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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Reinhold Steig, Clemens Brentano und die Brüder Grimm (Stuttgart, Berlin: Cotta 1914), 84-91

Clemens Brentano an Wilhelm Grimm, Berlin, Mitte Febr. 1810


Lieber Grimm! Nichts hat mich je so verdrossen, als daß ich heute an Sie schreiben muß, da es mich zuerst in die völlige Gewißheit setzt, daß Sie nicht mehr in der Vorderstube sitzen, wo unser Briefwechsel doch viel commoder war. Der große Fabrikant in der Eckstube [Arnim] wird Ihnen schon gemeldet haben, daß er hinter Cardenio [Halle und Jerusalem] bereits wieder einen Roman [Dolores] von zwei Bänden, jeden von etwa 20 bis 30 Bogen, angefertigt hat, an welchem Reimer bereits druckt; es war Anfangs eine rührende Erzählung, für das Pantheon bestimmt, variirte und engrossirte sich im Abschreiben durch einige Blutschande, von der seine Werke nicht frei sind, zu einem dicken und reicheren Buch, als wir vielleicht je so schnell eines gewonnen haben. Sie werden hier den Hollin, große Parthien aus dem Tanner [Arnim und Grimm S. 50], die Poststazionen [2, 50] und Nonnenbriefe aus dem Einsiedler [1, 234] als Novellen wieder hören, aber untergehend in ungemeinem herrlichen Schatz ringsumher. Mir bleibt der erste Theil des Cardenio lieber, welchen er jetzt zum Druck bei Zimmer abschreibt, und auch schon stark umändert, aber ich schlage ihn eher tod, als daß er mir etwas störendes einmischen soll.
Unsre Tischgesellschaft hat sich jetzt sehr vermehrt. Der Poet Kleist, den Müller einmal tod gesagt, und nachdem er ihn hier wieder besucht und darauf aufs Land gegangen, mir als einen plötzlich mystisch verschwundenen angekündigt, ist frisch und gesund unser Mitesser, ein untersetzter Zweiunddreißiger, mit einem erlebten runden, <85:> stumpfen Kopf, gemischt launigt, kindergut, arm und fest. Von seinen Arbeiten habe ich im Phöbus mit ungemeinem Vergnügen die zwei ersten Akte des Trauerspiels Käthchen von Heilbronn und die Erzählung Kohlhaas gelesen, worin vieles sehr hart, vieles aber ganz ungemein rührend und vortrefflich gedichtet ist, es macht Ihnen gewiß Vergnügen. Was mich aber bei der Sache ängstigt, ist, daß er sehr schwer und mühsam arbeitet\1\.
Außerdem ist ein stehender fester Beisitzer unsres Freßcollegiums der alte Graf [Hans Moritz] Brühl, einer der anmuthigsten alten Charaktere, die vielleicht je gelebt haben; es ist derselbe der den berühmten sächsischen in Kupfer gestochenen Lustgarten Seifersdorfer Thal angelegt und hier zu Land Schauseebaudirektor war. Er ißt mit uns aus bloßer Feindschaft gegen die Hofetikette, kömmt in einem zerrißnen Oberrock und einem alten Pudel, der ihm gleicht in allem und ihm seine Tabackspfeife nachträgt, dafür trägt er dem Pudel sein Brod nach, das er ihm in die Suppe brockt. Er hat an vielen Höfen gedient, war lang in Malta und Corsika, <86:> ist bei Hof sehr geliebt und dennoch ohne allen äußern Verderb, ein geistreicher alter Plauderer, voll Anekdoten, Gesänge, Jagdstückchen, und hat so ganz und gar keine feine Weltfaçon, daß ihn jedermann für einen alten Oberförster oder Husarencorporal hält – dem Förster in Allendorf gleicht er – hat keine Haare als einen alten Schnurrbart, und hat neulich viel kluges über Somnambulismus und Geisterseherei mit mir gesprochen. Nach Tisch bleibt er sitzen und raucht und geht mit Reetzensteen, der ihn für noch amüsanter als mich hält, äußerst ironisch um, er hat ihn neulich zu dessen großer Angst magnetisiren wollen. Eine und zwar ganz unerschöpfliche Seite Reetzensteens hat sich erst nach Ihrer Abreise entwickelt und seitdem nicht mehr aufgehört, nehmlich Taschenspielerkünste und Kartenkünste ohne Ende nach Tisch; neulich fanden wir die Gesellschaft sehr bestürzt und sich aufziehend, weil den Abend vorher sie daselbst von der Polizei Faro spielend erwischt und um einige 20 Frd’or beraubt wurden.
Sodann ist an unserm Horizont aufgetreten der Lyricus mysticus – Graf Loeben – sonst Isidorus orientalis genannt, mit zwei ihm noch von Heidelberg anhängenden Freunden, zwei Herrn von Eichendorff, sämmtlich sehr gutmüthige, etwas sehr üblige gute arme Schlucker, sie stecken in einer kleinen Stube, haben abwechselnd das Fieber, daß immer einer zu Haus bleibt, ich möchte schier fürchten, weil die drei Leute nur zwei Röcke haben und gar keine Wollkoooort-Hosen, wie Sie. Auf ihrem Tisch liegt Rosdorf Dichtergarten und Görres Schriftproben, und dazwischen brennen zwei Rauchkerzen, weil es so ungeheuer stinkt, daß selbst die Violen erster Gang des Dichtergartens nicht zu riechen sind; doch das <87:> sind ja Hundsviolen, die riechen nicht, und die Herrn von Eichendorff scheinen gute Baurenviolen herumzulegen. Der Graf Loeben ist ein so sächsischer Sachse, daß weder Reetzensteen noch der Schneider Jonas von der Funkenburg [edit. Finkii] es mit ihm aufnehmen können, er ist klein, und Wichmann und Malsburg sind Helden und Wüthriche im Ton gegen ihn, in Kassel würde ihn die Kahlenberg sehr interessiren, denn er liebt, was würklich sehr liebenswürdig ihn ihm erscheint, alle Menschen, ist überhaupt in sich unendlich glücklich und in seiner Seele wunderbar reich, wie er mir gesagt; alle seine mystische Poesie hat er plötzlich als einen Irrthum und Nachahmerei des Novalis erklärt und dadurch seine abwesenden Freunde, welche ihn noch hie und da, als des Novalis zweiten Theeaufguß, anbeten, treulos compromittirt. Er hat sich, seit vier Wochen, einen langen Bart wachsen lassen, so daß er jetzt eine Physiognomie hat, wie ein schimmlichter Limburger Käse; bei allem dem ist er ein sehr vortrefflicher, rührend guter Mensch, gegen dessen lyrische Liederproduktion der Arnim in der Menge, wie eine Sandbüchse gegen den ganzen Sand am Meere, einstecken muß. Seine Gedichte werden jetzt bei Sander gedruckt, er fürchtet aber, das Buch werde nie herauskommen, weil er stets mehr dazu macht\1\. <88:>
Zur großen Verwunderung und Gelächter ist Chamisso, Darkelion Kazzenmaul, vor drei Wochen hier herumgegangen, hat Abschied genommen und ist im Moniteur als professeur suplementair zu Napoléonville verkündet worden, er weiß selbst nicht, was er dort vortragen soll, ich habe ihm gerathen, über Wielands Suplementbände zu lesen, ich vergesse den Kerl nimmer mehr, er hat mich Montags 12 Uhr, als wir von Schede gingen, auf der Gasse umarmt und mir seinen mit Bratensauce grundirten, mit Tabacksöl ausgemalten und mit gefrorenem stinkenden Athem gefirnißten Schnurrbart wie ein nasses beschi…s Vogelnest mit zerquetschten Eiern aufs Maul gedrückt. Apropos, der Herr von H. ist seit Ihrer Abreise nirgends mehr zu finden, haben Sie ihn dem Jacob mitgebracht? Proficiat.
Der dicke gute, alle Jahr einmal verrückte Buchhändler Sander hat mich vor sechs Wochen bei [Adam] Müller gesehen und sich leider so in mich verliebet, daß ich endlich seinen Einladungen schicklich nicht mehr widerstehen konnte, und neulich auf einem mir angestellten Abendschmaus bei ihm war, wo ich in der drollichsten Lage war und unaufhörlich lachte. Es befand sich dort Bernhardi, Fouquet, der Kapellmeister Weber, Pistor, Kleist, Golz, Müller &c. Ich gab mich nur mit Sander ab, weil ich die Frau vermeiden wollte, dieser setzte sich mit mir und dem Kapellmeister Weber an einen Tisch allein, er selbst sieht aus wie ein geschwollener, begeisterter, ja enthusiastischer, ungeheurer A…, Weber ebenso dick wie ein dergleichen sentimentaler, im Matthissonischen Geschmack, dazwischen saß ich und sprach zu beider Zufriedenheit von Musik, von der ich nichts verstehe, und Sander, der der übrigen Gesellschaft drei <89:> Bouteillen Medoc vorgesetzt, hatte für uns drei, sechs Bouteillen Rüdesheimer, den die andern, wie er sagt, nicht verstünden, aufmarschiren lassen, und wir soffen nicht schlecht; der andere Tisch kam hierüber in solchen Zorn, daß sie mit Händen und Füßen trommelten, und Alberti, der oben nicht schlafen konnte, wüthete drüber. Meine beiden A–trabanten wurden immer violetter, theils vor Wein, theils vor Begeisterung, Sander fraß ganze Semmlen und Schwartemagen in einem Bissen, und Weber stieß sechs Kelchgläsern stillschweigend die Füße ab, steckte sie in den Sack und sagte vitrum est mortuum, und ich lachte mich heimlich nach Lust aus. Fouquet fragte mich, wie mir der Sigurd gefalle, und ich sagte ihm: recht sehr schlecht; der zweite Theil wird jetzt gedruckt. Er behauptet, Ihr [Grimm und Arnim] hättet ihn in der Rezension [Heidelberger Jahrbücher 1809. 2, 11, 121] nicht verstanden; ich erklärte ihm, meine gänzliche Verachtung des Buchs, als eine mir selbst unerklärbare Erscheinung, da ich doch wisse, wie ernst ers meine und wie viel Mühe er sich gegeben. Ja, sagte er dabei, ja ich habe gebetet dabei und mit Gott gerungen. Er ist ein kurzer untersetzter Kerl, spricht seichter aber mehr und treuherziger als Hagen, und kann einen ungemein ennüyiren, er lacht auch so leer wie jener und noch öfter. Hagen hat jetzt von Kindlingers Auktion den alten gehörnten Siegfried in Versen, Druck 8. s. a., woraus das Volksbuch entstanden, es ist wie Ecken Ausfahrt eingerichtet. Zwischen Schleiermacher und mir herrscht fortwährend dieselbe Antipathie, wir weichen uns überall aus.
Imaginez vous, der süß versmolzene ist hoch am Brett, in allen hohen und höchsten Cirkeln wird er angebetet, <90:> Grafen und Prinzen und -finnen und -zessen\1\ fragen einander nach ihm, er ist bei der gelehrten medizinischen Section angestellt worden, und hat neulich den alten Stadtarzt Formey folgendermaßen auf den Rückenstreicher herausgefordert. Er kam zu ihm und sprach, ein paar Pistolen auf den Tisch legend: Herr Geheimrath, man hat mir gesagt, Sie hätten gesagt, ich sei ein hergelaufener Ignorant, der in Rom mit Vögeln gefischt hätte und nun von einer laxirenden Engländerin unterhalten würde, drum müssen Sie sich mit mir schießen. Formey versicherte ihm aber, er sei übel berichtet, er sei im Gegentheil sein bester Freund, und invitirte ihn gleich zum Mittagsessen, welches Colrausch [Kohlrausch] annahm, und alles war wieder süß versmolzen, so hat er es selbst uns erzählt.
In Ihrer Stube baut Pistor jetzt eine große Elektrisirmaschine auf, die er in der letzten Zeit gemacht hat; Betty [Pistor] sagt noch immer: Grimm ist in Potsdam; Pistors und Albertis denken oft mit ungemeiner Liebe an Euch zurück. Es haben Euch wenige Leute außer wir so herzlich lieb, und wenn Ihr ihnen einmal schreibt, macht Ihr ihnen große Freude. Von Runge habe ich in dem Augenblick, als ich ihm einen großen Brief schrieb, einen sehr artigen, aber etwas philosophisch festgerannten Brief erhalten, indem er mich um Mittheilungen von Kunstansichten bittet [Brentanos Ges. Schriften 8, 143]. Der Blasebalg der Liebe ist noch immer stark im Gang, und verfolgt alle poetische Jünglinge.
Daß Savigny höchst wahrscheinlich zu unsrer großen Freude an die Universität kömmt, hat Euch Arnim wohl <91:> schon gemeldet, wir sehen dem Abschluß der Verhandlung ängstlich entgegen. Ich werde Anfangs Mai nach Bukowan gehen, wo Savigny auch hin will. Wenn Sie böhmisch könnten, könnten Sie wieder mitreisen. Schreiben Sie doch dem Christian [Brentano, der damals in Bukowan war] einmal wegen Aufsuchung böhmischer Sagen oder Empfehlung eines Prager Gelehrten oder Bibliothekars. Seine Adresse ist bei Hofrath von Altmann in Prag. Louis’ Bettinensbild [Goethe und die Brüder Grimm S. 52] sieht aus, wie eine hochschwangere arme Sünderin, die im Block sitzt; gleicht es nicht der verruchten Mamsell Klein? mir ist es recht widerlich. Göthe mag sagen, was er will, denn es ist zu bedenken, daß er wenigstens ein halb Jahr dran gearbeitet. Er war in Landshut, um Savigny und Gundel auch zu machen. Ihr habt wohl gehört, daß Meline einen Frankfurter Senator Guaita geheurathet [am 8. Januar 1810], auf der Schule nannten wir ihn den Wonneschisser, weiter weiß ich nichts von ihm, er kann den Engel sein Lebtage nicht verdienen. Herzlich bitte ich um ein klein Verzeichniß der Bücher, die noch bei Ihnen sind, machen Sie es mit Muße. Wenn Ihr einmal Frote dramatische Werke, hier übersetzt Nicolai 1796 4 Bändchen, erhalten könnt, so kauft sie, sie sind sehr originell. Grüß Euch Gott sämmtlich. Clemens Brentano.

\1\ Wegen dieser ganzen Kleist-Stelle verweise ich auf mein Buch „Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe“ (1901, S. 12. 13. 442). – „aufs Land“: nach Potsdam; vgl. meine „Neue Kunde zu Heinrich von Kleist“ (1902, S. 6). – „todgesagt“: das Gerücht war aus politischen Gründen ausgesprengt worden, um ihn für einige Zeit von der Bildfläche verschwinden zu lassen (vgl. meinen Aufsatz zu seinem hundertjährigen Todestage „Heinrich von Kleist als Politiker“, Frankfurter Zeitung 1911, Nr. 316); auch der Königsberger Scheffner schrieb am 5. September 1809 dem Burggrafen von Schön: „Heinrich Kleist soll an den bei Wagram erhaltenen Wunden gestorben sein“ (aus den Papieren Schöns 1875. 2, 242). – „Trauerspiel“ Käthchen: Berliner Kämpfe S. 184, in der Beilage der „Täglichen Rundschau“ zu Kleists hundertjährigem Todestage, 20./21. November 1911, steht von mir ein Aufsatz „Zu Heinrich von Kleists Bettelfrau und Käthchen“.
\1\ Ueber Graf Loeben und die Brüder von Eichendorff vgl. „H. von Kleists Berliner Kämpfe“ S. 490ff., und die von Wilhelm Kosch herausgegebenen „Tagebücher des Freiherrn Joseph von Eichendorff“ (Regensburg 1908) nebst Minors Ausführungen in der „Zeitschrift für österreichische Gymnasien“ 1909. – Eine Tagebuchnotiz des Grafen Loeben vereinigt bald darauf, am 23. Februar 1810, den Schauspieler Bethmann sowie Brentano, Siebmann, Römer, Kohlrausch, Arnim, Müller, Kleist, Theremin, Eichendorff, Loeben selbst zu einer Abendgesellschaft bei dem Dr. Wolfart (Euphorion 15, 575).
\1\ d. h. Gräfinnen und Prinzessen.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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