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 Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart:
        Spemann 1901), 657-667 
           
                    2. Heinrich von Kleist und Henriette 
                    Vogel.  
                     
                     Es trat in Kleists Leben, 
                    als eine Macht die ihn überwältigte, die Hinneigung zu Frau 
                    Henriette Vogel ein. Beide standen ungefähr in gleichem Alter. 
                    Sie war die Gattin des Rendanten Louis Vogel, die Tochter 
                    eines dem Kaufmannsstande angehörigen Berliner Bürgers. Rendant 
                    ist ein subalterner Titel, der eigentlich nicht in die Sphäre 
                    hineinzureichen pflegt, in welcher Heinrich von Kleist zu 
                    Hause war. Wie dem sei, wir treffen Vogel unter den Mitgliedern 
                    der christlich-deutschen Tischgesellschaft, ein Vorzug, den 
                    ihm ebenso seine gesellschaftlichen Qualitäten, wie seine 
                    erneuerte Jugendfreundschaft mit Adam Müller eingetragen haben 
                    wird. Die Freundschaft übertrug sich auf die Frauen beider 
                    Männer bis zu dem Grade der Intimität, daß Frau Vogel ihre 
                    letzten Zeilen noch an Frau Sophie Müller richtete. In diesen 
                    Familienverkehr wurden alle Freunde Adam Müllers, auch 
                    Heinrich von Kleist, mit hineingezogen. Es ist nicht richtig, 
                    daß die Bekanntschaft mit Henriette Vogel in Kleists 
                    letzte Zeiten fiel. <658:> 
         Daß sich Frau Vogel gewandt
        und leicht in die geistigen und geselligen Ansprüche bei Adam Müller fand, läßt uns
        auf das Vorhandensein ausgezeichneter Eigenschaften schließen. Durch Reize der äußeren
        Gestalt wurden sie nicht gehoben. Solche über eine wunderbare Anpassungsfähigkeit
        gebietende Frauen waren damals in Deutschland eine nicht seltene Erscheinung. Wir dürfen
        ahnen, daß Kleist bei stillerem Verkehre mit Frau Vogel Etwas in ihr fand, das seinem
        Wesen sich als nahe und verwandt erschloß. 
         Gleiche Stimmung in
        musikalischen Dingen wird uns, als bei beiden vorhanden gewesen, glaubhaft von gemeinsamen
        Bekannten berichtet. Eduard von Bülow hat auch 1848, in Heinrich von Kleists Leben
        und Briefen, einzelne hinterlassene Gedanken der Frau Vogel abgedruckt. Wie ging mir, als
        ich sie überdachte, das Gefühl auf, daß sie ihrem Wesen und ihrer Diction nach ganz und
        gar von Kleist abhängig seien: und zwar von dem Kleist, der ihr in den
        Erzählungen, in dem Käthchen und in den Abendblättern zuerst und allein entgegen
        getreten war! der Dichter und Schriftsteller Kleist also von Michaelis 1810! Gleich das
        erste Stück, wie ein junger Knabe, das zärtlichste unter den Geschwistern, dem
        sehnsüchtig erwarteten Vater weit entgegen geht und sich freut, ihm unterdessen
        angekommene Briefe so viel früher in die Hände zu geben, die Briefe aber unterwegs
        verloren hat  ahmt mit der herben Entgegensetzung: Aber wer vermag sein
        Entsetzen zu schildern, da er in allen Taschen vergebens danach sucht, die wirksame
        Contrastirung des Kleistischen Novellenstiles nach (oben S. 594). Eine andere
        Niederschrift setze ich ganz hierher: 
         
        Wie unnennbar glücklich fühle ich mich, und wie dankbar will ich dafür sein, daß du,
        großer Gott! mich mit so vielem Sinn für Musik und Kunst geschaffen hast. Froh und
        heiter lege ich mich schlafen, jetzt, nachdem ich den Abend zwar allein, aber im
        herrlichsten Genuß verlebt <659:> habe. Aber auch du, mein herrlicher Vater! sollst
        in dem Gefühl glücklich sein, daß du dein Kind, durch deinen Ernst und Vertrauen, aus
        dem trägen Schlummer, in den es tief versenkt lag, geweckt und zu ferneren Fortschritten
        ermuntert hast. Der Allgütige sei dir dafür gnädig und lohne so dir, wie meiner innigst
        geliebten vortrefflichen Mutter, was ich nie vergelten kann  
         
        und ich frage, indem ich oben Seite 48 aufzuschlagen bitte, ob für dies Gebet nicht
        Kleists Gebet des Zoroaster Gedanken, Stimmung und Form geliehen habe? 
         In der Gegenwart
        1873 ist zuerst eine Art schriftlichen Wettspieles zwischen Kleist und Henriette Vogel
        veröffentlicht worden. Wer es unternähme, uns zu deuten, welche Bewandtniß es damit
        habe, müßte den Anlaß aufweisen, unter dem die Blätter entstanden sind. Der
        Herausgeber hat dies nicht als seine Pflicht erkannt. Wie wäre es auch möglich bei
        Jemand, der, S. 117, den Namen Hitzigs zu Gilzig verlas und drucken
        ließ. Leider hat man aber dessen Satz, daß dieser Briefwechsel zwischen Kleist und
        Henrietten (der in Wahrheit gar kein Briefwechsel ist!) aus den letzten Tagen ihres Lebens
        stammen muß, wie eine ausgemachte Wahrheit aufgenommen, und die Meinung des
        ersten Herausgebers, daß er eigentlich zum Ressort des Psychiaters gehöre, in irgend
        einer Nüancirung nachgesprochen. Dem gegenüber muß betont werden, daß für Beides auch
        nicht der Schimmer eines Beweises beigebracht worden ist. Der Anlaß kann ein ganz
        zufälliger, harmloser sein: wir wissen es nicht. Soviel aber sehe ich doch, daß ein
        gemeinsames Lesen, Beprechen, Genießen von Dichtwerken, die Kleists mit
        eingeschlossen, voraus gegangen ist. Aennchen von Tharau kommt mir in den Sinn. Stelle ich
        die Kosenamen, die Simon Dach, aus der Seele ihres Bräutigams, auf Anna schmückend
        häuft, zusammen, so erhalte ich ungefähr das Folgende: Aennchen von Tharau ist
        mein Leben, mein Gut und mein <660:> Geld 
 mein Reichthum, mein Gut,
        meine Seele, mein Fleisch und mein Blut 
 mein Licht, meine Sonne 
        mein Täubchen, mein Schäfchen, mein Huhn 
 Als Graf Wetter vom Strahl
        von den Häschern aus der Vehmhöhle herausgeführt ist und sein gewaltsam
        zurückgepreßtes Gefühl für Käthchen sich in Seufzer befreit, da läßt Kleist ihn
        sagen (2, 1): Ich will meine Muttersprache durchblättern, und das ganze reiche
        Capitel, das diese Ueberschrift führt: Empfindung  dergestalt plündern, daß
        kein Reimschmidt mehr auf eine neue Art soll sagen können: ich bin betrübt. Und
        doch, wie er sein Käthchen mit tausend Namen verherrlichen will, da stocken ihm, als
        reiche nichts an ihre Pracht heran, die Worte und stammelnd wirft er nur hervor: O
        du   wie nenn ich dich? Hier liegt, meinem Gefühl
        nach, der Keim für das, was Kleist an Henriette geschrieben hat. Ich könnte mir denken,
        daß er bei der Lectüre des Käthchens neckend von der Freundin aufgefordert worden sei,
        er möchte doch einmal wirklich seine Muttersprache durchblättern und das ganze reiche
        Capitel plündern. Und er schreibt, sich an sie selber wendend: Mein Jettchen, mein
        Herzchen, mein Liebes, mein Täubchen, mein Leben, mein liebes, süßes Leben, mein
        Lebenslicht, mein Alles, mein Hab und Gut, meine Schlösser, Aecker, Wiesen und Weinberge,
        Sonne meines Lebens, Sonne, Mond und Sterne, Himmel und Erde, meine Vergangenheit und
        Zukunft, meine Braut, mein Mädchen, meine liebe Freundin, mein Innerstes, mein Herzblut,
        meine Eingeweide, mein Augenstern, o, Liebste, wie nenn ich Dich? Das
        Wort Mädchen wieder auf die Poesie desselben Auftrittes in dem wiederholt die
        Armuth der Sprache zu spiegeln bestimmten Ausrufe Käthchen, Mädchen,
        Käthchen! uns weisend. Und abermals anhebend, bringt Kleist einen zweiten,
        gleichgebauten Reichthum neuer Schmeichelnamen auf, bis zu <661:> dem Cherubim und
        Seraph, wie sie uns auch im Käthchen und im Prinzen von Homburg erscheinen: wie
        lieb ich Dich! Henriette verstand, auf dieses Spiel einzugehen. Sie schafft aber
        keine neue Form, sie lehnt sich an die von Kleist gegebene an. Darum der Anfang Mein
        Heinrich und der Schluß wie 
 lieb ich dich. Ihr Ehrgeiz,
        obgleich sie 80 Schmeichelnamen den 50 Kleists entgegensetzt, ist sichtlich
        der, kein einziges Wort wieder zu gebrauchen, das Kleist vorher verwendet hatte. Während
        Kleists Schmeichelreihe unmittelbar, poetisch empfunden wirkt: ist in dem Gegenspiel
        Henriettens nur etwas mittelbar Reflectirendes thätig. Es mußte, da Kleist die
        einfacheren Worte vorweggenommen hatte, nothwendig phantastischer, gesuchter,
        ungewöhnlicher in der Wortwahl ausfallen. Gerade aber durch das Reflectirte verräth uns
        Frau Vogel den entscheidenden Inhalt ihres Verkehrs mit Kleist. Ich setze ein paar
        charakteristische Bezeichnungen her; sie sagt: 
 mein theurer
        Sünder 
 meine Himmelsleiter, mein Johannes, mein Tasso, mein Ritter, mein Graf
        Wetter, mein zarter Page, mein Erzdichter 
 meine Träume, mein liebstes
        Sternbild 
 mein Werther 
 mein lieblicher Träumer 
        Daraus tritt uns zuerst die Bibel entgegen, in der frommen Mythe von Jacobs
        Himmelsleiter und der Offenbarung St. Johannes, in die sich, wie seiner Freunde, auch
        Heinrich von Kleists Lectüre versenkte (oben S. 265). Aus dem Tasso und
        Werther weht uns Goethe-Liebe an. Und dann, in reicheren Farben, fällt auf Kleist, ihren
        Erzdichter, ein Abglanz seiner eigenen Poesie zurück. Nicht blos der Ritter, der Graf
        Wetter, nein auch die Träume, das Sternbild, der theure Sünder weisen auf das Käthchen
        von Heilbronn hin; der theure Sünder, wie Graf Wetter, das schlafende
        Käthchen unter dem Hollunderbusch fragend, seine Bedenken verscheucht (4, 2):
        Thue ich Sünde, so mag sie <662:> mir Gott verzeihen. Den
        Prinzen von Homburg, empfinden wir, meint Frau Vogel, wenn sie Kleist eine lieblichen
        Träumer nennt. Für die Erkenntniß des richtigen Verhältnisses wird wichtig ein anderer
        Ausdruck, nämlich der mein Lehrer und Schüler. Wem fielen nicht auf
        Gleichheit, und doch wieder Ungleichheit gegründete Lehr- und Lernbündnisse zwischen
        bedeutenden Männern und Frauen ein! Kein Hauch von sinnlicher Leidenschaft läßt sich
        irgend in Henriettens Schriftstück verspüren. Alles nur auf das abstract Geistige
        gestellt. Sogar die Unterzeichnung Henriettens: Meine Seele sollst Du haben,
        ist dem Schatzgräber Goethes entliehen. Eher könnte man den Worten Kleists
        ein wärmeres Gefühl nachempfinden, das uns aber wie abgeschwächt erscheinen muß gegen
        die Accente, mit denen der Dichter des Käthchens die reizendsten Scenen keuscher Liebe
        geschmückt hat. Nicht einmal das poetisch erforderliche Du braucht die Anrede
        zu sein, die Kleist und Henriette in Wirklichkeit auf sich angewendet haben. Das
        schöngeistig-litterarische Wettspiel kann also, seit das Käthchen, um Michaelis 1810, in
        aller Händen war, jeden Tag veranlaßt worden sein. Bülow sagt (S. 73) mit zu
        großer Reserve, als daß man nicht dahinter reale Thatsachen vermuthen sollte:
        Manche vertraute Briefe Kleists aus früherer Zeit sollen sogar den Beweis
        führen, daß er eher das Gegentheil als Zärtlichkeit für Henrietten gefühlt
        habe, eine Aussage, die durch die allerletzten Briefe Beider mit seltsamer
        Deutlichkeit bestätigt wird. 
         Nach Bülow also hat es
        Briefe Kleists an Henriette gegeben. Warum auch nicht? sind ja Billets an Reimer,
        über zwei Straßen nur hinweg, oder an Arnim in derselben Straße von Kleist geschrieben
        worden. Und zwar aus früherer, d. h. der Katastrophe weiter
        voraufliegender Zeit. Wo sind sie geblieben? Hat Tieck sie gekannt? oder sie vielleicht
        benutzt? Ich halte bislang für möglich, daß die leidenschaftslos <663:>
        mittheilsamen Briefe, aus denen Tieck ausgewählte Stellen als an eine nahe Freundin
        gerichtet veröffentlichte, an Henriette Vogel geschrieben worden sind. Man hat die
        Cousine Marie von Kleist als Empfängerin vermuthet und doch z. Th. einsehen müssen,
        daß die Vermuthung sich nicht halten ließ. An Marie von Kleist schrieb er
        Du, nicht Sie. Wir wissen auch nicht, daß Marie von Kleist Berlin
        im Sommer 1811 verlassen hätte. Gegen Marie von Kleist spricht gleich der Anfang des
        ersten Brieffragmentes: Das Leben, das ich führe, ist seit Ihrer und
        A. Müllers Abreise gar zu öde und traurig. Adam Müller und Marie von
        Kleist standen so nicht zu einander, daß Kleist sie beide in Einem Zuge neben einander
        hätte nennen sollen. Aber Adam Müller und Frau Vogel  das waren in der That
        die beiden vertrautesten, auch unter sich befreundeten Genossen Kleists. Zu
        Henriette Vogel konnte er, wie in den Brieffragmenten geschieht, natürlich und unbefangen
        vom Studium und Werthe der Musik sprechen. Da Adam Müller im Mai 1811 Berlin verließ,
        und nach dem Sinn der Briefe schon gute Zeit seitdem verstrichen war: so hätten wir
        vielleicht zu folgern, daß die kränkelnde Frau Vogel im Sommer zur Erholung fortgegangen
        sei. Aus den Sommermonaten stammen die Briefauszüge; der Termin, bis zu dem sie nicht
        heranreichen, ist Kleists Reactivirung im September, deren vorbereitende Schritte,
        noch nicht aber der wichtige Bescheid selbst, berichtet werden. Erst im Herbste wäre
        demnach die Freundin zurückgekehrt, und nun, während der letzten zwei Monate des neuen
        Verkehres, bahnte sich das an, was zuletzt geschah. 
         Dieser neue Verkehr mußte um
        so ausschließlicher sich gestalten, je weniger von dem Freundeskreise der Abendblätter
        und der christlich-deutschen Tischgesellschaft übrig war. Kleist saß fast ohne Freunde
        in Berlin. Adam Müller, wie gesagt, war fort nach Wien. Zwar wurden noch
        freundschaftliche <664:> Mittheilungen zwischen Beiden ausgetauscht  ein
        Autograph Kleists, die Wiener Wohnung Müllers angebend, bewahrt das Stammbuch
        Arnims, der wohl um die Adresse gebeten hatte  doch schien der ferne
        Freund dem einsamen Kleist wie todt und abgestorben für die eigne Arbeit. Beckedorff ging
        zu Ende Juni fort. Brentano reiste mit Schinkel nach Böhmen ab und kam nicht wieder.
        Arnim, seit dem Frühjahr mit Bettina verheirathet, suchte abwechselnd Wiepersdorf auf und
        trat mit seiner jungen Frau im August, über Weimar, die Reise in die Frankfurter Heimath
        an, ohne Kleist in diesem Leben wiederzusehen. Die höhere Beamtenschaft, und was beim
        Militair abkömmlich war, suchte das Land oder die Bäder auf. Arnims Bruder
        z. B. und von Dalwigk steckten Mitte September noch in Dresden. Fouqué verblieb mit
        seiner Gemahlin, wie die Datirung ihrer Briefe zeigt, diesen Herbst und Winter in
        Nennhausen. So kam es, daß Kleist fast nur noch mit der Freundin verkehrte. 
         Dieser Verkehr war kein
        Geheimniß vor dem Gatten Henriettens, auch kein Geheimniß vor Adam und Sophie Müller
        gewesen. Ja, es fand zwischen Kleist und Vogel eine ruhige Aussprache Statt, und Vogel,
        vielleicht anfänglich in der Meinung es handle sich um ein Liebesbündniß, war bereit,
        seinerseits seine Frau frei zu geben, d. h. in eine Scheidung zu willigen. Wir haben
        Kleists eigenes Zeugniß dafür. Die Fälle leider, daß Ehegatten sich friedlich
        trennten und wohl auch neue Verbindungen eingingen, waren in den geistig führenden
        Schichten damals an der Tagesordnung. Diese Erscheinung muß historisch hingenommen
        werden. Man sehe in das Leben der Schlegel, Schellings, Stägemanns,
        Brentanos, Berhardis, selbst Wilhelm von Humboldts und Ernst Moritz
        Arndts hinein, um zu bemerken, wie sich da ganz frei auf geistiger Gemeinschaft
        begründete Verhältnisse <665:> bildeten, die zur Ehe führen konnten, doch nicht
        immer führten. Selbst Frau Sophie Müller hatte, um Adam Müller die Hand zu reichen,
        sich von ihrem ersten Gatten, dem Landrath von Haza, friedlich getrennt, eine
        Angelegenheit, in der auch Kleist vermittelnd thätig gewesen war. Ging Kleist auf den
        Verzicht des Gatten ein, dann entstand freilich für ihn als Ehrenmann die Verpflichtung,
        Henriette zu seiner Frau zu machen. Hier aber treffen wir auf den Punct, wo für Kleist
        die Unmöglichkeit begann. 
         Kleist, ursprünglich von
        Hause mit einem Vermögen ausgestattet, das ihn über eine mäßige Vorbereitungszeit zum
        Staatsdienst hinweggebracht hätte, war im Laufe der Jahre mittellos geworden und mußte
        einsehen, daß er in bürgerlicher Existenz als Schriftsteller sich nicht ernähren
        könne. Darum kehrte er ja, halb wider seinen Willen, in den Militairdienst zurück. Nun
        war er, wenn auch noch nicht einberufen, thatsächlich wieder Offizier geworden. Der
        König kannte ihn persönlich, wie jeden Offizier, der in seinem Potsdamer Bataillon
        Garde, dem heutigen Ersten Garde-Regiment zu Fuß, gestanden hatte. Die Ungnade des
        Königs und der schlichte Abschied wäre ihm sicher gewesen, würde er als Hauptmann eine
        eben geschiedene Frau geheirathet haben. Die Frau, die er, der blutarme Hauptmann bei der
        Garde, hätte heirathen können, hätte von Adel und von Vermögen sein müssen. Seine
        ehrenwerthe Familie, fest in ihren Anschauungen, würde die gewesene Frau Vogel nicht als
        eine der Ihrigen aufgenommen haben. Das war eben die Macht der Verhältnisse, in denen er
        wurzelte. Graf Wetter vom Strahl, obwohl seine ganze Seele dem holdseligen Käthchen
        gehört, bringt seinen Ahnen, die auf ihn blicken, doch das Opfer, die bürgerliche
        Jungfrau nicht zur Ehe zu begehren. 
         Und dann, durfte sich Kleist
        selbst von seinem Gefühle <666:> für die Frau unwandelbare Dauer versprechen?
        Kleist trug als Poet eine Welt widerstrebender Empfindungen in sich und kannte schmerzlich
        den Widerspruch in seiner eigenen Brust. Von sich und den Gestalten, die er schuf, sagt er
        wohl, das Herz sei ihnen gespalten. Als er sich eng und enger an die
        bürgerliche Freundin schloß, lebte das Bild seiner Cousine Marie von Kleist noch
        herrschend in seinem Herzen. Schwankend kehrten seine Gedanken zu ihr zurück.
        Kleists Werke zeigen, wie er mit kaltblütiger Strenge die Entwickelung seiner
        Gestalten voraussieht und danach bestimmt. Wo, als in der Erfahrung seines eigenen Lebens,
        hätte er sich diesen Blick geschult? Er sah zu scharf, daß er bisher keiner
        Freundschaft, keiner Liebe zu Frauen unwandelbar treu geblieben war. Hatte er jetzt für
        die herzliche Neigung zu Marie von Kleist die Freundschaft Henriettens
        eingetauscht  ja, würde er der neuen Freundin wirklich treu sein
        können? Seine strenge Antwort lautete: Nein! Früher, in jungen Jahren, war ein
        Zurücktreten, als es ihm nöthig dünkte, leicht gewesen; jetzt schien ihm kein Zurück,
        aber auch kein Vorwärts mehr offen zu sein. Immer hatte der Gedanke bei ihm gewohnt, man
        dürfe nach Römerart sein Leben hinwerfen, wenn es unerträglich geworden sei. Wie
        frohlockt er, 1803, von der Nordküste Frankreichs nach England hinüberschauend, bei der
        Aussicht auf das unendlich prächtige Grab, in das er sich stürzen werde. Jetzt, wo ihn
        die Freundin auch in diesen Gedanken versteht und sich gleichsam ihm heraussehnt aus den
        Fesseln die sie halten, bereit den ungeheuren Schritt wie er zu thun, nimmt er rasch,
        kühl, bestimmt seine Entschließung. Wochenlang trägt er sie mit sich herum. Er gewöhnt
        sich an die That, wie wenn sie das natürliche Mittel seiner Rettung wäre. Er verliert
        den Blick für das Unnatürliche, für das Unerlaubte seines Beginnens. Keines Freundes
        frischer Zuspruch, keine Wendung <667:> seiner Lage, keine Antwort aus der
        Staatskanzlei reißt ihn aus dem trübe schleichenden Strome seiner Gedanken heraus. Wer
        weiß, was den 21. November zum Tag der That bestimmte. Kaltblütig wie vor dem
        Feinde und standesgemäß correct ist jede seiner Maßnahmen, bis zu dem Augenblicke, der
        über sein und seiner Freundin Leben entschied. 
         Nun schrieb der Staatskanzler
        auch des Todten Gesuch um zwanzig Louisdor wirklich: Zu den Acten! 
           
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