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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Theophil Zolling (Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Erster Teil. Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez (Berlin, Stuttgart: Spemann [1885]) (Deutsche National-Litteratur, 149. Band), Einleitung, LI-LV

Dresden, Freundeskreis

Am 13. Juli 1807 kann Kleist endlich Rühle mitteilen, daß soeben von dem General Clarke der Befehl zu seiner Loslassung und Rückkehr nach Berlin angekommen sei. Er bittet den Freund, ihm das Honorar des schon vor 10 Wochen gedruckten Amphitryon zu senden, indem man ihm jede Reiseentschädigung verweigere. Da letztere folgenden Tages aber bewilligt wird, so entschließt er sich sofort in drei, spätestens vier <LII:> Tagen abzureisen und Tag und Nacht, womöglich mit dem Kurier zu fahren, um in etwa vierzehn Tagen in der Heimat zu sein.\1\
In Berlin hielt sich Kleist nur kurze Zeit auf, da er schon vor einem halben Jahre den Entschluß gefaßt hatte, nach Dresden zu seinen Freunden Rühle und Pfuel überzusiedeln. Er eilte zuvor nach Gulben bei Cottbus, wo Ulrike auf dem Gute des Schwagers von Pannwitz weilte, und reiste dann in ihrer Gesellschaft von hier nach Wormlage in der Lausitz, dem Landgute der verwandten Familie von Schönfeldt. Unterwegs bot er der Schwester, die ihm schon einen großen Teil ihres Vermögens geopfert hatte, seine Pension von der Königin an, denn er hoffte jetzt sehr wohl von der Schriftstellerei leben zu können; die Schwester möge in Dresden mit ihm zusammen wohnen, und er wolle sich dann mit dem, was er erwerbe, bei ihr in Kost geben. Aber Ulrike war nach den schlimmen Erfahrungen, die sie in Paris und in Königsberg mit ihm gemacht hatte, nicht dazu zu bewegen; sie bewahrte ihm ihre zärtliche, opferfähige Liebe, wies aber seinen Vorschlag eines neuen Zusammenlebens ab. So zog er denn seine Straße nach Dresden weiter. In dieser Stadt, die für einige Zeit der Zufluchtsort der guten Gesellschaft geworden, eröffneten sich ihm die günstigsten Aussichten. Er traf dort Rühle, welcher Major und Kammerherr des Herzogs von Weimar und Erzieher des Prinzen Bernhard geworden, mitten in umfassender litterarischer Thätigkeit\2\ und Pfuel ebenfalls als Lehrer des jungen Prinzen, der als Offizier bei der sächsischen Garde stand. Rühle nahm seinen alten Freund mit offenen Armen auf, und von ihm stammt auch ohne Zweifel im Cottaschen „Morgenblatt“, das kurz zuvor Das Erdbeben von Chili veröffentlicht hatte, eine Dresdener Korrespondenz v. 3. Okt. 1807 mit der Meldung: „Wir erfreuen uns der Gegenwart eines der vorzüglichsten jetzt lebenden Dichter, des Herrn von Kleist, der den Altar des Vaterlandes mit einem so frischen Kranze, dem Lustspiel ,Amphitryon‘ geschmückt hat und vielleicht längere Zeit bei uns verweilen wird.“ Dem Rühleschen Kreise gehörte auch der naturwissenschaftliche Mystiker Gotthilf Heinrich von Schubert an, der im Winter 1807 auf 1808 stark besuchte Vorlesungen über die Nachtseite der Naturwissenschaften, über Visionen, Magnetismus, Ahnungen und Somnambulismus hielt, denen Kleist gewiß auch beiwohnte, denn von jetzt an taucht ein mystischer Zug in seinen Dichtungen auf. Zu seinem Unglück schloß sich aber Kleist besonders eng an den Berliner Adam Heinrich Müller (geb. 1779) an, den von Friedrich Gentz protegierten und auch von Johannes Müller, A. W. Schlegel, ja sogar von Goethe außerordentlich überschätzten Philosophen des Gegensatzes und der Vermittelung, geistreichen Ästhetiker, <LIII:> eleganten Sophisten und mystischen Konvertiten. Müller hatte vor kurzem, während Kleist kriegsgefangen war, auf Rühles Wunsch den Amphitryon mit einer schwärmerischen Vorrede herausgegeben und allerorten, namentlich eifrig bei seinem Freunde Gentz, der in Karlsbad weilte\1\, für Kleist als den wahren Dichter der Zukunft und zumal seines neuen Christentums Propaganda gemacht. Dieser üble Einfluß wurde durch den Umgang mit Schuberts intimsten Freunde Karl Friedrich Gottlob Wetzel (1799-1819), dem Dichter und Arzt, mit dem biedern Maler und Professor der Dresdener Kunstakademie Ferdinand Hartmann aus Stuttgart, mit den Brüdern Schlegel\2\, mit dem Übersetzer Friedrich Laun (Fr. A Schulze, 1770-1849), mit dem Archäologen Karl August Böttiger (1760-1835), dem ehemaligen Weimarer „ubique“, mit Varnhagen\3\, Friedrich Dahlmann aus Wismar und Ludwig Tieck keineswegs ganz aufgehoben. Letzterer wirkte besonders belebend und fördernd auf Kleist, ohne in ein eigentlich freundschaftliches Verhältnis zu ihm zu treten. Er fand ihn ernst, schweigsam und voll würdigen Stolzes; gewissenhaft ängstlich in seinen langsam vorrückenden, oft sich verändernden Arbeiten, und selbst am schwersten zu befriedigen, doch auch von Grund aus hartnäckig und starr gegen fremdes Urteil. Auch Dahlmann erzählt, daß Kleist ihm nie in seinem kritischen Tadel recht gegeben habe.
Der Dichter verkehrte in den besten Häusern Dresdens, so bei dem österreichischen Gesandten Baron Buol-Schauenstein (1763-1834), dem späteren Bundestagspräsidenten, bei dem Landrate Bernhard von Haza-Radlitz und dessen Frau Sophie geb. von Taylor, Adam Müllers nachmaliger Gattin\4\, bei dem Maler Seidelmann, dessen liebenswürdige Gemahlin, eine Venetianerin, ein ungezwungenes Zusammenleben verschiedener Stände und aller politischen Parteien in ihrem Salon möglich machte. Im Hause des Appellationsrates Christian Gottfried Körner verschaffte ihm Schillers ungemein günstiges Urteil über ihn die beste Aufnahme. Der alte Körner schätzte ihn freilich, noch bevor er den Menschen kennen lernte, bereits als Dichter. Adam Müller hatte ihm, als Kleist noch in französischer Kriegsgefangenschaft sich befand, das Manuskript des Amphitryon zur Lektüre übergeben und daran den <LIV:> Wunsch geknüpft, es möchte ein „gutdenkender Verleger“ dafür gefunden werden. Körner hatte auch am 17. Februar 1807 mit einer warmen Empfehlung das „merkwürdige poetische Produkt, das sich besonders durch den Schwung und die Hoheit auszeichnet, womit die Liebe Jupiters und der Alkmene dargestellt ist“, an den Buchhändler Goeschen geschickt, scheint aber von diesem einen ablehnenden Bescheid erhalten zu haben. So war also Kleist bei Körners vortrefflich eingeführt.\1\ Man huldigte in dem klassischen Hause am Kohlenmarkte den Musen und allen guten Geistern. Es wurde gedichtet, gemalt, musiziert, und die Körnerschen Familienglieder gingen ihren kunstsinnigen Gästen mit gutem Beispiel voran. Die witzige, kritische, aber auch etwas altjüngferlich prüde Schwester der Hausfrau, Dora Stock (1762-1842), war eine vorzügliche Pastellmalerin, und die Tochter Emma (1788-1815) malte Öl und Miniatur mit Talent; auch sang sie sehr artig. Karl\2\, ein hübscher Knabe, versuchte sich bereits in der Dichtkunst. Poetische Gäste lasen ihre Produkte vor. Auch Kleist überwand seine Scheu und gönnte seinen Freunden Einblicke in sein poetisches Schaffen. Er fand bei Körners, deren Hausgott Freund Schiller war, Anerkennung aber auch strenge Kritik. Am 15. April 1808 schreibt Emma Körner, offenbar hier das Echo ihrer Familie, an Professor Weber\3\: „Kleist sehen wir ziemlich oft, und seine Gesellschaft gewährt uns recht viel Vergnügen, er ist ein ganz eigener Mensch, und man muß ihn genau kennen, um ihn zu verstehen. Er hat eine reiche Phantasie, welche, wenn ihr die Zügel mehr angelegt werden, gewiß noch große Dinge hervorbringen wird. Obgleich Kleist nichts weniger als anmaßend ist, so bedarf er doch gewiß einen strengen Kritiker, welcher sein außerordentliches Talent auf andere Gegenstände leitet, als er immer zu seinen Dichtungen wählt. Er liebt es mit Stoffen zu kämpfen, aber es ist schade, wenn er seine Kraft verschwendet. Müller tadelt ihn vielleicht nicht streng genug, sondern findet alles unverbesserlich, was Kleist in der Folge nur schaden kann.“ Noch strenger äußert sich Tante Dora (an Weber, 11. April 1808): „Herrn von Kleist sehen wir oft in unserm Hause, und wir schätzen ihn als Menschen, wie er es verdient. Mit dem Schriftsteller haben wir manchen Streit. Sein Talent ist unverkennbar; aber er läßt sich von den Heroen der neuern Schule auf einen falschen Weg leiten, und ich fürchte, daß Müller einen schädlichen Einfluß auf ihn hat. Seine Penthesilea ist ein Ungeheuer, welches ich nicht ohne Schaudern habe anhören können. Sein zerbrochener Krug ist eine Schenkenscene, die zu lange dauert und die <LV:> ewig an der Grenze der Decenz hinschießt. Seine Geschichte der Marquise von O. kann kein Frauenzimmer ohne Erröten lesen. Wozu soll dieser Ton führen?“ Bald findet aber Kleist im Körnerschen Hause einen stärkeren Magnet. Im April 1803 hatte der alte Körner auf den Wunsch seines eben verstorbenen Freundes, des Leipziger Kaufmanns Kunze, der auch zu den nahen Freunden Schillers gehörte\1\, dessen Tochter Emma Juliane (geb. 1786) zu sich genommen.\2\ Sie war ein gutartiges Wesen und, obwohl etwas älter als seine Tochter Emma doch eine angenehme Gesellschaft für diese. Die Kinder schlossen sich eng aneinander wie rechte Geschwister. Alle drei zeigten Talent und Eifer zum Singen; die Eltern ließen ihnen im Sommer 1803 von einem guten Meister Unterricht im Gesang erteilen, und der Vater freute sich im voraus auf die musikalischen Genüsse, wenn sie mit ihm zusammen singen würden. Schiller war sogar von Karl gebeten worden, ein Schaukellied zu liefern, entschuldigte sich aber damit, daß ihm just vom Tell der Kopf ganz „wirblicht“ sei. Bald wurde Juliens Gesang eine Hörenswürdigkeit des Körnerschen Hauses. „Ihr Gesang,“ schreibt Frau Körner an Frau von Schiller am 24. Januar 1807, „ist wirklich etwas Vorzügliches; sie ist überhaupt ein liebes Mädchen, das ich wie mein eigenes Kind liebe. Sie ist uns auch in kindlicher Zärtlichkeit zugethan; sie gehört so zum Ganzen.“ Es währte nicht lange, und Kleist interessierte sich äußerst lebhaft für die junge Waise, und diese war nicht unempfänglich für seine Huldigungen. Da bekannte er stürmisch seine Liebe und verlangte von Julie, wie ehedem einmal von Wilhelmine von Zenge, sie solle sich ihm ohne Rückhalt hingeben und ihm sich verloben und ihm Briefe schreiben, ohne ihre Pflegeeltern davon etwas wissen zu lassen. Entschlossen lehnte das Mädchen diese Forderung ab; wie es heißt, nicht ohne den Beirat von Tante Dora Stock. Kleist wiederholte seine Bitte nach drei Tagen, in denen er sie nicht besuchte, dann nach drei Wochen und wieder nach drei Monaten, und löste, als seine Bedingung ihm nicht zugestanden wurde, das Verhältnis auf.\3\

\1\ Vgl. Briefe VII.
\2\ Rühle gab 1808-1809 „Pallas, eine Zeitschrift für Staats- und Kriegskunst“ heraus, schrieb in Dresden damals: Hieroglyphen oder Blicke aus dem Gebiet der Wissenschaften in die Geschichte des Tages, und Kleist meldete Ulrike, daß Rühles Buch: „Bericht eines Augenzeugen von dem Feldzuge des Fürsten Hohenlohe-Ingelfingen“ bei Cotta schon in zweiter Auflage erschienen sei. (Koberstein 139.)
\1\ Vgl. Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam H. Müller 1800-1829. Stuttgart 1857, S. 93ff. Auf Tieck machte Müller „stets einen abstoßenden Eindruck; er war rechthaberisch, hochfahrend und vornehm-geheimnisvoll“; vgl. Ludwig Tieck von R. Köpke 1855, I 338. Varnhagen dagegen schildert ihn in der „Gallerie von Bildnissen“ II 148 als einen der angenehmsten und hinreißendsten Menschen im Umgang und Gespräch.
\2\ In Begleitung Wilhelm Schlegels war die Staël im Juni 1808 eine Woche in Dresden, verkehrte bei Körners und Müllers und lernte wohl auch Kleist kennen. Müller machte im „Phöbus“ und in den „Abendblättern“ fleißig Propaganda für sie.
\3\ Vgl. Briefe XI.
\4\ Seit 1805 war das Haus des Herrn von Haza, der hauptsächlich der Erziehung seiner Kinder wegen aus Posen nach Dresden gezogen, der Mittelpunkt für katholisierende Romantiker. 1807 empfahl Adam Müller den nach Karlsbad gehenden Haza an Goethe, der diese Bekanntschaft als eine sehr angenehme bezeichnet. (Brief an Müller v. 28. Aug. 1807 in Riemers Briefen von und an Goethe, 1846, S. 171.) Noch im selben Jahre scheint die Ehe getrennt worden zu sein. Er starb 1853 als Landrat in Samter.
\1\ Auch Kleists Familie war Körners nicht unbekannt. Dora Stock erkundigt sich am 19. Febr. 1807 bei Professor Weber: „Ist die Familie Kleist noch in Frankfurt? und vorzüglich die Schwester von Heinrich von Kleist, eine Frau von Massow?“ Offenbar ist Tante Massow gemeint. Vgl. Briefe der Familie Körner 1804-1815, herausgegeben von Prof. Albert Weber in Deutsche Rundschau 1878, Heft 9 und 10, S. 467.
\2\ In den Familienbriefen wird er erst nach 1811 Theodor genannt.
\3\ Friedrich Benedikt Weber (1774-1848), Professor der Land- und Staatswissenschaft in Frankfurt a O., dann Breslau.
\1\ Vgl. Briefwechsel von Schiller und Körner I, 74f., 150, 157.
\2\ Vgl. Anhang zu den Briefen: 1. Alimentationskontrakt Julie Kunze und Chr. G. Körner betreffend.
\3\ Wieviel und was an diesen Überlieferungen wahr ist, läßt sich kaum mehr ermitteln. Daß Julie Kunze und ihr Verhältnis zu dem Dichter des „Käthchens“ sich in diesem mehrfach wiederspiegelt, liegt auf der Hand. Es scheint im ersten Teil ganz in glücklichster Bräutigamsstimmung geschrieben; nur die spätere Bearbeitung, vor welche der Bruch fallen mag, zeugt von Kleists Verbitterung. Daß ihm Tante Dora zur Rache als Modell diente, ist nicht unglaubwürdig. Jedenfalls ließen Körners es mit nichten merken, daß sie das Urbild der Kunigunde kennen. Sie bewahrten Kleist ihre freundliche Gesinnung, und noch am 28. November 1809 schreibt Emma an Weber: „Heinrich Kleist wird Ihnen gewiß immer mehr gefallen, je länger Sie ihn kennen; er hat kleine Eigenheiten in seinem Charakter, die anfänglich auffallen, die aber so unumgänglich zu dem ganzen Menschen gehören, daß man sich sehr bald daran gewöhnt, wenn man das große dichterische Genie, welches er besitzt, zu schätzen weiß. Wenn Sie ihn sehen, so haben Sie die Güte ihm für sein Andenken zu danken und ihn vielmals von uns allen zu grüßen.“ Und am 20. November 1810 teilt sie mit, daß ein Blatt „wovon Fouqué und Kleist Redakteurs sind, täglich unter dem Namen „Abend-Zeitung“ in Berlin herauskommt“. Erst in Theodors Brief an seinen Vater, der ihm Kleists Tod anzeigt, verrät sich die Mißstimmung, wenn der Schreiber sich wundert, nicht über des Dichters trauriges Ende, sondern daß „sich eine Frau aus Liebe zu ihm hat erschießen können“. Vgl. Briefe Anhang 4.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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