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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 487f.

5. Das Grab der Väter.

Es begegnen nun ferner zwei novellenartige Aufsätze, die Fouqué’s Buchstaben tragen: Das Grab der Väter, im 57. Blatt vom 5. December 1810, und etwas früher Die Heilung, im 52. Blatt vom 29. November 1810.
Das Grab der Väter ist eine ziemlich matt behandelte nordische Sage. Ein armer Jüngling in Norwegen liebt die Tochter eines reichen Mannes. Dieser begehrt aber einen reichen Schwiegersohn. Die Liebenden treffen heimlich auf einem Hügel zusammen, in den alte Überlieferung das Grab eines heldenhaften Ahnen des Jünglings verlegt. Plötzlich wird der Vater der Jungfrau sichtbar. Die Liebenden flüchten sich über den Hügel. Sie finden unvermuthet den Eingang einer Höhle, darin am Steuer eines alten Schiffes eine hohe Gestalt in der Rüstung und mit goldgriffigem Schwerte sitzt. Der Jüngling ergreift das Schwert. Durch das Einschmelzen des Goldes wird er reich, erhält die Braut und läßt aus der ungeheuren Klinge Wirthschaftsgeräthe schmieden.
Das Mangelhafte des Aufsatzes besteht darin, daß die unsrer Erwartung vorschwebende Begegnung des starren Alten mit den Liebenden, die uns dramatisch spannt, ohne jeden Effect verloren geht. Trotzdem habe ich das Stück skizzirt. Denn Fouqué hat es in keine seiner Sammlungen aufgenommen. Möglich, daß er es aus den Augen verloren hatte. Möglich aber – und das räth uns die Betrachtung der folgenden Novelle zu glauben – daß <488:> Fouqué die Novelle in der Form, wie sie in den Abendblättern erschien, nicht mehr als sein eigen anzuerkennen vermochte. Kleist wird sie stark geändert und zusammengestrichen haben. Bei derartigen Eigenmächtigkeiten eines Redacteurs geht es selten ohne Schnitzer ab. Z. B. die Flucht der Liebenden wird geschildert: „schon fühlten sich beide von Angst und Schwindel versucht, die jähe Tiefe und den Standkreis (!) hinab zu stürzen – da &c.“ So seltsam und so unverständlich schreibt nach meinem Gefühle der seine Sachen breit ausführende Fouqué nicht. Da in der ganzen Erzählung nur immer von dem Einen Ahn die Rede ist, so kann der Titel schwerlich „Das Grab der Väter“ gelautet haben; vielleicht ursprünglich blos: Eine nordische Sage; eine Allgemeinheit, die Kleist durch eine schärfere Aufschrift zu ersetzen wünschte. Mir scheint, als wären hier die Spuren von Kleist’s zusammenziehender Nacharbeit noch bemerkbar.

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Letzte Aktualisierung 06-Feb-2003
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