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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Reinhold Steig, Clemens Brentano und die Brüder Grimm (Stuttgart, Berlin: Cotta 1914), 172-176

Wilhelm und Jacob Grimm an Clemens Brentano, Kassel, 22. 1. 1811

<Wilhelm Grimm:>
Nebst Wunschung zu dem nach dem Calender sich eingestellten Neuenjahr alles Gutes: Wilhelm lebt noch und ist gutes Muthes.
Einen ausführlichen vortrefflichen guten Plan zu dem altdeutschen Sammler hat der Jacob verfertigt und angelegt, ich weiß weiter nichts hinzuzusetzen, als daß er mich ebensosehr interessirt, daß, wenn er gelingt, er ebenso wichtige als ergötzliche Resultate geben muß, und daß Sie ferner mit Rath und That nach Ihrer Güte beistehen müssen. Sobald meine Winterarbeit vollendet sein wird, werde ich mich an den Plan zur Herausgabe altdeutschen Scherzes machen und Ihnen vorlegen. Nöthig wird es sein, daß ich von neuem mich genau mit dem sagenmäßigen darin bekannt mache, weil sich aus diesem allein der rechte Zusammenhang und die Ordnung ergibt. Vieles wird schon jetzt in unsern Sagen vorgearbeitet sein, weil nur die scherzhafte Wendung darin das besondere ist. Wahrscheinlich gibt es drei Hauptstücke:
I. Lalenbuch.
II. Eigene feststehende Charaktere wie a) der Eulenspiegel. b) die Schneider. c) die Aufschneider. d) Müller und Diebe. e) Lanzknechte. Die Schwaben werden wahrscheinlich Compagnie mit den Schneidern machen müssen.
III. Vermischte gute Possen.
Eins nur ist schwierig, wie es mit den vielen äußerst witzigen Erzählungen zu halten, die etwas stark in die Natur hineingreifen. Behandelt man das Buch als bloßes Lesebuch, so hat man die Censur auf dem Hals, sie ganz wegzulassen, wär auch schlimm und schade, weil sie oft <173:> recht ausgezeichnet sind; kann man aber der Ausgabe auch ein ernsthaftes wissenschaftliches Ansehen geben, so passiren sie vielleicht, wie der Aristophanes, der Schweinereien sagt, wie dort niemals vorkommen, und der in klaren Uebersetzungen erscheinen darf. Es ist möglich, daß eine historische Einleitung solch ein Ansehen bewirkt. Daß ich recht gern eine moderne Orthographie einführe, wissen Sie: überhaupt weichen wir über diese Puncte nicht sehr ab.
Für das mitgetheilte Blatt über Runge\1\ danken wir sehr, es ist recht schön, und gerade das Stück war nicht hier angekommen. Sie haben ein eigenes Talent für glückliches Ausdrücken der Gedanken. Ich habe Arnim meine Meinung über Halle und Jerusalem kürzlich geschrieben [Arnim und die Brüder Grimm S. 101], sagen Sie mir doch, ob Ihnen etwas daran gefällt und ob es Ihnen scheint, als hätt ich etwas bestimmtes damit gemeint und gedacht. Adam Müller will ja in den Abendblättern darüber urtheilen [Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe S. 505], gewiß ist vieles Gute und Richtige in dem, was er sagt; es ist seltsam, daß mich das Gute in seinen Schriften ärgert, weil ich meine, er habe es auf Borg. Der Kohlhaas ist eine kunstreiche treffliche Schmiedearbeit, die jeder mit großem Vergnügen lesen wird; sonst prahlt er etwas wie gelehrte Maler mit Anatomie [ebenda S. 449]. Auf Ihre Märchen freuen wir uns natürlich von Herzen. Wir klemmen jetzt eine dicke runde Holländerin unaufhörlich damit, weil sie noch <174:> ganz unschuldig und einfältig ist, weiß sie vieles: der baare Ertrag soll Ihnen in einer Uebersetzung sobald als möglich zugesendet werden. Die frische Liedlein [oben S. 159] stehen ganz zu Diensten, aber eine Stimme haben wir nicht mehr, sondern verschenkt.
In den Heidelbergern [1810. II. 13. 209] steht eine Recension über Göthes Pandora, die mir fast gewiß von A. W. Schlegel zu sein scheint. Sie ist nicht schlecht, und wie sichs gebührt, viel zum Lob gesagt, ich halte das Gedicht für eines der schönsten und lieblichsten. Daß Göthe Hackerts Leben, einen Band Gedichte, Fortsetzung von Wilhelm Meister herausgeben will, wird Ihnen keine Neuigkeit sein. Unsere Recensionen in den Heidelbergern werden spät genug abgedruckt, ob sie mit der über die Dolores eine Ausnahme machen, indem ich darum gebeten\1\, wird sich zeigen, ich kann mich nicht darüber betrüben, wenns keine Auszeichnung sein soll, indem gegenwärtig oft das elendste Zeug in den Heften steht. Es ist mir, als nähme sich niemand der Redaction mehr ernstlich an. Ist nicht etwa dort ein critisches Institut im Entstehen? Eine Zeitlang bleibt ein neues gut, wenn noch keine Verbindlichkeiten gegen schlechte Recensenten entstanden sind.
Was wir in der Birkenstockischen Auction kaufen wollen, haben wir doch so ziemlich nach unsern christlichen Linsen angesetzt\2\, vieles ist darin für den hiesigen Groß- <175:> Almosenirer und Bischof: ein wunderlicher Mann, der unlängst bei mir war und unsere Kunstsachen besehen wollte, der mir die ganze Zeit über Legenden erzählte und ganz ungemeine Kenntniß darin zu haben schien. Er hat eine hübsche Sammlung alter Drucke, wie er sagt, aber nicht hier: auch eine Sammlung altdeutscher Gemählde. Was davon hier ist, hab ich gesehen, es ist alt, aber nicht schön. Ein Bild hatte er auf riesiges Holz gemahlt, von der rechten Seite ein Christus, von der linken eine Maria\1\.
Das ist alles und blutwenig, was ich von hier weiß. Nun meinen schönsten Dank für die Weste [oben S. 156], da ich sie eher tragen will, als ich sie ausfülle, so muß sie zugeschnürt werden, ist das geschehen, so will ich nächstens darin zum ersten mal ausgehen und den Effect beobachten: vielleicht gibts ein Gegenstück zu meinen ächten Hosen. Welche Kleidung mir aber der Himmel noch bescheert, ich bleib immerdar Ihr getreuer Wilhelm. [Nachschrift:] Bald hätt ich vergessen, Ihnen zu Ihrer neuen Würde als Professor der schönen Wissenschaften, welche die [von Zschokke herausgegebenen] Miscellen für die neuste Weltkunde Nr. 95. 1810 verkündigen, zu gratuliren. Das haben Sie ganz verborgen gehalten. <176:>
<Jacob Grimm:>
Einfällt mir noch, ob man nicht dem guten Perthes die Aufforderung zusenden kann, zum Aufnehmen in den versprochenen Ergänzungsband des Vaterländischen Museums? ad vocem Aristophanes, sehen Sie doch einmal die von Welker eben erschienene Uebersetzung der Wolken an, die nebst dem Commentar mir recht gescheidt vorkommt. Jacob.

\1\ Clemens muß dem Paquet an Grimms das Berliner Abendblatt vom 19. December 1810 beigelegt haben, das Heinrich von Kleist ganz allein mit Brentanos Nachruf an Runge füllte.
\1\ Der betreffende Brief an Boeckh, vom 12. November 1810, ist von mir in den Neuen Heidelberger Jahrbüchern 1902. 11. 265 mitgetheilt; die Recension erschien noch im Jahrgang 1810. 2, 374; vgl. meine Ausführungen in der Zeitschrift für deutsche Philologie 31, 168.
\2\ Wilhelm Grimm an Arnim, 21. Juni 1812: „Ich habe die in der Birkenstockischen Auction erstandenen Bücher eben erhalten, aber meist nur unbedeutende Sachen und enorm theuer … so daß ich für eine kleine Kiste sammt Fracht 30 hessische Thaler bezahlen müssen. Dagegen ist wohl äußerlich nichts zu machen und doch vor Gott offenbar betrogen.“
\1\ Gemeint ist der Bischof von Wendt; im Almanach royal de Westphalie pour l’an 1810, S. 274, heißt es: „M. le baron de Wendt, Evêque, premier Aumônier du Roi, délégué de S. A. R. l’Archevêque pour les fonctions épiscopales et la juridiction spirituelle dans la partie du diocèse de Ratisbonne située en Westphalie.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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