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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Rüdiger Wartusch, Spuren der ‚Phöbus‘-Rezeption im klassizistischen Weimar, in: Beiträge zur Kleist-Forschung 11 (1997), 117-127; darin: 118-120

Karl Ludwig Fernow an Karl August Böttiger, Weimar, 29. 2. 1808

          Weimar, am Schalttage des
                Schaltjahres 1808.
ich danke herzlich für Ihre gütige Theilnahme! Ohne eigentlich krank zu sein, leide ich doch an einem heillosen Rheumatismus in der rechten Schulter und Brust, u. in dem Arm derselben Seite, welche eigentlich die Kapitalseite eines Schriftstellers ist, u. befinde mich dadurch in keiner geringen Verlegenheit, da ich nicht ohne die empfindlichsten Schmerzen u. öftern Unterbrechung schreiben kann. Wenn ich 15 bis 20 Zeilen geschrieben habe, muß ich jedesmal die Feder niederlegen und mich gegen den Stuhl zurücklehnen, und so einige Minuten in ruhender Stellung <119:> verbleiben um den ziehenden Schmerz der in vorübergelehnter Stellung immer heftiger wird, wieder zu mäßigen. Das Ärgste aber ist dabei, daß mich dieser Schmerz auch am Schlafe hindert, u. daß ich mich fast die Hälfte jeder Nacht auf meinem Lager hin u. her wälzen muß, wenn ich noch 3 bis 4 Stunden eines öfter unterbrochenen, unerquickenden Schlafes froh werde. Das macht mich denn natürlich auch für den Tag stumpf und abgespannt, so daß ich nur einige Vormittagsstunden täglich am Schreibtisch zubringen kan; die übrige Zeit bringe ich meistens auf dem Sopha oder auf dem Bette liegend u. lesend zu. Damit würde nun unser Winkelmann\11\ sehr langsam vorwärts rücken, ich habe mir deshalb in diesen Tagen ein animal scribax\12\ zu Hülfe genommen, dem ich diktire, u. so hoffe ich noch meine Arbeit zu rechter Zeit zu liefern.
   ich hoffe alle kleineren Schriften, auch die von der Allegorie,\13\ werden in den ersten beiden Bänden Plaz finden. Mit dieser lezteren sind Meier\14\ und ich jetzt beschäftigt. Nächstens send ich Herrn Walther\15\ die Briefe an Bianconi,\16\ die ich, weil die Daßdorfsche Übersetzung\17\ hin u. wieder den Sinn ganz verstellt hatte, aufs neue mit dem ital. Original verglichen u. ganz abgeschrieben habe, mit den dazu gehörigen Anmerkungen, und indeß diese in der Arbeit sind, werden auch die übrigen Aufsätze nachfolgen.
   Die Kupfer werden hier gestochen werden. Der Kupferstecher Müller\18\ wird sie übernehmen, u. zu rechter Zeit liefern; ich habe es bereits gestern mit der reitenden Post Walthern gemeldet. Wollen Sie noch die Güte haben, u. Walthern wissen lassen daß Müller für jede Platte inclusive der Schrift 8 rthler fordert, wenn ihm die Kupferplatten dazu geliefert werden. Ist dieser Preis ihm anständig, so mag er die Platten je eher je lieber herübersenden. Ich konnte ihm gestern den Preis noch nicht melden, da ich noch keine Nachricht darüber hatte.
   Es ist nicht mein F. was in der Unterschrift der Weimarischen Kunstfreunde\19\ steht; aber wir sind wie immer sehr gute Freunde, ohne daß ich den dritten Mann in der Kunstfreundschaft mache; ich habe mich in diese nie eindrängen wollen, u. was ich über Kunst schon zu sagen Gelegenheit u. Veranlassung habe, sage ich nach wie vor unter meiner eigenen Firma.
   Ich weis nun von Geßner\20\ selbst durch seine Briefe, daß der 3te Theil meiner Studien\21\ zu Ostern erscheint. Der Aufsatz über die Ital. Mundarten wird den größten Theil derselben anfüllen, u. da nun auch noch auf mein durch mehrerer Sprachfreunde Wunsch motiviertes Verlangen die Literatur der sämtl. Dialekte hinzukomt, so wird dieser Theil um etwa 5 Bogen stärker werden. Für seine lange Versäumniß muß Geßner etwas mehr thun. Er war auch gleich willig dazu, u. trug mir sogar an, er sei bereit noch einen 4. Thl der Studien zu liefern wenn ich wolle; ich habe dis aber abgelehnt, und lieber mich erboten zu etwas Neuem die Hand zu liefern, als das Publikum so lange mit einer Schüssel zu bedienen. Mit dem 3. Theil können die Studien mit Ehre geschlossen sein.
   Vom Phöbus habe ich erst denselben Abend als ich Ihren Brief\22\ erhielt, das erste Stück, u. gestern auch schon das 2. bekommen. Wir wollen das neue Lichtprodukt noch eine Weile beobachten; viel neues Licht wird uns wie es mir scheint darin nicht erscheinen;\23\ von der Penthesiliea hab’ ich durch das organische Fragment genug. <120:>
   Den Auftrag an Wieland hab’ ich in derselben Stunde, als ich Ihren Brief erhielt, selbst besorgt, u. er wollte noch denselben Abend die Bücher absenden. Wahrscheinlich sind sie also jetzt schon in ihren Händen.
   Wenn Sie mir gelegentlich noch wieder die Fortsetzung der Blätter zu Ihren Vorlesungen\24\ mittheilten, so würden Sie mir große Freude damit machen.
Adio! mein Arm ist müde, nächstens mehr
                  Ihr
                    treuergebenster
                                 Fernow
Einlage bitte ich an
Freund Kügelchen\25\ abgeben
zu lassen.

\11\ Meint die in Anm. 5 erwähnte Ausgabe der Werke Johann Joachim Winckelmanns.
\12\ Meint einen Schreiber, wie aus einem späteren Brief Fernows hervorgeht: „Um die nöthige Arbeit zur 1sten Lieferung der Winkelmannischen Schriften die zu Ostern bei Walther in Dresden erscheinen soll, nothdürftig zu stande zu bringen, habe ich mir seit zwei Monaten einen Schreiber annehmen müssen“ (Fernow an Cotta. Weimar, 4. April 1808. Im Cotta-Archiv des Deutschen Literaturarchivs in Marbach/N. unter „Cotta Br.“). – Einen Menschen als „animal scribax“ zu bezeichnen, dürfte der „Schriftsteller“ Fernow eher selbstironisch als boshaft gemeint haben.
\13\ Johann Joachim Winckelmann: Versuch einer Allegorie für die Kunst, Dresden 1766. In den zweiten Band von Fernows Ausgabe aufgenommen.
\14\ (Johann) Heinrich Meyer (1760-1832) war Maler und Kunstschriftsteller und bekannt als der „Goethe-Meyer“ oder „Kunscht-Meyer“. Nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Rom wurde Meyer 1791 an die Zeichenschule nach Weimar berufen, deren Leitung er 1806 übertragen bekam. Laut Thieme-Becker (XXIV, S. 476-477) „im Kreise der Weimarer Kunstfreunde der konsequenteste Verfechter der Idee des reinen Klassizismus“. – Meyer und Johann Schulze gaben den dritten Band der Winckelmann-Ausgabe heraus, offensichtlich hat Schulze den Part des noch 1808 verstorbenen Fernow übernommen.
\15\ Meint den Verleger und Buchhändler Georg Moritz Walther in Dresden.
\16\ Meint den Grafen Giovanni Lodovico Bianconi (1717-1781), der Leibarzt des sächsischen Kurfürsten und sächsischer Ministerresident in Rom war.
\17\ Winckelmanns Briefe an seine Freunde. Mit einigen Zusätzen und literarischen Anmerkungen hrsg. v. Karl Wilhelm Daßdorf. 2 Teile, Dresden 1777 und 1780. – Daßdorf (1750-1812) war Schriftsteller und Bibliothekar in Dresden. – Die Briefe an Bianconi erschienen zunächst 1763 in Rom unter dem Titel: Lettere sopra alcune particolarità della Baviera e della Germania.
\18\ Johann Christian Ernst Müller (1766-1824) fertigte sechzehn Kupferstiche für den ersten, acht für den zweiten Band dieser Ausgabe an. Auch der dritte Band enthält acht Kupferstiche.
\19\ Dagegen vgl. Neue Deutsche Biographie 5, S. 99: „In Weimar zählte er [Fernow] zu den ‚Weimarer Kunstfreunden‘.“ – Goethe und Johann Heinrich Meyer nannten sich die „Weimarischen Kunstfreunde“, was ein offenes Geheimnis war. Spekulationen über die Teilnahme anderer Personen waren beliebt. Hatte Böttiger vermutet, daß „W.K.F.“, wie die Freunde zeichneten, Namenskürzel waren? – Für das Folgende vgl. auch Adam Müller an Goethe, 17. Dezember 1807: „Die meisten hiesigen und auch schon einige auswärtige Kunstfreunde sind dafür [für den Phöbus] bereits entzündet.“ Dazu Karl Bertuch an Böttiger, 10. Januar 1808: „Nimmt Küchelchen […] an Phöbus teil? Die hiesigen Kunstfreunde möchten wohl seinen Aufsatz über die Kunstausstellung in der Zeit. f. d. eleg. Welt nicht vergessen haben.“ (LS 200b und 217d)
\20\ Meint den Verleger Heinrich Geßner in Zürich.
\21\ Karl Ludwig Fernow: Römische Studien, 3 Bde., Zürich 1806-08.
\22\ In der SLB Dresden und im GSA Weimar finden sich keine Böttiger-Briefe an Fernow (freundliche Mitteilungen vom 4. April und 21. Mai 1996), wohl aber im GSA die Abschrift eines weiteren Briefes Fernows an den Hofrat vom 7. Januar 1807, die, zumal gekürzt, nicht zu Kleist enthält (Signatur: GSA 01/I,3).
\23\ Die Lichtmetaphorik ist eine beliebte und auch gewollte Reaktion auf den Titel Phöbus. Vgl. Adam Müller (LS 200b): „Streben nach Klarheit und Licht“, Jean Paul (209b): „der immer Wolken und Nächte wegnimmt“, H. K. Dippold (211d): „etwas für Euren Sonnengott: er solls aber nicht verbrennen“, Joseph Schreyvogel (218b): „die Flammen und Blitze des schon in voller Glorie strahlenden Phöbus“, Böttiger: „jeden lichten Strahl, den Phöbus versendet“ (235a).
\24\ Vgl. C. A. Böttiger’s kleine Schriften archäologischen und antiquarischen Inhalts, gesammelt und herausgegeben von Julius Sillig. 3 Bde., Leipzig 1837-38. – Darin etwa Bd. II, S. 3-24: „Ueber Museen und Antikensammlungen, eine archäologische Vorlesung. Leipzig 1808“; Bd. I, S. XVI: „Andeutungen zu 24 Vorlesungen über die Archäologie. Abth. 1. Allg. Uebersichten u. Geschichte der Plastik bei den Griechen. Dresden 1806.“
\25\ Der Porträt- und Historienmaler (Franz) Gerhard von Kügelgen (1772-1820) war immerhin Mitarbeiter des Phöbus. Über ihn erfahren wir in dem Werk seines Sohnes Wilhelm, Jugenderinnerungen eines alten Mannes (Leipzig 1954), einige Einzelheiten, die freilich nicht direkt Kleist betreffen.

H: SLUB Dresden: Mscr. Dresd. h 37. 9 (8°). Nr. 40.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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