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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Theophil Zolling (Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Erster Teil. Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez (Berlin, Stuttgart: Spemann [1885]) (Deutsche National-Litteratur, 149. Band), Einleitung, XXXIX-XLIII

Christoph Martin Wieland

Im Herbst 1802 kehrte also Kleist nach Deutschland zurück. Zuerst ging er nach Jena, wo Schiller ihn freundlich aufnahm. In Weimar wurde Goethe besucht, der ihm mit Wohlwollen entgegenkam; aber das ganze Wesen des geheimnisvollen Menschen stieß ihn ab. „Mir erregte er,“ äußerte Goethe später, „bei dem reinsten Vorsatz einer aufrichtigen Theilnahme, immer Schauder und Abscheu, wie ein von der Natur schön intentionirter Körper, der von einer unheilbaren Krankheit ergriffen wäre.“\1\ Vielleicht erriet er auch etwas von dem feindseligen Ehrgeiz, der in dieser gärenden Jünglingsseele wohnte; denn für Kleist gab es, wie er seinem Freunde Pfuel oft gestanden hat, nur das eine Ziel, der größte Dichter seiner Nation zu werden und auch Goethe zu überwinden: „ich werde ihm den Kranz von der Stirne reißen“, war der Ausdruck seiner leidenschaftlichen Überhebung, die sich schwer genug rächen sollte.
In Weimar trennte er sich von Ulrike, die den alten Wieland in Männerkleidung besucht hatte, ohne erkannt zu werden; sie kehrte nach Frankfurt zurück. Wieland konnte der Liebenswürdigkeit Kleists, dem er sich schon seines Sohnes wegen verpflichtet fühlte, nicht widerstehen. Da Kleist mit seiner Weimarer Wohnung unzufrieden war, so nahm er gern eine <XL:> Einladung Wielands an, sein Gast auf seinem Gute in Osmannstädt zu werden. Schon die Weihnachtsfeiertage hat er hier zugebracht und bereits die Gefahr empfunden, die ihm von einer anmutigen Tochter Wielands, der erst vierzehnjährigen Luise\1\, drohte. Anfangs Januar 1803 zog er dann ganz hinaus und fuhr hier in seiner geheimnisvollen Weise zu arbeiten fort. Er verschwieg dem alten Wieland sein ganzes Thun und Treiben; nur durch seine Zerstreutheit verriet er, was ihn erfüllte. Oft murmelte er bei Tisch in einer an Verrücktheit grenzenden Weise etwas zwischen den Zähnen, wobei er die Miene eines Menschen hatte, der sich allein glaubt oder geistesabwesend ist. Endlich lockte Wieland, den diese Verschlossenheit beunruhigte, wenigstens so viel aus ihm hervor, daß er in solchen Augenblicken von Abwesenheit mit seinem Drama zu schaffen habe. Auf weiteres Forschen und Fragen gestand Kleist zögernd, er arbeite an einem Trauerspiel; aber es schwebe ein so hohes und vollkommenes Ideal davon seinem Geiste vor, daß es ihm noch immer unmöglich gewesen sei, es zu Papier zu bringen. Er habe zwar schon viele Scenen nach und nach aufgeschrieben, aber er vernichte sie immer wieder, weil er sich selbst nichts zu Dank machen könne. Ganz umsonst suchte ihn Wieland zu bewegen, das Stück nach dem entworfenen Plan einstweilen zu vollenden; es gelang ihm nicht einmal, nur eine einzige Scene zu Gesichte zu bekommen. Erst nach vielen vergeblichen Bitten schloß sich Kleist in einer glücklichen Nachmittagsstunde so weit gegen ihn auf, daß er ihm einige Hauptscenen und Fragmente mit großem Feuer aus dem Gedächtnisse rezitierte. Wieland geriet in die äußerste Bewunderung. Er gab es in seiner Art durch die herzlichsten Ausbrüche, noch mehr aber durch seine innerliche Bewegung zu erkennen. Das ergriff den heftig erregten Kleist so gewaltig, daß ihm vor Freude die Sprache verging; er stürzte zu Wielands Füßen nieder und bedeckte seine Hände mit heißen Küssen. Es war für den Alten von dieser Stunde an entschieden, daß Kleist dazu geboren sei, die durch Schiller und Goethe noch offen gelassene große Lücke in unserer dramatischen Litteratur auszufüllen; ja er war des Glaubens, daß, wenn die Geister des Äschylus, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten, eine Tragödie zu schaffen, sie eben das sein würde, was Der Tod Guiskards des Normannen\2\, sei, sofern nur das Ganze jenen Scenen entspräche. Voll Feuereifer suchte er ihn zur Vollendung seines Werkes zu bewegen, und Kleist versprach in der ersten Rührung alles Gute. Wirt und Gast kamen zu einem herzlicheren Zusammenleben. Ende Januar schrieb Kleist an Ulrike: „In Kurzem werde ich Dir viel Frohes zu schreiben haben; denn ich nähere mich allem Erdenglück.“ Zu der Bewunderung des Vaters kam die Zuneigung der Tochter; Kleist, scheint es, schenkte <XLI:> ihr ebenfalls sein Herz, und Wieland soll willens gewesen sein, ihm das Mädchen zur Frau zu geben.\1\ Aber das alles zerstob wieder vor der Übermacht seiner fixen Idee, die ihm auch hier keine Ruhe gönnte. Er fühlte die Unmöglichkeit, sich für irgend etwas auf Erden zu entscheiden, solange er nicht seine große Aufgabe erfüllt. Vielleicht, daß ihm auch Wielands liebenswürdige Zudringlichkeit und die Zärtlichkeit der Tochter lästig fielen. „O Ihr Erinnyen mit Eurer Liebe!“ jammert er in einem Brief an Ullrike. Noch im Januar schrieb er der Schwester: „Ich habe hier mehr Liebe gefunden, als recht ist, und muß über kurz oder lang wieder fort; mein seltsames Schicksal.“ Am 13. März 1803 finden wir ihn plötzlich in Leipzig wieder, von wo er Ulriken diesen neuen Wechsel meldet. „Ich weiß nicht,“ schreibt er, „was ich Dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll. … Kurz, ich habe Osmannstädt wieder verlassen. Zürne nicht! Ich mußte fort und kann Dir nicht sagen, warum. Ich habe das Haus mit Thränen verlassen, wo ich mehr Liebe gefunden habe, als die ganze Welt zusammen aufbringen kann, außer Du! – Aber ich mußte fort! O Himmel, was ist das für eine Welt! Ich brachte die ersten folgenden Tage in einem Wirthshause zu Weimar zu und wußte gar nicht, wohin ich mich wenden sollte … Endlich entschloß ich mich, nach Leipzig zu gehen. Ich weiß wahrhaftig kaum anzugeben, warum. – Kurz, ich bin hier.“
In dieser Leipziger Einsamkeit nahm er Unterricht in der Deklamation bei „einem gewissen Kerndörffer\2\, um seine eigene Tragödie vortragen zu lernen. Er faßte sich auch ein Herz und besuchte den Professor Hindenburg wieder, der sein Aufgeben der mathematischen Studien erst mißbilligte, aber dann zu Kleists Freude mit ihm überein kam, der Mensch müsse sein vorherrschendes Talent anbauen. Eine Einladung Wielands, der Osmannstädt verkauft hatte und am 3. Mai zur Feier seines Wiedereinzugs in Weimar öffentlich geehrt werden sollte, lehnte er ab, wenn auch ungern denn: „Alles, was süß ist, lockt mich.“ Unterdessen war die „Familie Schroffenstein“, die er fertig bei Geßner in Bern zurückgelassen hatte, im Druck erschienen, und obwohl sie im ganzen unbeachtet blieb, fand sie doch auch hier und da begeisterte Anerkennung.\3\ Kleist selbst, dem im „Guiskard “ ein viel höheres Ideal vorschwebte, bat die Schwester, die „elende Scharteke“ – er strich übrigens das harte Wort gleich wieder aus – nicht zu lesen; auch sollten nur seine allernächsten und verschwiegensten Verwandten erfahren, wer der Verfasser sei. <XLII:>
In wachsender Verstörung zog er dann nach Dresden weiter und ließ die Seinigen wieder länger als ein Vierteljahr ohne Nachricht. Er fand dort seine Freunde Pfuel, Rühle, Fouqué\1\ und verkehrte wieder in der Familie Schlieben. Da er mit Lohse auseinandergekommen, so waren Schliebens wie Kleist anfangs sehr betreten. Karoline schwebte in großer Sorge um ihren Verlobten, der jetzt in Mailand weilte und seit vielen Monaten kein Lebenszeichen geschickt hatte. Kleist suchte sie zu trösten und schrieb an Lohse, wenn er zu seiner Kraft noch ein klein wenig Mut spüre, so müsse keine Arbeit ihn schrecken, die dies vortrefflichste der Mädchen gewinnen könne; andernfalls solle er zu schweigen fortfahren, wenn er „sein Schicksal von den Schicksalen dieses armen Mädchens zu trennen“ wünsche; er selbst würde dann schon alles mögliche thun, um Karolinens großen Schmerz zu mildern.\2\ Manchmal war freilich sein Trost sehr eigener Art. Eines Tages saß er neben seiner ganz trübsinnig gewordenen Freundin, die in die Worte ausbrach: Wenn dieser Zustand noch lange anhält, so werde ich verrückt. „Sie haben recht,“ erwiderte er ihr, „es ist das Beste, was Sie thun können, und wenn Sie Ihren Verstand je wiederfinden, nehme ich eine Pistole und schieße Sie und mich tot. Ich kann Ihnen schon den Gefallen thun.“ Dieses fürchterliche Wort soll einen so tiefen Eindruck auf das Mädchen gemacht haben, daß sie von ihrer Melancholie genas.
Der treue Pfuel konnte zuletzt nicht länger Zeuge dieser Selbstverwüstung bleiben, ohne einen Versuch zu Kleists Heilung zu machen. Der treffliche Freund übte wirklichen Einfluß auf ihn aus und zwar den denkbar günstigsten. So äußerte er eines Abends Zweifel an Kleists komischem Talent und reizte ihn dadurch, dem Ungläubigen sofort die drei ersten Scenen des schon in der Schweiz konzipierten, aber wohl später in Paris <XLIII:> zerstörten Zerbrochnen Krugs in die Feder zu diktieren. Kleist trug dem Freunde schon damals wiederholt an, mit ihm zusammen zu sterben, aber der kerngesunde Pfuel antwortete nur mit sarkastischem Humor und suchte ihn von dieser fixen Idee durch Spott zu heilen. Endlich forderte er ihn auf, mit ihm zusammen in die Schweiz zu gehen und so lange von seinem Gelde zu leben, bis er das Gedicht vollendet habe; wohl in der Hoffnung, daß Kleists Universalmittel: die Bewegung und der Wechsel einer Reise ihn aufrütteln werde. Kleist nahm das edelmütige Anerbieten an, soweit es Pfuels Reisegesellschaft betraf; im übrigen aber wandte er sich an Ulrike, um sich von ihr die nötige Geldunterstützung zu erbitten, da der ganze Rest seines Vermögens aufgezehrt war. Er war gerade damals wieder voll der überschwenglichsten Hoffnung inbetreff „Guiskards“, und ein neuer anspornender Brief Wielands half ihn ermutigen. „Nichts“, schrieb der Alte, „nichts ist dem Genius der heiligen Muse, die Sie begeistert, unmöglich. Sie müssen Ihren Guiskard vollenden, und wenn der ganze Kaukasus und alles auf Sie drückt.“ Kleist wurde durch dieses Schreiben hocherfreut. Er schickte es sofort an Ulrike mit der Bemerkung: „Ich sehe sein Antlitz vor Eifer glühen, indem ich ihn lese. Die beiden letzten Zeilen sind mir die rührendsten.“ Doch die Reise war beschlossen. Ulrike kam selbst nach Dresden, mit ihr noch andere seiner nächsten Verwandten; es gelang ihm leichter, sich mit ihnen zu verständigen und auszugleichen, als er gefürchtet hatte. Die Schwester versah ihn mit Geld, und so ward denn am 20. Juli 1803, wieder im tiefen Geheimnis über den Zweck, die Reise angetreten. Erst am Tage vorher war Kleist in der Familie v. Schlieben mit der plötzlichen Erklärung erschienen, er gehe mit Pfuel nach der Schweiz und nach Mailand zu dem alleinigen Zwecke, dort seinen Freund Lohse zu besuchen.

\1\ Recension von Tiecks „Dramaturgischen Blättern“ in Goethes Werken 45, 110.
\1\ Es war die jüngste Tochter Wielands Maria Luise Charlotte, getauft am 5. Mai 1789, vermählt im Mai 1814 mit dem Jenaer Stadtgerichtsaktuar, Hofgerichtsadvokaten Gustav Emmighaus (+1859) und schon am 27. Juli 1815 gestorben.
\2\ Vgl. Wielands Brief bei Bülow 35ff.
\1\ Ulrike bestätigte später, Wieland habe eine seiner Töchter an Heinrich verheiraten wollen. Koberstein 84.
\2\ H. A. Kerndörffer, (1769-1846), Lektor der deutschen Sprache und Deklamation an der Universität Leipzig, Herausgeber der Materialien für den ersten Unterricht in der Deklamation und Verfasser zahlreicher Ritterromane und Kindergeschichten.
\3\ So in einer prophetischen Kritik von Schillers und Körners ehemaligem Freunde L. F. Huber. Wahrscheinlich hatte Zschokke ihm die Novität empfohlen, denn dieser stand in Briefwechsel mit ihm und seiner Frau Therese.
\1\ Fouqué berichtet in seiner feierlichen Weise über dieses Zusammentreffen: „Der heitre Dresdner Aufenthalt schien Fouqué auch damals näher zusammenführen zu sollen mit Heinrich von Kleist … Damals hatte Kleist sein überkräftig wunderliches Schauspiel „Die Familie Schroffenstein“ in Druck gegeben, ohne Autornamen. Fouqué wußte davon, ohne es bisher gelesen zu haben. Nun hätte man meinen sollen, es seien Elemente genug vorhanden gewesen, die beiden einander zu nähern, und zwar aufs allerinnigste. Jeder, ob zwar in verschiedenen Scharen, hatte den letzten Rheinfeldzug im Jahre 1794 als erste Waffenprüfung mit durchgefochten, einander im Jahre 1795 zu Potsdam in heitrer Geselligkeit als jugendlich elegante Ritter antreffend und Wohlgefallen an einander findend. Seither waren sie beide aus dem Kriegsdienst zurückgetreten, sich poetischen Studien ergebend. Auch jetzt freuten sie sich wechselseitig des Zusammentreffens in Dresden, und dennoch blieben sie einander in poetischer Hinsicht gänzlich fern und unzugänglich. Wie das kam? Heinrich Kleist gehörte der Wielandschen Schule [!] an, Fouqué der Schlegelschen und beide waren, was sie waren, immerdar aus glühender Seele ganz. Sie hielten sich denn in ihren Gesprächen – denn einander geistig fern bleiben konnten und wollten sie nicht – an die Kriegskunst.“ (Lebensgeschichte, aufgezeichnet von ihm selbst, Halle 1840, S. 25.)
\2\ Vgl. Briefe, IV. Aus dieser Epoche besitzen wir noch ein anderes Zeugnis: einen Brief Karolinens an Lohse, den wir im Anhang der Briefe veröffentlichen. Die Situation ist die oben beschriebene. Kleist das „wunderbare Wesen,“ rätselvoller und verbitterter als je, mit Mord- und Selbstmordgedanken spielend; Karoline, von Lohse wieder einmal seit Monaten ohne Nachricht gelassen, der Schwermut nahe. Ein Eingehen dieser Freundin auf Kleists lebensüberdrüssige Stimmung hätte diesem schon jetzt die Todesgefährtin bringen können.

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Letzte Aktualisierung 11-Feb-2003
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