich am Thuner See selbst oder doch in seiner Umgebung, ein Liebesereignis abspielte, das auf Kleists Gemüt einen gewaltigen und nachhaltigen Eindruck hervorrief.

Emendation
Gefühlslebens] Gefühllseben D

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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