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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Edmund Stengel (Hrsg.), Private und amtliche Beziehungen der Brüder Grimm zu Hessen. 3 Bde. (Marburg: Elwert 1886/1910), Bd. 3 (1910): Briefe der Brüder Grimm an Paul Wigand, 68-71

Jacob Grimm an Paul Wigand, Kassel, 21. 2. 1811

Caßel am 21 Februar 1811.

Lieber Wigand ich hätte dir schon eher auf dein angenehmes Schreiben geantwortet, wenn ich dir nicht ein kleines Buch mitschicken wollen, das ich über den dir wohl noch aus dem N. lit. Anz. bewußten <69:> Meister und Minnesingerstreit habe müßen drucken laßen. Da es eigentlich nur meine Gegner ganz verstehen können, so wird es vermuthlich nicht so günstig recensirt werden, wie das deinige, unerachtet es mich gewiß mehr Arbeit gekostet hat. Du glaubst kaum wie vielerlei und wie viel mal ich die Quellen durchgelesen habe, um auf festen Grund und Boden zu kommen, daher ist es äuserlich sehr mangel- (S. 2) haft, und ich würde es jetzt in der Hinsicht viel anders und beßer machen, als vor einem halben Jahr. Hast du Lust einiges daraus durchzulesen, so schreib mir doch, was dir gefallen und misfallen hat. Das ganze war ein mir zu frühzeitig abgedrungenes Werk und ich habe daran weniger Lust gehabt, wie an einigen andern, die ich baldig vornehmen werde, namentlich eine Ausgabe isländischer Sagen, in Original u. leider auch Ubersetzung, ferner eine Ausg. des altdeutschen Reinhart Fuchs aus der vaticanischen Handschrift.
(S. 3) Hierbei lieber Freund, empfängst du wieder zwei Bände Holberg; soviel ich von diesem Dichter im Original selbst (denn die Übersetzung ist nicht so abstechend, wie du dir wohl einbildest) gelesen habe, bin ich deiner Meinung, daß die Intrigue selten etwas taugt u. aller Vorzug in der lebendigen Charakteristik liegt.
Doch diese scheinst du mir, gleich andern in neuerer Zeit zb. Tiek etwas zu hoch anzuschlagen, es streift doch alles an einer oberflächlichen Lustigkeit hin, so wahr diese auch gehalten ist, Tiefes ist nichts darin, immer etwas gemeines, obwohl dies freier als bei Iffland und Kotzebue, welcher <70:> letztere blos darum etwas feiner mitunter wird, weil er nicht in (S. 4) der beschränkten Zeit Holbergs lebte. Daß dem letztgenannten das Höhere versagt gewesen, folgt unter andern schon aus seiner Unfähigkeit zu dem tragischen, ich kann mir nicht recht einen Lustspieldichter denken, der nicht mitunter auch tragische Saiten zu stimmen und rühren wüßte; umgekehrt gilt das nicht, jenes aber auch von Kotzebue, der nur weinerlich theatralisch seyn kann, sein bedeutendes Talent für letzteres ist ebenso auffallend als die unbegreifliche Fadheit, die bei allem, was er nur schreibt, doch im Hinterhalt steckt und gar zu gern hervortritt. Wäre er nicht ehrlich genug, so möchte ich in ihm keine deutsche Spur finden, sondern nur ein galant französisch und schmutzig rußisches Wesen. Holberg hält sich (S. 5) rein in seinen Schranken und es ist zu denken, wie wohl er seinen Zeitgenoßen, ehrlichen Bürgern und Kaufleuten gefallen haben muß.
Auf deine Abfertigung oder Zurechtweisung der Mnemonik machst du mich begierig, um so mehr, da du von einem richtigen Gesichtspunct ausgegangen bist. Alles Mechanische soll man nie auf den Geist anwenden, der unfehlbar darin untergeht oder geschwächt wird; haben geistreiche Männer des Alterthums von solchen äußeren Vortheilen Gebrauch gemacht, so mußten sie es eher nach der Verfaßung ihrer Sitten u. s. w. ich für mein Theil wünsche, daß nie in Deutschland eine öffentliche Kunst der Beredsamkeit getrieben werde, worin jederzeit etwas falsches liegt, und die nur dann nicht übel ist, wenn man etwas (S. 6) noch schlech- <71:> teres voraussetzt, eine große Verderbtheit des gemeinen Haufens, der durch äusere Reizmittel geholfen werden soll.
Willst du eine vortreffliche Erzählung lesen, so schaff dir Kleists Erz. an, worin nun der Kohlhaas, davon der Anfang schon im Phöbus stand, vollendet ist. Eine übermaßen gelungene u. lebende Geschichte.
Mit unserer Lesegesellschaft gehts kümmerlich, weil die besten Journale in der Noth der Zeit eingehen, wie vaterländ. Mus. Abendblätter, Pantheon u. s. w. Kommst du in der Ballzeit einmal nach Paderborn, so vergiß ja nicht, bei den dortigen Büchersammlern vorzusprechen. Nebst herzlichen Grüßen von uns dein treuer Freund

Jacob
[Zusatz von Wilhelms Hand:]           und Wilhelm.

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Letzte Aktualisierung 23-Jan-2003
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