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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Christian Wilhelm Spieker, Familiengeschichten für Kinder. 2 Bde. (Leipzig: Voß’sche Buchhandlung 21818 [EA: Dessau, Leipzig: Georg Voß 1808; Bd. 3, T. 1]), Bd. 2: Die glücklichen Kinder. Ein Geschenk für gute Söhne und Töchter, 113-145; darin: 130-137

„Die Familie Schroffenstein“ als moralische Erzählung

Er eilte zu seinem Vater, um ihm des Grafen Anerbieten und den Zweck der Sendung des gemordeten Herolds zu verkünden. Jener war aber in den Forst geritten, um seiner gepreßten Brust Luft zu machen, denn ihn quälte der nagende Vorwurf, daß er die erste Veranlassung zu allem Unheil gegeben habe. Es ist kein Herz so sehr verwildert, daß es doch nicht einmal von der Stimme der Menschheit ergriffen und den Verlust des inneren Friedens schmerzhaft empfinden sollte. – Ottokar folgte dem Vater ins Gebirge, und seinem Gedanken sich hingebend, schlenderte er einen Bergstrom entlang auf engen Pfaden dahin. Mit einemmale sah er eine niedrige Hütte vor sich offen stehen. Er trat hinein, und sah ein junges Mädchen in der Küche auf den Knieen liegen, und eine bejahrte Frau etwas unter wunderbaren Geberden, aus dem Schornstein holen. Verwundert über diese sonderbare Erscheinung schritt er näher, und sah, daß die Alte einen kleinen Finger aus dem Schornstein geholt hatte, Kreuze darüber machte, und un- <131:> verständliche Sprüche murmelte. – Erschrocken fuhr er auf, denn ihm fielen die beiden kleinen Finger bei, die seinem gemordeten Bruder fehlten. „Woher habt ihr den Finger?“ fragte er mit schrecklicher Stimme. Die beiden weiblichen Wesen fuhren zusammen; da sie sich aber wieder etwas von ihrem Schreck erholt hatten, erfuhr Ottokar, nach einigem Weigern, von den jungen Mädchen, das eine Tochter der Alten war, Folgendes:
Wir suchten einst Kräuter am Waldstrom im Gebirge, da schleifte das Wasser ein ertrunkenes Kind ans Ufer. Wir zogen es heraus, gaben uns viel Mühe um das arme Wurm, und suchten es ins Leben zurückzurufen. Aber es war vergebens, es blieb todt. „Nun, sagte die Mutter, so wollen wir wenigstens den kleinen Finger der linken Hand abschneiden, denn der thut nach dem Tode weit mehr Gutes, als eines Erwachsnen Hand im ganzen Leben. Wenn man ihn drei Tage lang im Schornstein hängen läßt, und ihn dann unter allerlei Sprüchen und Gebeten (die die Mutter versteht) einsegnet, und unter der Schwelle des Hauses vergräbt, so kommt nichts Böses ins <132:> Haus. – Nachdem wir den Finger abgelös’t hatten, kamen zwei Männer aus Warwand, denen wir die Geschichte des ertrunkenen Knaben erzählten. Darauf wollten sie sich den kleinen Finger der rechten Hand ablösen. Sie mochten auch so was gehört haben, verstanden es aber nicht, denn der rechte Finger hilft nicht. Wir machten uns davon, und was weiter geschehen ist, wissen wir nicht.
Die wundersamsten Gefühle durchkreuzten sich in Ottokars Brust, als er diese Geschichte hörte. So war das Räthsel der schrecklichen Begebenheit gelöset, Sylvester war unschuldig, der Vater im Irrthum. Er stürzte zur Hütte hinaus, um den Vater aufzusuchen und ihm sogleich die gemachte Entdeckung mitzutheilen. Und o hätte er den Vater gesprochen, ihm Sylvesters Unschuld entdeckt und dessen Vorschlag zur festen Vereinigung beider Häuser bekannt gemacht – gewiß die ganze Sache würde eine neue glückliche Gestalt gewonnen haben. Mit Freuden hätte Rupert in die Heirath gewilligt, Alles wäre vergeben und vergessen worden und beide Häuser hätten in glücklicher Eintracht nur Eine Familie aus- <133:> gemacht. Aber es ist ein Unglück für die Großen und Mächtigen der Erde, daß sich ihren Wünschen gleich ein Arm darbietet, der sie ausführt, der ihren Willen zur That macht. Nicht den hundertsten Theil des Bösen würden sie verüben, müßten sie es mit eigner Hand verrichten.
So auch hier. Fintenring, ein Vasall Sylvesters, ritt gerade mit drei seiner Knappen durch den Forst, der Burg Warwand zu, als er Ottokarn in die Hütte gehen sah. – Halt! dachte er, wenn du diesen deinem Herrn gefangen zuführen könntest! Wie erfreulich würdest du ihn überraschen, und welch ein herrlicher Lohn würde dir zu Theil werden! „Steigt ab, ihr Knechte, und verbergt euch mit mir hinter jenem Gebüsch. Sobald Ottokar wieder aus der Hütte kommt, fallen wir über ihn her, und nehmen ihn mit uns gefesselt nach Warwand. Er ist unbewaffnet; Widerstand kann er nicht leisten.“
Die Knechte thaten, was ihnen ihr Herr befohlen hatte, und so wie Ottokar mit raschem Schritt aus der Hütte trat, stürzten jene hervor, und suchten ihn zu Boden zu reißen. <134:> Aber sie fanden einen unerwartet tapfern Widerstand. Ottokar wußte mit großer Behendigkeit einem der Knechte das Schwerdt zu entreißen, und drang nun mit unwiderstehlicher Gewalt in den Feind ein. – Jetzt sahen sich die Verräther genöthigt, auch nach den Schwerdtern zu greifen, und so entstand ein harter Kampf, worin doch endlich Ottokar der Uebermacht weichen mußte. Zwar hatte er einen der Knechte zu Boden gestreckt und einen andern schwer verwundet; aber er selbst, da er ohne Helm und Schild war, wurde so mit Wunden bedeckt, daß er zuletzt matt und kraftlos niedersank. Fintenring verband ihm die Wunden mit Hülfe des alten Weibes, welches dem Waffengeklirr nachgegangen war, so gut, als es die Eile erlaubte, und nahm dann den in tiefer Ohnmacht liegenden Ottokar mit aufs Pferd. <135:>

Neunzehntes Kapitel.

Beschluß. Ottokar stirbt. Eindruck seines Todes auf   Sylvester und Rupert. Die Folgen davon. Friede. – Die beiden Familien trennen sich. – Beschluß des schönen Nachmittags.

Warwand
lag ganz in der Nähe, und so war Fintenring mit dem erblaßten Ottokar bald dort. Aber wer vermag es, den Schmerz zu schildern, der den Grafen Sylvester ergriff, als er Ottokars Leichnam erblickte. Er verhüllte sich das Gesicht, und warf sich sprach- und gedankenlos in den Sessel. Nur der Freudenruf der Umstehenden: „er lebt! er erholt sich wieder! “ rief sein Bewußtseyn zurück. Er sprang auf, und knieete vor dem mit Wunden bedeckten Körper nieder. Aber es war nur ein leiser Hauch, der noch den letzten Lebensfunken angefacht hatte. So glänzt die Lampe, der es an Oel gebricht, noch einmal hell auf, und erlischt dann völlig. – Ottokar konnte nur noch die Worte hervorbringen: „das Weib im Walde – – Sylvester unschuldig – – Vater! Vater! Friede – Versöhnung.“ – Er verschied, und Jero- <136:> nimus ritt sogleich, unter Fintenrings Begleitung, zu der Hütte des Waldweibes, und hörte von ihr die Geschichte, die ihre Tochter Ottokarn erzählt hatte.
Von hier aus begab er sich sogleich nach Rossitz, wo man Ottokarn schon vermißt und allenthalben vergebens gesucht hatte. Dem Grafen Rupert ahnete nichts Gutes, als er das zerstörte und kummervolle Gesicht des Jeronimus sahe, doch hörte er die schreckliche Begebenheit mit scheinbarer Ruhe an. Aber es überlief ihn kalt, wie Eis, er fuhr sich einigemal mit der Hand über das bleiche Gesicht, blickte dann lange starr nach einem Orte hin, und stand, stumm und in sich gekehrt da. Der Geist schien ihn verlassen zu haben. Dann richtete er sich langsam wieder auf, und blickte zum Himmel; eine helle Thräne entrollte dem Auge.
„Wir reiten nach Warwand, Jeronimus,“ sagte er mit gepreßter Stimme, bestieg sein Roß, und ritt langsam und sprachlos den Weg nach Warwand.
Sylvester stand am Fenster, und trauete kaum seinen Augen, als er Ruperten schwer- <137:> müthig auf seine Burg zureiten sah. Er ging ihm bis zum Schloßthore entgegen, um ihn selbst zu empfangen. Als Rupert vom Pferde gestiegen war, sah er Sylvestern lange mit starren unverwandten Augen an, dann eilte er auf ihn zu, warf sich in seine Arme, und rief aus: „Ach ich bin unglücklich, sehr unglücklich! Und das durch eigene Schuld! Zeig’ mir meinen Ottokar!“ – Tief erschüttert führte ihn Sylvester zu der theuren Leiche. Da stand der arme kinderlose Vater stumm und gedankenlos, und starrte den entseelten Körper seines theuren Sohnes an. „Deine letzten Worte waren: Friede! Versöhnung!“ sagte er, warf auf Sylvestern einen wehmüthigen Blick, reichte ihm die Hand, und fuhr fort: „Ich bin wohl recht unglücklich, guter Sylvester, stehe in der ganzen weiten Schöpfung so arm und allein da. Ich bin hart, sehr hart gestraft für meine blinde Rachsucht, für mein böses Mistrauen. – Du bist ein edler Mann, Sylvester; deine Großmuth hielt ich für Heuchelei. O verzeihe mir den Kummer, den ich dir gemacht habe; dem Unglücklichen verzeiht man ja so gern!“ <138:>

Emendation
Mit] Mie D

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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