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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 347-350

4. Anekdote (vom Czaren Iwan Basilowitz).


Nicht nur deutsche, sondern auch fremdsprachige Vorlagen hat Kleist zur Anekdote verarbeitet. In den Abendblättern Nr. 50 vom 27. November 1810 steht die Anekdote vom Czaren Iwan Basilowitz und darunter als Quelle angegeben: Barrow’s Sammlung von Reisebeschreibungen nach der französischen Uebersetzung von Targe, 1766. Das Quellwerk für Kleist ist, richtig citirt: Abrégé chronologique ou Histoire des descouvertes … par M. Jean Barrow … <348:> traduit de l’Anglais par M. Targe, Paris 1767, und darin findet sich Bd. 7, 236-238 der benutzte Text, den ich neben Kleist’s Bearbeitung folgen lasse.

Targe:
Ce même Jean Basilowitz fit clouer le chapeau sur la tête d’un Ambassadeur, qui avoit paru couvert en sa présence: mais cette cruauté n’intimida pas Sir Jérémie Bowes, Ambassadeur de la Reine Elisabeth à Moscow.
Il eut la hardiesse de paroître le chapeau sur la tête en présence du Monarque, qui lui demanda s’il n’avoit pas entendu parler de la punition qu’un autre Ambassadeur avoit soufferte, pour avoir osé prendre une pareille liberté: „Oui Seigneur, réspondit Bowes, mais je suis Ambassadeur de la Reine d’Angleterre, qui n’a jamais paru tête nue devant tel Prince que ce soit: Je la représente, et ce sera elle qui me vengera si je suis insulté.“
„Voilà un brave hommme, dit le Czar, en se tournant vers sa cour, qui ose agir et parler ainsi pour l’honneur de sa maîtresse: Qui de vous en feroit autant pour moi?“
Cet Ambassadeur devint favori de Jean, et cette faveur lui attira l’envie de la noblesse. <349:>
Un des Seigneurs assez familier avec le Monarque, l’engagea à éprouver l’habileté de l’Ambassadeur. On le disoit très expert à monter à cheval, et il lui en fit donner un très sauvage, espérant que Bowes seroit au moins estropié par cette épreuve. L’invieux eut le chagrin d’être trompé dans son attente: le brave Anglois non-seulement réduisit le cheval, mais il le fatigua de façon qu’il en perdit toute sa vigueur, et mourut peu de jours après.
Cette Avanture augmenta encore le crédit de l’Ambassadeur auprès du Czar, qui l’honora toujours depuis par des marques particulieres de faveur.

Abendblätter:
Anekdote.
Der Czar Iwan Basilowitz, mit dem Beinamen der Tyrann, ließ einem fremden Gesandten, der, nach der damaligen Europäischen Etikette, mit bedecktem Haupte vor ihm erschien, den Hut auf den Kopf nageln. Diese Grausamkeit vermogte nicht den Botschafter der Königin Elisabeth von England, Sir Jeremias Bowes, abzuschrecken. Er hatte die Kühnheit, den Hut auf dem Kopfe, vor dem Czaar zu erscheinen. Dieser fragte ihn, ob er nicht von der Strafe gehört hätte, die einem andern Gesandten widerfahren wäre, welcher sich eine solche Freiheit herausgenommen? „Ja, Herr, erwiderte Bowes, aber ich bin der Botschafter der Königin von England, die nie, vor irgend einem Fürsten in der Welt, anders, wie mit bedecktem Haupte erschienen ist. Ich bin ihr Repräsentant, und wenn mir die geringste Beleidigung widerfährt, so wird sie mich zu rächen wissen.“ „Das ist ein braver Mann, sagte der Czaar, indem er sich zu seinen Hofleuten wandte, der für die Ehre seiner Monarchin zu handeln und zu reden versteht: wer von Euch hätte das nämliche für mich gethan?“
Hierauf wurde der Bothschafter der Favorit des Czars. Diese Gunst zog ihm den Neid des Adels zu. <349:> Einer der Großen, der zuweilen den vertrauten Ton mit dem Monarchen annehmen durfte, beredete ihn, die Geschicklichkeit des Bothschafters auf die Probe zu stellen. Man sagte nämlich, daß er ein sehr geschickter Reuter wäre. Nun wurde ihm, um den Beweis davon zu führen, ein ungebändigtes sehr wildes Pferd vor dem Czar zu reiten gegeben, und man hoffte, daß Bowes zum wenigsten mit einer derben Lähmung das Kunststück bezahlen würde. Indessen widerfuhr der neidischen Eifersucht der Verdruß, sich betrogen zu sehn. Der brave Engländer bändigte nicht nur das Pferd, sondern er jagte es dermaßen zusammen, daß es kraftlos wieder heimgeführt wurde, und wenige Tage nachher crepirte. Dieses Abentheuer vermehrte den Credit des Bothschafters bei dem Czar, der ihm jederzeit nachher die ausgezeichnetsten Beweise seiner Huld widerfahren ließ.
(Barrow’s Sammlung von Reisebeschreibungen nach der französischen Uebersetzung von Targe 1766.)

Wie elegant übersetzt hier Kleist die französische Vorlage. Ohne von dem französischen Text zu wissen, würde man schwerlich bei Kleist Uebersetzungsdeutsch nachfühlen. Eine Uebersetzung wie: „der zuweilen den vertrauten Ton mit dem Monarchen annehmen durfte“ für „assez familier avec le Monarque“ ist doch geradezu meisterhaft. Andererseits wäre Kleist nicht zu der leichten Uebersetzung des französischen Originals in dem Maße befähigt gewesen, hätte sein Stil nicht gerade durch die französische Litteratur eine bestim- <350:> mende Schulung erfahren: was bei Arnim z. B. gar nicht der Fall war. So erklärt es sich, daß ein Kritiker seiner Zeit den eben erschienenen Erzählungen Kleist’s die Flüssigkeit französischer Diction wirklich nachfühlen und nachrühmen konnte.
Die Anekdote hat übrigens an ihrer Stelle in den Abendblättern etwas Tendenziöses. Es war die Zeit, wo die preußische Regierung Napoleon’s wegen kein günstiges Wort über England durchlassen durfte. Darüber habe ich oben im politischen Theile gehandelt; Ompteda war hier der publicistische Mithelfer. Wenn man dies im Auge behält, dann wird man verstehen, was die in der Anekdote enthaltene Glorificirung der kaltblütigen Unerschrockenheit des Engländers auch bedeuten kann: ja, ich glaube, daß eine weitere Parallelisirung Iwan’s mit Napoleon nicht außerhalb der Absicht lag, und daß Kleist deswegen den in seiner Vorlage nicht vorhandenen Ausdruck „mit dem Beinamen der Tyrann“ hinzugesetzt hat.

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Letzte Aktualisierung 06-Feb-2003
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