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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Reinhold Steig (Hrsg.), Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm (Stuttgart, Berlin: Cotta 1904), 82-84

Achim v. Arnim an Jacob Grimm, Berlin, 2. 11. 1810


Ich danke Dir für Deinen herzlichen Brief, ich sehe, daß manche unsrer Ansichten verschieden, um so erquicklicher ist es mir, daß diese Verschiedenheiten, statt uns zu trennen, auf eine gründlichere Art, als Ansichten überhaupt vermögen, uns verbinden. Zu diesen Verschiedenheiten rechne ich <83:> besonders Dein Urtheil über die Wahlverwandtschaften. Alles Darstellende und Beschreibende darin hat dieselbe wunderbare Wahrheit und Vollendung wie das Betrachtende, nur die Menschen weiß ich mir nicht zu gestalten, den Architekten ausgenommen, weil ich ihn gesehen habe\1\. Zu diesen Verschiedenheiten rechne ich den Vorwurf, den Du meinem Grafen machst, daß er sich zu passiv verhalte; woher stammen denn alle Fehler Jupiters als daher? und er [Graf Karl], der sich mit dem Anfange seines Strebens, wo sich Geschäft und Bestimmung erst entwickeln soll, in den Netzen einer Leidenschaft verwickelt hat, soll freier sein als die himmlischen Götter alter Dichtung? Ferner, Du willst fehlerfreie Menschen in der Dichtung, das ist leicht, sobald die Dichtung, wie die älteren Mythengeschichten, blos den Kreis der Begebenheiten wundervoll zusammenbringen, die Menschen aber blos wie Tapferkeitsmaschienen, Liebesmaschienen, Haßmaschienen wirken lassen; genügte uns aber diese Gattung poetischer Erfindungen, so wäre wohl nie eine neuere Poesie verlangt worden und erzeugt, denn in jener Beziehung hat sie die ältere nie erreicht. Aber die Menschen, wie sie enger zusammenlebten und einander öfter in wunderbarem Verkehr anblickten, fühlten das Fördernde und das Widerstrebende in allem; weder große Tugenden noch große Schreckenthaten erschienen mehr als plötzliche Eingebungen, alles entwickelte sich ohne Sprung, es gab das Bessere, aber nichts Fehlerfreies mehr, das bemühten sich neuere Dichter zu zeigen, und Fouquets Fehler liegt mir besonders darin, daß er das Maschinenspiel der alten Dichtungen mit der Entwickelung neuerer Dichtung wunderlich abwechseln läßt, das heißt, Wünsche der Phantasie, die nur darum reizen, weil sie unerreichlich, mit wirklicher Erfüllung zusammenreiht. Doch genug über meine Colonie; ich denk Dir bald etwas Neues zu senden, sowie ich auch Deine literarischen Aufträge baldigst auszuführen denke. Hagen hat von Nyerup Kämpe Visers bekommen, von denen nur ein Exemplar existirt, was jener während der Belagerung von Kopenhagen immer in der Hosentasche bei sich getragen. Hagen will [vgl. Pantheon 2, 155] seinem Heldenbuche, das stückweise herauskommt, eine Uebersetzung aller der Romanzen beifügen, die auf Nibelungen oder Heldenbuch Beziehung haben. Die in gelehrten Blättern angekündigte Geschichte der deutschen Poesie von Hagen ist nichts als ein sehr vermehrter Abdruck der Literarnotiz, die seinen altdeutschen Gedichten vorangesetzt ist. Montag Abend [5. Nov.] von 4-5 fängt er seine Vorlesungen an, ich werde hospitieren und Euch be- <84:> richten. Von allem Uebrigen, was unsre Stadt neues trägt, versichert Clemens Euch vollständig berichtet zu haben; und ich weiß, er sagt über die Tagesereignisse lieber etwas, was noch keiner weiß, als daß er etwas vergesse, was alle wissen. Ich bin noch immer ein thätiger Mitarbeiter am Abendblatte, ungeachtet es mir im Ganzen nicht gefällt, blos um hin und wieder meine Gesinnung über allerlei Minister zu sagen [Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe S. 60]; wenn Ihrs in Euren Lesekreis aufnehmen wollt, so wird es Euch doch manchen Spaß machen, es erscheint bei Hitzig. Leb gesund und guten Muthes Dir und Deinem Achim Arnim.

\1\ Wilhelm von Humboldt 1810 an Goethe: Mit Achim von Arnim lasse es sich auch am besten über die Wahlverwandtschaften sprechen.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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