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Heinrich Zschokke, Der zerbrochene Krug, in: Heinrich Zschokke u. a. (Hrsg.), Erheiterungen. Eine Monatschrift für gebildete Leser. Dritter Jahrgang, 1. Bd. (Aarau: Sauerländer 1813), 137-175; darin: 137-141

Der zerbrochene Krug.

Mariette.

Zwar La Napoule ist nur ein ganz kleiner Ort am Meerbusen von Cannes; aber man kennt ihn doch in der ganzen Provence. Er liegt im Schatten ewiggrüner hoher Palmen und dunkler Pomeranzen. Das nun macht ihn freilich nicht berühmt. Doch sagt man, es wachsen da die feurigsten Weintrauben, die süßesten Rosen und die schönsten Mädchen. Ich weiß es nicht; glaub es indessen gern. Schade, daß La Napoule so klein ist, und der feurigen Trauben, süßen Rosen und schönen Mädchen unmöglich genug erzeugen kann. Sonst hätte man bei uns zu Lande doch auch davon.
Sind seit Erbauung von La Napoule alle Lanapoulerinnen Schönheiten gewesen, so muß ohne Zweifel die kleine Mariette ein Wunder aller Wunder gewesen sein, weil ihrer sogar die Chronik gedenkt. Man nannte sie zwar nur die kleine Mariette; doch war sie ohngefähr nicht <138:> kleiner, als ein Kind von siebenzehn Jahren und drüber zu sein pflegt, dessen Stirn eben bis zur Lippe des schlankaufgewachsenen Mannes reicht.
Die Chronik von La Napoule hatte ihre guten Gründe, von Marietten zu erzählen. Ich, an der Stelle der Chronik, hätte es auch gethan. Denn Mariette, die mit ihrer Mutter Manon bisher zu Avignon gewohnt hatte, drehte, als sie wieder in ihren Geburtsort kam, diesen beinahe ganz um. Eigentlich nicht die Häuser, sondern die Leute und deren Kopf; und auch wohl nicht die Köpfe aller Leute, sondern vorzüglich solcher, deren Kopf und Herz in der Nähe von zwei schönen seelenvollen Augen immer in großer Gefahr sind. Ich weiß das. In solchen Fällen ist nicht zu scherzen.
Mutter Manon hätte wohl besser gethan, wäre sie in Avignon geblieben. Aber sie machte in La Napoule eine kleine Erbschaft; sie erhielt da ein Gütchen mit einigen Weinbergen; und ein niedliches Haus im Schatten eines Felsen, zwischen Öhlbäumen und afrikanischen Akazien. So etwas schlägt keine unbemittelte Wittwe aus. Nun war sie in ihrer Meinung reich und glücklich, als wär sie Gräfin von Provence oder dergleichen. <139:>
Desto schlimmer gings den guten Lanapoulesen. Sie hatten sich solches Unheils nicht versehen, und nicht im Homer gelesen, daß eine artige Frau ganz Griechenland und Kleinasien in Harnisch und Zwietracht bringen konnte.

Wie das Unglück kam.

Kaum war Mariette vierzehn Tage im Hause zwischen den Ölbäumen und afrikanischen Akazien, so wußte jeder junge Lanapoulese, daß Mariette da wohne, und daß in der ganzen Provence kein reizenderes Mädchen wohne, als eben in diesem Hause.
Ging sie durch den Flecken, schwebend leicht und schön, wie ein verkleideter Engel, im flatternden Rock, blaßgrünem Mieder, vorn am Busen eine Orangenblüthe neben Rosenknospen, und Blumen und Bänder wehend um den grauen Hut, der ihr feines Gesicht beschattete, ja, dann wurden die finstern Alten freundlich und die Jünglinge stumm. Und überall öffnete sich links und rechts ein Fensterlein, eine Thür, der Reihe nach. – „Guten Morgen“, hieß es, oder „guten <140:> Abend, Mariette!“ Und sie nickte lächelnd rechts und links hin.
Wenn Mariette in die Kirche trat, verließen alle Herzen (nämlich der Jünglinge) den Himmel; alle Augen die Heiligen, und die betenden Finger verirrten sich in den Perlen der Rosenkranzschnur. Das muß gewiß oft großes Ärgerniß gegeben haben, zumal den Frommen.
Zu dieser Zeit sind ohne Zweifel die jungen Mädchen von La Napoule besonders fromm gewesen, denn sie ärgerten sich am meisten. Und es war ihnen kaum zu verdenken. Denn seit Mariettens Ankunft war mehr als ein Bräutigam kühl geworden, und mehr als ein Anbeter seiner Geliebten abtrünnig. Da gab es denn viel Zank und Vorwürfe überall, und viel Thränen, gute Lehren, und Körbe. Man sprach gar nicht mehr von Hochzeiten, sondern von Trennungen. Man schickte sich die Pfänder der Treue, Ringe und Bänder, zurück. Die Alten mischten sich in den Zank ihrer Kinder. Hader und Streit lief von Haus zu Haus. Es war ein Jammer.
Mariette ist an allem Schuld! – sagten die frommen Mädchen; dann sagtens ihre Mütter; <141:> dann sagtens die Väter, und zuletzt alle, sogar die jungen Männer.
Aber Mariette, in ihre Sittsamkeit und Unschuld eingehüllt, wie die aufbrechende Glut der Rosenknospe in das dunkle Grün des Blumenkelches, ahnete von dem großen Elende nichts, und blieb gütig gegen alle. – Das rührte erst die jungen Männer, und sie sprachen: „Warum das holde, harmlose Kind betrüben? Es ist ohne Schuld!“ dann sagten es die Väter; dann sagten es die Mütter, und zuletzt alle, sogar die frommen Mädchen. Denn wer mit Marietten sprach, konnte nicht anders, als sie liebgewinnen. Und ehe ein halbes Jahr verging, hatte jeder mit ihr gesprochen, und war sie jedem lieb. Sie aber glaubte nicht, daß sie so geliebt werde; und hatte vorher nicht geglaubt, daß man sie hassen könne. – Was ahnet das dunkle, oft im Grase zertretene Veilchen, wie werth es sei.
Nun wollte jeder und jede die Ungerechtigkeit gegen Marietten abbüßen. Mitleiden erhöhte die Zärtlichkeit der Zuneigung. Überall fand sich Marietten freundlicher, als je, gegrüßt; freundlicher angelächelt; freundlicher eingeladen zu ländlichen Spielen und Tänzen.

Emendation
Avignon] Avrignon D

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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