Neue Allgemeine Deutsche
        Bibliothek (Berlin, Stettin), Bd. 85, 2. Stück, 6. Heft, (Dezember) 1803,
        370-374 
         
        Die Familie Schroffenstein 
          
        Die Familie Schroffenstein. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. 
         Bern und Zürich, bey Geßner. 1803. 268 S. 8. 1 Rthlr. 
         
        Abermal ein Versuchstück aus der Klasse derer, die von einer Seite manch Gutes hoffen,
        und von der andern viel Schlimmes wieder befürchten lassen! Daß der ungenannte Verfasser
        ein junger, noch nicht taktfester Mann ist, verräth schon sein Vortrag, als dem man den
        Mangel vorläufiger Übung nur zu häufig ansieht. Aus den Überladungen, Eccentritäten
        und übrigen Fehlern in Plan und Darstellung, woran es dem Stücke gleichfalls nicht
        mangelt, läßt heut zu Tage sich weit unsicherer als die Mündigkeit 
          eines
        Autors schließen; denn seitdem das deutsche Publikum gegen regelrechte 
          Dramen sich so kaltsinnig zeigt, daß selbst unsre besten Köpfe stutzig geworden, und
        nicht weiter bekümmert, ob auf Kosten der Natur und Kunst? dem neuesten Ungeschmack
        fröhnen: seit solch einer Umkehr der Dinge geschieht es zu oft nur, daß Schriftsteller,
        die etwas ungleich Besseres liefern könnten, nicht selten auch wirklich schon geliefert
        haben, lieber auf den Preis der Nachwelt als den Flitter des Augenblicks Verzicht thun,
        und somit die Verstimmung noch höher treiben helfen! 
         Das Stück selbst spielt in entfernter Ritterzeit, und das mitten in
        rauher Gebirgsgegend; was deßhalb zu bemerken war, weil sonst mancher vom Verf. beliebte
        Platzwechsel sich gar nicht begreifen ließe. Ein paar verwandte und benachbarte
        Edelfamilien gerathen, leidiger Erbverträge wegen, in gegenseitiges Mißtrauen; das durch
        plötzliche Todesfälle, woran, wie am Ende sich zeigt, doch nur der Zufall Schuld war, zu
        einer Bitterkeit steigt, die endlich in offene Gewaltthätigkeiten ausbricht. Schon im
        Beginn der Fehde selbst aber trübt manch neues Ereigniß, wiederum bald Spiel des
        Zufalls, bald bittere Frucht eines unbändig gewordnen Jähzorns, die Aussicht dermaaßen,
        daß nur der schrecklichste Ausgang noch zu erwarten bleibt. Umsonst blitzt durch diesen
        Sturm hochwogender Leidenschaften dann und wann ein Fünkchen Hoffnung zu friedlicher
        Übereinkunft: Alles ist bereits zu verstimmt und verwickelt, um gegen das hereinbrechende
        Schicksal  sich weiter schützen zu können. Dieses nun führt eine der
        gräßlichsten Katastrophen herbey. Die beyden Hausväter und Lehnsvettern stoßen ihre
        zwey noch übrigen Kinder mit eigner Hand nieder; jeder das seine; indem nämlich jeder
        auf das des Feindes zu stoßen glaubt; zu welchem schrecklichen Mißgriff nicht nur die
        umgetauschte Kleidung der armen Geschöpfe, sondern auch das Nachtdunkel einer
        Gebirgshöhle schon Anlaß geben konnte. Die beyden Väter in eine und dieselbe Kluft zu
        bannen, hatte freylich wieder neue Künste gekostet. 
         Ein Drama, wo außer dem so eben erwähnten Hauptschlage noch ein paar
        andre Verwundungen und Morde vorgehn, (obgleich die Ansicht der letztern uns sparsam
        wurde,) müßte Trotz aller Kunst dennoch Eindrücke hervorbringen, die nicht
        erschütternd, sondern empörend  wären. Um den Leser oder Zuschauer also
        mitten unter diesen Tumult der erbittertsten Rachsucht festzuhalten, läuft durchs
        ganze Stück ein so lebhafter, nicht selten neu  genug dargestellter
        Liebeshandel zwischen dem Sohne des einen Hausvaters und der Tochter des andern; beydes
        noch sehr junge Leute, und die uns mithin die ersten Blüthen aufkeimenden Gefühls zum
        Besten geben. Daß sie, als Verwandte und Nachbarn, geraume Zeit hindurch einander nicht
        namentlich kennen, fällt allerdings sogleich auf, und wird erst S. 160 begreiflich, wo
        die Mutter des jungen Menschen erzählt, ihr Sohn sey am kaiserlichen Hofe Edelknabe
        gewesen, und seit drey Monaten erst wieder zu Hause. Außer diesem Liebhaber, der doch
        wahrlich schon leidenschaftlich genug zu Werk geht, hat das gute Mädchen noch mit einem
        andern ihre liebe Noth, der ein Halbbruder des vorigen ist, ihn aufs abentheuerlichste
        zusetzte, und ehe man sichs versieht, völlig toll wird! Ein schon ältrer
        Seitenverwandter ist ihr nicht weniger zugethan, giebt aber, sobald er merkt, was für
        Nebenbuhler ihm im Wege stehn, seine Absichten auf, will durch Vereinigung der beyden
        jungen Leute den Familienzwist endigen helfen, und wird als Opfer dieses edelmüthigen
        Versuchs unbarmherziger Weise todtgeschlagen. Zu diesem halben Dutzend in rastloser
        Bewegung gehaltner Personen, fügen sich noch zwey wackere Hausmütter, die auch nicht
        müßig sitzen; ein alter blind und kindisch gewordner Großvater, und eine
        Todtengräberinn mit ihrer dichterischen Tochter; noch andre minder regsame Figuren
        ungerechnet: so daß für ein doch 16 Bogen füllendes Stück hier auf keine Weise zu
        wenig gehandelt wird. Bey Hinsicht auf Zeit - und Orts-Einheit 
        muß man freylich ein Auge, oft beyde zudrücken; was indeß die der Handlung 
        betrifft, gebührt dem Ungenannten doch wirklich das nicht kleine Lob, irgend seinen
        Hauptzweck aus dem Gesichte verloren zu haben. Auch uns in Athem und Erwartung zu halten
        verstand er schon, und wenn nicht alle Charaktere gleich gut durchgeführt sind, (die der
        beyden Väter z. B. als welche bald einander zu stark ähneln, bald wieder zu grell
        abstechen:) so war dieß eine der Aufgaben, deren Lösung man von keinem Versuchstücke
        erwarten wird. Selbst der leidige Umstand, daß die Hälfte der hier verbrauchten Farben
        sein Gemälde tragisch genug gelassen hätte, ist ein Mißgriff, der nur reichen
        Imaginationen eigen bleibt. Den Dramatikern neuesten Schlags hat er ihn zuverlässig nicht
        abgesehn; denn diese verstehen höchstens nur aus Wenig noch Wenigeres zu machen. 
         Bey den Fehlern des Stückes länger zu verweilen, hält Rec. für
        unnöthig. Sein Verfasser ist offenbar ein so fähiger Kopf, daß er sein Erzeugniß nur
        nach Jahr und Tag wieder anzusehen braucht, um die es noch entstellenden Verstöße gegen
        Natur, Geschmack und Schicklichkeit auch ungewarnt wahrzunehmen. Seiner Einbildungskraft
        kann er unmöglich ein Haar breit den Zügel weiter schießen lassen, ohne ins
        Ungenießbare zu stürzen. Jeder Schritt also zurück, wird für die Kunst, und für ihn
        selbst Gewinn seyn; da er denn wohl fühlen wird, daß auch im geregelten Raume sich noch
        frey genug athmen läßt. Eine mit Shakespears  Manier schon
        vertraut gewordne Bekanntschaft blickt überall durch; und da läuft es denn freylich auch
        nicht ohne Reminiscenzen ab, die bald stärker, bald schwächer sich aufdringen. In der
        Stelle jedoch: 
         Die Stämme sind zu nah gepflanzet, sie 
         Zerschlagen sich die Äste;    
        bleibt der einheimische  Borg etwas zu sichtbar; denn wer denkt nicht
        hierbey an den in Lessings Nathan  mit denselben Worten
        ausgedrückten Sinn? Weil von Versen  die Rede! Die zehn und eilfsylbigen
        des Ungenannten sind mit unter lebhaft und reintönend genug; aber auch hier bleibt für
        seine Metrik, besonders des in unsrer Sprache so schwierigen Jambus noch vollauf zu lernen
        übrig. Nicht selten hebt der Vortrag des Stücks sich bis zum lyrischen; verschmäht aber
        eben so wenig Verse, wie folgende: 
         Dem ein Schwarzkünstler Faxen vormacht  
        Oder: 
         Und der mich so infam belogen hat.  
        In andern wieder ist ein bejahrter rauher Ritter aus dem Mittelalter doch schon so
        gewandt, sich, wie folgt, auszudrücken: 
         Und weil doch Alles sich gewandelt, Menschen 
         Mit Thieren die Natur gewechselt, wechsle 
         Denn auch das Weib die ihrige!  verdränge 
         Das Kleinod Liebe, das nicht üblich mehr, 
         Aus ihrem Herzen, um die Folie, 
         Den Haß, hineinzusetzen!   
        Stellen, die durch ein dem Herzen sehr glücklich abgelauschtes Gefühl sich auszeichnen,
        giebt es unter den sie umgebenden, als Bombast zerplatzenden Übertreibungen, in großer
        Menge. Jene  aber wollen in ihrem Zusammenhange genossen seyn, der wieder
        zu viel Raum kosten würde, und wer verlangt Proben von diesen ? Von
        sinnhaltigen Äußerungen, wie etwa: 
              Mienen 
           Sind schlechte Räthsel, die auf Vieles passen. 
           
        oder: 
         An eigne Kraft glaubt doch kein Weib; und traut 
         Stets einer Salbe mehr zu als der Seele!  
        ist ein Überfluß vorhanden.  Aus dem Hexenversuch der Todtengräberinnen (einem an
        sich selbst höchst widerlichen Zwischenspiele, das aber unser Nachahmer Shakespears
        gar nicht ungeschickt ins Ganze zu verflechten weiß) wollte Rec. sehr gern die
        hochauffliegende Anfangsstrophe hersetzen; müßte sodann aber, um von den Idiosynkrasien
        des Verf. einen Begriff zu geben, auch die zweyte , desto ekelhafter
        ausgemalte, folgen lassen; und dieß kann er sich nicht abgewinnen! Kurz und gut: Versucht
        der Ungenannte sich wieder am Drama: so wird sein nächstes Stück über die Reputation
        des Autors entscheiden. Entweder etwas ungleich Besseres; oder es ist um seinen Takt und
        Geschmack auf immer geschehn!
        Do.  
        
           
           
         
  
  
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