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Ludwig Tieck (Hrsg.), Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften (Berlin: Reimer 1821), Vorrede, III-XI

Kurzbiographie Kleists

Vorrede.

Von dem Verfasser, dessen Nachlaß ich dem Publikum übergebe, kann ich nur wenige Nachrichten mittheilen, da ich ihn selbst nicht viel gekannt habe und es mir nicht hat gelingen wollen, etwas Genaueres von den Umständen seines Lebens zu erfahren.
Heinrich von Kleist ward im Jahre 1776 zu Frankfurt an der Oder geboren, er wurde in dieser Stadt erzogen, bis er als Junker in den ersten neunziger Jahren nach Berlin zur Garde kam. Er war immer fleißig und benutzte seine Zeit auf alle Weise; auch entwickelten sich früh Talente in ihm, vorzüglich zur Musik, er spielte mehre Instrumente auf eine ausgezeichnete Weise. Als Junker machte er den Feldzug am Rhein mit und nahm nachher, da indeß ein heftiger Trieb <IV:> zu den Wissenschaften in ihm erwacht war, seinen Abschied, um zu studiren. In dieser Absicht lebte er im Jahre 1799 und 1800 wieder in Frankfurt an der Oder. Nach vollendeten Studien ging er nach Berlin, und wurde im Departement des Ministers von Struensee angestellt. Unzufrieden mit seiner Lage, wünschte er eine Reise zu machen, und er erhielt auch bald einen Auftrag in Fabrikangelegenheiten. Er begab sich mit seiner Schwester nach Paris, wo er sich ein ganzes Jahr aufhielt. In dieser Stadt machte er die Bekanntschaft eines Mahlers, mit welchem er nach der Schweiz reiste, ohne daß ihm seine Schwester dorthin gefolgt wäre. Er lebte hier eine geraume Zeit am Thuner-See und beschäftigte sich mit poetischen Arbeiten. Nachdem er sich in einigen kleineren Gedichten versucht hatte, entwarf er die Familie Schroffenstein, ein Trauerspiel, welches er auch bald vollendete. Nach dieser Arbeit fing er eine Tragödie Robert Guiskard an, welcher er seine ganze Anstrengung widmete, aber doch nur langsam vorrücken und sie nicht beendigen konnte. Die Stimmung seiner Seele war so sonderbar, daß er nach der Vollendung dieses Schauspiels zu sterben wünschte. Die- <V:> ser Lebensüberdruß und Kampf mit der Melankolie warf ihn auch nach einiger Zeit auf das Krankenlager, worauf seine Schwester, als sie diese Nachricht empfing, zu ihm eilte, ihn verpflegte und nach seiner Genesung wieder nach Deutschland begleitete.
Im Jahre 1802 ging Kleist nach Weimar, wo Wieland den jungen Dichter mit väterlichem Wohlwollen aufnahm. Kleist lebte ziemlich lange in dessen Hause und auf Wielands Rath arbeitete er die Familie Schroffenstein um und legte die Scene aus Spanien nach Deutschland. Von Weimar ging er nach Dresden und dichtete wieder an seinem liebsten Trauerspiele Robert Guiskard, welches er im Unmuth schon zweimal vernichtet hatte.
In Dresden lernte er einen Mann von festem und ausgezeichneten Charakter kennen, dem er sich sehr bald mit der innigsten Freundschaft verband, und welcher auf sein Leben, wie auf den Fortschritt seiner Bildung einen bedeutenden Einfluß scheint gehabt zu haben. Mit diesem unternahm er eine Reise nach der Schweiz. Sie gingen meistentheils zu Fuß und lebten in Bern und Thun. An diesen Orten wurde in den <VI:> Zeiten der Ruhe wieder an R. Guiskard gearbeitet. Die Wanderungen wurden dann durch die Thäler der Schweiz fortgesetzt und die Freunde gingen bis nach Mailand. Von hier kehrten sie nach Bern und Thun zurück, und reiseten durch das Waadtland nach Genf und über Lyon nach Paris.

Schon auf dem Wege zeigte sich oft die Seelenverstimmung des Dichters, er war zuweilen vom tiefsten Unmuth auf unbegreifliche Weise beherrscht, und in Paris löste sich dieser Kampf seiner Seele dadurch auf, daß er sich völlig mit seinem Freunde entzweite. In der Verzweiflung an sich und an der Welt verbrannte er alle seine Papiere und vernichtete auch die Tragödie zum drittenmal, die er mit besonderer Vorliebe ausgearbeitet hatte. So zerstört verließ er Paris und begab sich nach Boulogne, doch kehrte er nach einiger Zeit nach der Residenz zurück, fand aber seinen Freund nicht mehr und konnte auch nichts von ihm erfahren. Darüber erwachte in ihm die Sehnsucht nach dem Vaterlande, er eilte dorthin, aber eine tödtliche Krankheit befiel ihn in Mainz, die ihn in dieser Stadt fast sechs Monathe zurück hielt. <VII:>
Genesen ging er nach Potsdam und von da nach Berlin, wo er wieder im Finanzdepartement arbeitete. Er fand seinen Freund, mit welchem er sich schnell versöhnte und mit verjüngter Lust wandte er sich zu seinen poetischen Versuchen. In einem Gespräche, als er seinen Freund auffoderte, auch eine Tragödie zu dichten, erzählte ihm dieser die Geschichte vom Kohlhaas, dessen Name noch heut zu Tage eine Brücke bei Potsdam trägt, und der auch vom Volke nicht ganz vergessen ist. Diesen Gegenstand ergriff Kleist und er fing an jene Novelle zu schreiben, die in seinen Erzählungen abgedruckt ist.
Jetzt war der preußische Krieg ausgebrochen, und als nach der Schlacht von Jena alles von Berlin flüchtete, ging er auch nach Königsberg in Preußen. Bei seinem Patriotismus und lebhaften Haß der Feinde seines Vaterlandes fühlte er sich jetzt höchst unglücklich, er zog sich von allen Gesellschaften und Bekannten zurück, er gab seine Stelle beim Departement auf und blieb Tage lang in seinem Zimmer versperrt, ohne jemand zu sehn. In dieser Zeit schrieb er den zerbrochenen Krug und bearbeitete den Amphytrion des Moliere, vielleicht um sich zu zerstreuen und durch <VIII:> diese Arbeiten die Heiterkeit des Lebens wieder zu finden.
Noch während des Krieges, ging er nach Berlin mit seinem Freunde zurück. Wodurch er den französischen Behörden verdächtig wurde, weiß ich nicht zu sagen, aber man schickte ihn nach Joux und er saß ein halbes Jahr in demselben Gefängnisse, welches den bekannten Toussaint l’Ouverture verwahrt hatte. Von dort führte man ihn nach Chalons. In der Einsamkeit seines Gefängnisses soll er viel gedichtet haben.
Als er wieder frei war, begab er sich nach Dresden, um ganz den Studien zu leben. Er traf hier seinen Freund wieder und lernte A. Müller kennen. Er war fleißig und dichtete die Penthesilea, vollendete den Kohlhaas und die meisten seiner Erzählungen, arbeitete den zerbrochenen Krug, so wie den Amphytrion um, und schrieb das Käthchen von Heilbronn. Der Robert Guiskard lebte ebenfalls wieder auf und von diesem, wie von den meisten der übrigen Werke, wurden in Phöbus Proben gedruckt, einer Monatsschrift, welche er gemeinschaftlich mit A. Müller herausgab. Damals hatte ihn der Plan begeistert, eine Tragödie über den Fall des Leopold <IX:> von Oesterreich zu schreiben, es ist aber nur beim Vorsatz geblieben.
Die Lage Deutschlands, die trübe Aussicht in eine drohende Zukunft, mußten in jenem Jahre jeden ängsten, der sein Vaterland liebte, diese Empfindung und der Zorn über den Hochmuth der Fremden, die Sorge über die Uneinigkeit der Völker und Fürsten, so wie über die Schwäche, die aus dieser hervorging, bemächtigten sich völlig des Gemüths unseres Dichters, dessen glühender Haß gegen die Unterdrücker damals seinen Geist so stimmte, daß alle andere Kräfte in ihm von diesen Gefühlen gleichsam verschüttet wurden. So dichtete er den Herrmann. Nun brach der Krieg gegen Frankreich im Jahre 1809 aus, er schrieb die Ode „Germania“, und alle seine Hoffnungen erwachten wieder. Er ging nach Prag, in der Absicht, als Schriftsteller der guten Sache beförderlich zu werden, auch finden sich in seinem Nachlasse Fragmente aus jener Zeit, die alle das Bestreben aussprachen, die Deutschen zu begeistern und zu vereinigen, so wie die Machinationen und Lügenkünste des Feindes in ihrer Blöße hinzustellen, Versuche in vielerlei Formen, die aber damals, vom raschen Drang der Begebenheiten <X:> überlaufen, nicht im Druck erscheinen konnten, und auch jetzt, nach so manchem Jahre und nach der Veränderung aller Verhältnisse, sich nicht dazu eignen. Kleist wollte von Prag nach Wien reisen, aber die französischen Heere waren schon dort, und während des Treffens von Aspern befand er sich in der Nähe des Schlachtfeldes. Er kehrte nach Prag zurück und überstand wieder eine schwere Krankheit, die ihn lange in dieser Stadt festhielt.
Als der Friede geschlossen war, der uns endlich jede Hofnung auf eine Befreiung Deutschlands unmöglich zu machen schien, reiste er nach seinem Vaterlande und lebte in Berlin, wo er seinen Freund A. Müller wieder antraf, der ihn aber auch nach einiger Zeit verließ, um sich nach Wien zu begeben. Seine Familie wünschte, daß er wieder eine Anstellung suchen möchte, er widerstrebte aber lebhaft diesem Verlangen. Seine Beschäftigung war, eine Wochenschrift „Abendblätter“ herauszugeben, die, ungleich und oft flüchtig von verschiedenen Verfassern geschrieben, doch manches Erfreuliche von ihm enthalten, außerdem verbesserte und vollendete er seine Erzählungen und dichtete den Prinzen von Homburg, ohne Zweifel sein reifstes und vollendetstes Werk. <XI:>
Im Jahr 1811 trat die letzte Scene seines traurigen Schicksals ein, zu früh und beklagenswerth, sowohl für ihn, als für die Literatur, in der er durch höhere und freiere Ausbildung weit mehr leisten konnte, so wie sein Vaterland, durch diese freiwillige Zerstörung der Verhältnisse, die ihn ängstigten, kurz vor der erfreulichen Wiedergeburt einen seiner edelsten Söhne verlor, dessen Kraft es bald darauf zu den herrlichsten Zwecken hätte anstrengen können.


Emendationen
Departement] Dapartement D
von Heilbronn] vonHeilbronn D

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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