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Albrecht Wachler (Hrsg.), Franz Passow’s Leben und Briefe (Breslau: Hirt 1839), 82-85

Franz Passow an Martin Hudtwalker, Weimar, 7. 7. 1807

Weimar, 7. Juli 1807.

An Hudtwalker in Hamburg.
Ich freue mich, daß wir uns gefunden haben. Da Du meinen Brief nicht misverstanden, ist daran kein Zweifel mehr. Ueber mein neues Amt schreib ich Dir gerne. Die Idee, Lehrer vieler Jünglinge zu werden, und die Gefühle und Ansichten, die mir spät aus dem Leben und mancher Erfahrung zu Theil wurden, <83:> recht früh in empfängliche Gemüther zu legen, war mir immer die schönste, und – wie Du weißt – der Zweck meiner Zukunft. Und die gegenwärtige Vereinzelung oder Realisirung jenes Ideals hat nichts äußeres, was das Wohlgefallen am Allgemeinen aufheben, oder mindern könnte. So wenig die bürgerliche Einrichtung selbst auch nach meinem Sinn ist, so seh ich sie doch, da ich sie nicht vernichten kann, als den jetzt einzig sichern Grundstein an, auf dem das Gebäude des Lebens sich bis zum in sich vollendeten Kunstwerk erheben kann. Die Vorträge, die ich erst diesen Montag angefangen habe, sind wöchentlich 17, und wie Du gleich sehn wirst, alle mir nah verwandt. Ich lehre in der zweiten Classe: 4 Stunden Griechisch. Bis Michaeli Bion und Moschus. Lucians Timon. Von Michaeli an: Herodot und Homers Odyssee. 2 Stunden alte Geschichte. 1 Stunde deutsche Styl- und Declamirübungen. – Und in der ersten: 4 Stunden Griechisch; jetzt: Herodot und Sophokles Antigone. Ersterer macht Mich. den vier auf einander folg. Plat. Dial. Lysias, Charmides, Hippias Maior und Phädros Platz. An der Ant. hab’ ich bis Ostern und nehme dann Aristophanes Wespen oder Frösche. Du kannst denken, daß ich diese Stunden mit Liebe gebe, denn Voß hat einen Grund gelegt, auf dem sichs gut fortbaut. 2 Stunden lateinisch; jetzt Sallusts Catilina, hernach die römischen Elegiker und Satiriker. 2 Stunden Encyklopädie des griechischen Alterthums; jetzt Litteratur-, dann Kunstgeschichte, Mythologie und Geographie; auf 3 Jahre berechnet. 2 Stunden Philosophie der Sprache. Ich fange mit der Poesie als der zuerst gebildeten Sprache an, und werde zuerst Geschichte der Poesie nach einem köstlichen Aufsatz im Athen. Bd. 3. Stück 1. p. 67-86, der sich aufs herrlichste ausführen läßt, vortragen. Diese ist meine Lieblingsstunde, denn die Poesie bleibt die Heimath meiner Seele, und alles, was ich über dieß bessere Vaterland fühle, auszusprechen, und manchen Jüngling zu sehn, der gerne darauf hört, und vielleicht durch mich veranlaßt, nicht die Freyheit, sondern die Schönheit zum Prinzip seines Lebens macht, ist unnennbar süß und begeisternd. In diesen Stunden wird mir das Katheder zum Dreifuß, und ich fühle mich recht als Göthes Mitbürger (dessen Sohn hiesiger Primaner ist). – Göthe ist noch nicht hier, kommt aber im August, da er seinen Plan mit Wien aufgegeben hat. Ich sehe aber, daß er schon alles vorbereitet hat, mich an sein Haus zu knüpfen. Seine jetzige Frau hat mir das schon zu verstehen gegeben. Und nicht umsonst! – Einen zweiten gesellschaftlichen Berührungspunkt hat mir eine Landsmännin von Dir, eine hier lebende Hofräthin von Schopenhauer gegeben, die Du vielleicht kennst. Ihr Haus ist das einzige, was Göthe besucht, und wo man ihn ganz Göthe findet. Im Winter ist er und noch einige Weimaraner, z. B. Einsiedel, Meyer, Fernow, Weisser, alle Abende des Donnerstags und Sonntags bei ihr, wo er zum Entzücken liebenswürdig seyn soll. Noch vor seiner Reise hat er gleich nach meiner Berufung die Schopenhauer gebeten, auch mich zu diesen Cirkeln zu zählen. Außer den genannten, der Schopenhauer und der Jagemann, hab ich noch wenig eigentliche Bekanntschaften, suche auch keine, weil mir diese genügen. Die Jagemann wohnt mir vis-à-vis; ich spreche sie täglich, wenn auch nur italienisch aus dem Fenster. Sie scheint eine vollendete Universalität des Charakters und die Gabe, unwiderstehlich liebenswürdig zu seyn, so bald sie will, mit Göthe gemein zu haben, den sie darum nicht leiden kann. Schön ist sie noch sehr, reizender vielleicht als je, aber wohl nicht lange mehr. Ihre Stimme aber hat ungemein verloren, und da Luise ihre immer herrlicher gebildet hat, kann sich die J. gar nicht mehr mit ihr messen. Im August geh ich wieder nach Gotha und bleibe dort 4 Wochen, denn so lange hab ich Ferien. Wie <84:> wärs, wenn Du die 2 Tagereisen von Göttingen dahin machtest – ? –. Ich habe dem Wunsch meiner Eltern, meiner Jugend wegen meine Verbindung bis Ostern auszusetzen, nachgegeben, obwohl ungern, aber dann soll mich auch gewiß nichts hindern. Ich erwarte in diesen Tagen einen meiner Dresdner Freunde, einen schwedischen Maler, der auf Göthes Einladung diesen Winter hier arbeiten wird. Er ist nicht nur Künstler, sondern noch mehr als Mensch unbeschreiblich liebenswürdig und wechselt schon seit einiger Zeit mit Luise Briefe, denn er betet sie wirklich an. Im August geht er mit nach Gotha und malt sie mir dann als heilige Cäcilia, in einer von uns schon in Dresden dazu ersonnenen Glorie von Lilien, ganze, schwebende Figur und lebensgroß. In diesen Tagen bekomme ich auch vom hiesigen Hofbildhauer Weisser, der ein recht tüchtiger und kräftiger Mensch ist, einen Abguß von Göthes schöner Büste, von Friedr. Tieck vor einigen Jahren hier gearbeitet. Von meinem Jo. Secundus erhältst Du eins der diesen Augenblick bey mir vom Verleger angelangten Exemplare. Ich wünsche, daß Du sie köstlich finden mögest. Im Ganzen bin ich zufrieden mit meiner Arbeit. – Von meiner Uebersetzung des Persius ist der erste Bogen gedruckt; sie wird gegen Ostern fertig. Doch erscheint schon Michaeli eine den bloßen, aber sehr veränderten Text enthaltende Ausgabe. – In 2-3 Jahren kommt meine Hauptausgabe dieses Dichters, die den Casaubonischen Commentar ganz, Auszüge aus allen andern und meinen eignen, ziemlich starken, enthalten soll. Es wird ein tüchtiger Quartband daraus werden. – Mein Petrarca muß noch ein Paar Jahr warten. – Ich habe große Lust, ein Sophokleisches Stück – die Antigone oder Coloneus, weil diese zwei sich durch Interesse der Handlung auszeichnen – für das hiesige Theater zu bearbeiten. Eh ich aber etwas beginne, warte ich Göthes Ankunft ab. Fernow will mich bereden, ein Stück von Alfieri zu bearbeiten, aber ich mag nicht. Kennst Du schon Corinne ou l’Italie von Frau von Staël? – Gestern schickte die Jagemann, ob ich nicht kommen und mir von ihr etwas vorlesen lassen wollte. Sie hat mir ein großes Stück aus der Corinne gelesen, und ich finde es so herrlich, daß ich sie mir gleich für Luise verschrieben, die mir im August denselben Genuß wieder und schöner verschaffen soll. Ich liebe die Jagemann recht wegen der unbedingten, kindlich fommen Verehrung, mit der sie an Luise hängt, und ich bin ihr auch gewiß nur durch mein Gefühl für diesen Engel interessant worden. Sonst ist von neuen Sachen nicht viel zu rühmen, bis auf Heinrich von Kleists (des Verfassers der Familie Schroffenstein) Amphitruo, ein erhabnes und tiefer Bedeutung volles Kunstwerk. Ich gestehe Dir, daß die göttliche Erscheinung des Titan mein innres Auge mit solchem Glanz erfüllt hat, daß mir nun alle andern J. Pauliana wie Flecken in diesem erhabenen Gedicht vorkommen. – Der Titan steht unmittelbar neben Meister und Lucinde. So viel Fehler im einzelnen sind, so erhaben ist der Gedanke, der das Ganze beherrscht, und wäre das auch nicht, die göttliche Liane schwebt wie ein stiller Regenbogen versöhnend über der ganzen, oft uneinigen Dichtung und löset – auch wo sie vom Schauplatz getrieben ist – alles Gefühl in reiche Liebe und süße Wehmuth auf, deren schwächliches Uebermaaß inzwischen Schoppes kraftvolle Laune und genialische Unbeholfenheit ausgleicht. Die Kunst, das Wesen der Personen an die kleinsten Eigenheiten zu knüpfen und diese immer wieder zu gebrauchen, z. B. Albanos und Roquairols Stimmen und Lianens und Idainens Gestaltähnlichkeit, Lindas Homeroblepsie und dergl., wodurch man unwillkührlich gezwungen wird, alles für historisch zu halten, ist ihm eigen wie niemand. Aber in seinen übrigen Schriften ist der, im Titan concentrirte Glanz, in einzelnen Fragmenten nur sichtlich. – Aber H., daß Du mir die griechische Sprache liegen läßt, muß ich <85:> tadeln, recht sehr, auch wenn ich nicht Professor graecae linguae wäre. Glaubst Du denn zu der rein menschlichen Bildung, der Du doch wohl nachstrebst, der Griechen entbehren zu können? – Nun schreib mir bald eine ebenso lange Epistel.

N. S. Ich trete jetzt auch mein Amt als Rezensent an der Jen. Litteratur-Zeitung an; zuerst werde ich Königs, Nassers, Ortmanns und Meisters Persius in einer Rezension vornehmen. Hernach Kleists Amphitruo.

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