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Percy Matenko, Tieck and Solger. The Complete Correspondence (New York, Berlin: Westermann 1933), 338-348

Karl Wilhelm Ferdinand Solger an Ludwig Tieck, Berlin, 2. und 4. (bis 9.) 2. 1817

Berlin, den 2ten Februar 1817.
Ihr Brief, mein theuerster, verehrtester Freund, worin Sie mir zur Geburt meines Töchterchens Glück wünschen, hat mich herzlich erfreut. Wie unendlich werth ist mir die Theilnahme eines Freundes, wie Sie sind, an diesen häuslichen Begebenheiten, die so großen Einfluß auf den ganzen Zustand meines Gemüthes haben! Man muß doch Ehemann und Vater sein, um so recht etwas vom Leben erfahren, und es in seiner ganzen Wirklichkeit gefühlt zu haben. Wer diese Furcht, diese Hoffnung, diese Freude, und diese Trauer, worin wir selbst und unsre Geliebten so ganz ungetrennt sind, nicht gefühlt hat, der hat doch nur halb gelebt. Ich sah diesmal den entscheidenden Tag mit einiger Besorgnis kommen, doch mit der Zuversicht, daß die Natur zu dem, was sie vollbringen will, auch selbst die Kräfte schafft. Und diese ist nicht getäuscht worden. Meine geliebte Frau befindet sich jetzt besser, und fast schon kräftiger als vorher. Ich hoffe immer, ihre Natur wird sich mehr befestigen, und ich werde nicht den herben Kelch trinken müssen, sie zu entbehren, bis wir beide ein ganzes Leben mit einander genossen und getragen haben. Dieses ist unter meinen irdischen Wünschen der höchste. Der Verlust unseres kleinen Rudolfs hat uns der liebe Gott nicht ersparen wollen, vielleicht damit wir nicht zu ungestört und träge unseres Glücks genießen sollten; wir haben ihn mit Ergebung auf uns genommen, und wohl gefühlt, wie er zu unserem inneren Besten gereichen könne und solle.
Unsere glücklichen Abende hatte in der letzten Zeit Ihr Fortunat verschönert. Sie brauchen nicht ausdrücklich mein Urtheil darüber zu fordern; es hat mich längst getrieben, es Ihnen zu geben. Dieses Werk gehört zu denen, wo ich Sie ganz zu verstehn glaube, und vollständig mit Ihnen einverstanden bin. Den Unterschied des Charakters der beiden Theile geben <339:> die Gespräche nachher deutlich genug und treffend an. Den ganzen ersten Theil hindurch bleibt man in einer frischen und heiteren Erregung; er ist unendlich ergötzend und erquickend. Er hat etwas klassisches darin, daß er durchaus kein zu specielles Interesse erweckt, und daß seine ganze Schönheit in der freien und anmuthigen Verknüpfung der Theile und in der höchst liebevollen und lebensreichen Ausführung besteht. Die dramatische Rundung, die das Mährchen nur irgend haben kann, erhält er durch den alle Prophezeiungen erfüllenden Schluß, und durch mehrere hindurchgehende , und an dem Orte ihrer Verknüpfung überraschende Beziehungen, wohin  ich zB. die Identität des Mörders in London mit dem Wirthe Abel rechne. Es ist eine wahre, hohe Unschuld in dem Ganzen; diesen Eindruck befördert die gänzliche Abwesenheit aller gekünstelten Anlage und aller scharfen, dramatischen Effekte. Dahin gehört auch, daß das einzige Wunderbare die Erscheinung der Fortuna und der Seckel ist, und dieses wird uns in der folgenden Ausführung wie durch Gewohnheit zur sicheren Wahrheit. Diese Reinheit, mein theurer Freund, ist Ihnen vor allen eigen; sie ist weit über unser Zeitalter erhaben, und erfrischt uns um so herrlicher, als wenn wir durch des den klaren Spiegel Ihrer Dichtung die einfältigen Sagen einer kindlichen Vorwelt auf den Grund unseres eignen gebildeten und verworrenen Lebens hingeworfen sehn. Das aber ist das höchste, was besonders die dramatische Kunst soll, uns in unserer eignen Gegenwart das Bild der stets gleich bleibenden wesentlichen Natur enthüllen. Das ist es ja, was im Grunde auch den eigentlichen Werth der heroischen Dichtungen der Alten ausmacht. Wohl Ihnen, daß Sie sich grade dieses Stoffes und dieser Behandlung desselben so ganz bemächtigt haben! Wenn ich an dem ersten Theile etwas aussetzen sollte, wo wäre es manchmal eine zu große Ausführlichkeit, obwohl ich nicht genau angeben könnte, was ich abgekürzt wünschte. Manches ist dagegen nur wie skizzirt, aber gewiß grade recht. Anfänglich glaubte ich einmal, die Erscheinung der Fortuna müßte noch mehr als <340:> fester Punkt hingestellt, und noch bedeutender ausgeführt sein; aber dies war ein Irrthum; es würde Künstelei geworden, und die anspruchsvolle Verknüpfung, die einen der größten Reize des Werkes ausmacht, verloren gegangen sein.
Wenn Sie meinen, dies Werk sei Ihr gewagtestes, so sprechen Sie ohne Zweifel hauptsächlich vom 2ten Theile. Und da muß ich Ihnen sagen, daß ich in der komischen Verwickelung und tragischen Entwickelung, ein höchst glückliches Wagstück, ja eine großartige Erfindung sehe. Dies ist ein wahrer Meisterstreich, der mich zu meiner größten Lust überrascht hat. Wie tief ist es gedacht, daß Andalosia die ganzen 4 Akte hindurch nie seiner Zaubergüter froh wird, sich immerfort um ihren Besitz quälen muß, und im 5ten, wo er in der Fülle ihrer Gaben schwelgt, so schrecklich untergeht! Das ist ein wahres, großes Bild des Lebens. Und eben so tief sind, wenn ich es recht verstehe, entgegengesetzt die Narrheit und der Unsinn der Welt, der sich in jenen 4 Akten herumdreht, und das fruchtlose Insichgehn der Andalosia im letzten. In diesen Zusammenstellungen liegt eine Shakspearische Schärfe, und doch ist alles so durchaus eigenthümlich und gegenwärtig erfunden. Dieser Theil hat hiedurch eine weit strengere dramatische Handlung bekommen. Das Abreißen zwischen dem 4ten und 5ten Akte muß ich auch billigen; der Uebergang würde bei größerer Verknüpfung vielleicht zu schroff erscheinen. Aber die Frevelthat Theodors und Limosins hätte ich vielleicht etwas mehr vorbereitet gewünscht. Daß die junge Königin, von der man das Schlimmste erwartet,  nicht daran Theil hat, muß ich zuletzt auch als richtig anerkennen. Nur Eins scheint mir noch zu willkührlich, wiewohl es an sich vortrefflich wirkt, das Ende Ampedos. Vielleicht wäre es das weniger, wenn sein Gemüthszustand vorher noch etwas mehr ausgeführt worden wäre; dann hätte er auch wohl einen noch kräftigeren Gegensatz mit Andalosias reflectirender Stimmung gebildet. Sagen Sie mir, ob ich Sie recht verstehe, und alles richtig deute. Manches Einzelne möchte ich im 2ten Theile <341:> auch wohl kürzer haben; Theodor kommt mir fast zu oft vor.
In Summa, es scheint mir eins Ihrer trefflichsten Werke zu sein, und manche meiner gründlich urtheilenden Freunde, zB. Krause, stimmen hierin mit mir überein. Im 2ten Theile erwartet man an einigen Stellen mehr satirische Beziehungen auf die Gegenwart, wie in der Scene mit den Aerzten, auch den unvergleichlichen Hof- und Stadtscenen. Ich glaube aber jetzt, daß grade der tragische Schluß hierin mäßiger machen mußte. Die Narrheit löst sich hier nicht so in sich selbst auf, wie in der verkehrten Welt und in dem gestiefelten Kater. Die Nebenpersonen sind unvergleichlich, und es ergötzt sehr behaglich, die Danielsche Familie so durch beide Theile hindurch in ihren angenehmen Lebensverhältnissen zu begleiten. Einzelne Züge sind so äußerst komisch, wie Sie je etwas gemacht haben; unter vielen gefiel mir vorzüglich die Beschämung des Adepten durch den neuen Stein der Weisen, das alte Leder. Die Sprache muß ich ganz besonders rühmen; die Verse des letzten Aktes, besonders in Andalosias letzten Reden sind so wunderschön, wie Sie vielleicht noch nie welche gemacht haben.
Den 4ten.
Heute Mittag habe ich bei Burgsdorff gegessen, wo ich, nebst Schütz, auch Reimer traf. Die Bücher, die Sie haben wollten, hatte ich schon bei mir liegen; da mir aber das Einpacken sehr sauer wird, so war es mir willkommen, daß Reimer grade welche für Sie packen wollte. Ich habe ihm also die meinigen zugeschickt, und Sie werden sie durch ihn erhalten. Die Sache Kleists habe ich nicht vernachlässigt, aber ich weiß nun nicht mehr, was ich mit Rühle machen soll. Er scheint nicht recht zu wollen, und da ist es mir zuwider ihn nochmals anzugehn. Ich muß ihn also aufgeben, und meinen ganzen Antheil an der Sache, was mir sehr leid thut. Dagegen hat Schütz Wege gefunden, authentische Nachrichten über Kleist zu erhalten, und er wird Ihnen gewiß etwas brauchbares verschaffen.
Ich glaube, theurer Freund, daß Sie den Sinn und Zweck <342:> meines letzten Gesprächs richtig verstanden haben; dieses schließe ich aus Ihrem Briefe darüber, und es ist mir höchst erfreulich. Sie sprachen dabei von einem Kampfe, der in Ihnen vorgegangen sei; nun wünschte ich sehr darüber etwas näheres von Ihnen zu hören. Die Einheit des Stoffes der Philosophie und Religion glaube ich so ausgedrückt zu haben, daß Sie hieran kaum einen Anstoß nehmen konnten, vielleicht aber daran, daß die Philosophie auch durch eine gewisse Begeisterung oder Offenbarung entstehn soll. Dieses glaube ich Ihnen am annehmlichsten machen zu können, wenn ich sage, daß mir der Philosoph sich hierin dem Dichter ähnlich zu verhalten scheint. Das ist wohl doch gewiß, daß sich seine Wissenschaft von allen übrigen dadurch wesentlich unterscheidet, daß sie allumfassend ist. Jede andere hat etwas Vorausgesetztes, Gegebenes, entweder eine bestimmte Form der Erkenntnis, wie die Mathematik, oder einen bestimmten Stoff, wie Geschichte, Naturkunde und dgl. Sie allein muß sich selbst schaffen, und da dieses von außen unmöglich ist, so muß es von innen geschehn; und eben dieses heißt doch wohl nur so viel, als das Wesen selbst muß sich in ihr offenbaren. Darum muß sie auch zugleich das ganze Gemüth durchdringen, wie die Religion, und zugleich sich vollständig äußerlich darstellen, wie die Kunst, und was in anderen Wissenschaften beides auch thut, das ist die darin lebende Philosophie. Wem aber dieses innere Lebensprinzip der Begeisterung und Offenbarung abgeht, der hat auch bloß die Gerüste und die Form der Philosophie, wie die Dogmatiker oder Formalisten, denen alle diejenigen ähnlich werden, welche nicht sich selbst und die Welt umschaffen, sondern alles erklären und bloß in Zusammenhang setzen wollten, gingen sie auch, dem Inhalte nach, von den tiefsten Anschauungen aus. Weil aber diese ohne völlige Vernichtung und Auflösung des ganzen Prinzips der Erscheinung immer nur auf Einzelnes gehn können, so entstehn daraus auch einseitige Beziehungen und Anordnungen des Weltalls, die, weil sie in ihrer Allgemeinheit immer neu und überraschend sein müssen, grade durch ihre Einseitigkeit und Beschränktheit die Menge weit <343:> mehr gewinnen und ihr mehr imponiren, als die wahre Philosophie. Diese erscheint dann mehr dem Gemeinen und Bekannten allzu ähnlich, weil das Gemeine und Bekannte durch unbewußten Instinkt auch in seiner Ganzheit erkannt wird; was aber das Wahre darin ausmacht, sind wenige im Stande zu begreifen, und in bloße Worte und Formeln läßt sich auch nicht das geringste davon erfassen. Wie ein Wunder nicht in erträumten Unmöglichkeiten bestehn kann, sondern grade in der Umschaffung des ganz Gegenwärtigen und Wirklichen durch eine ewige Kraft, so auch die Philosophie. Nun hat aber diese freilich das Eigenthümliche, daß es eher möglich ist, sich ihrer Form und ihres Gerüstes zu einseitigem und wahrhaft unphilosophischem Gebrauche zu bedienen, als dergleichen bei der Kunst oder bei anderen Wissenschaften angeht. Dann die Beziehungen, in welche die Philosophie das Wesen der Erkenntnis setzt, sind dieselben, die auch die Grundlage der gemeinen Erkenntnis ausmachen. Daher kann man immerfort philosophiren, und die Construction und Formeln der Wissenschaft, einem Eingeweihten gleich gebrauchen, wie Fries, oder gar wie Herbart, oder vollends wie Krug, und dennoch ganz außerhalb der Philosophie sein, weil der lebendige Geist der Wahrheit, die Offenbarung und Begeisterung fehlt; und so wird Formalismus, Dogmatismus, auch wohl Idealismus und Realismus, oder dergleichen. Dann hält man aber den Körper der Wissenschaft für ihren Geist, so gut wie der, welcher die Geschichte in den Jahreszahlen oder auch selbst in pragmatischen Systemen, oder in der bloßen Kritik sucht, die Poesie im Ausdruck, in den Bildern, in der klugen Anlage des Plans u.s.w. Die Wahrheit ist überall dieselbe, und kann nur durch sich selbst, d.h. durch Begeisterung und Offenbarung, nicht durch etwas anderes da sein; nur daß sie in der Philosophie sich selbst beschaut, und deswegen ist sie da der religiösen und künstlerischen Weissagung verwandter, als irgend einer anderen Begeisterung.
Ich bin auch überzeugt, daß die wahre Philosophie nur im <344:>
Stillen, und gleichsam unbewußt wirken kann, weil es immer sehr wenig Menschen giebt, die nur dahin zu bringen sind, daß sie das Einfache und Reine als das höchste erkennen. Sie wollen Schwung und Pomp und außerordentliche, unerhörte Herrlichkeiten, die sie sich doch nur aus den Lumpen der gemeinen Gegenwart zusammen setzen und die sich zur Wahrheit verhalten, wie eine künstliche Mosaik zum lebendigen menschlichen Körper. Die Sokratische Philosophie wurde von der elganten Welt Athens verachtet, die stoische und Epikurische wurden Hof- und Staatsphilosophien. Darum bleibe ich immer dabei, daß sich die Philosophie am besten in ihrer ganzen Wirklichkeit darstellt durch das Gespräch, und daß dies ihr bestes Mittel bleibt auf Menschen lebendig zu wirken; denn hochtrabende und, wie es jetzt heißt, anregende oder begeisternde Reden führen eben am leichtesten zu jener leeren und einseitigen Faselei.
Schütz sagt mir, Kadach sei nicht zufrieden mit dem Schlusse des 5ten Gesprächs, weil es doch wieder auf einen Dualismus führe. Was nennt er Dualismus? Sind hier 2 von einander unabhängige und für sich bestehende Prinzipien aufgestellt? Oder ist Eins so gespalten, daß es sich wieder mit sich selbst vereinigte? Grade diese Rückkehr desselben zu sich selbst ist es ja, der was ich als das Letzte und Höchste in der Philosophie aufstelle. Diese ist aber freilich in dem Gespräche nicht ausgeführt, wie es ja auch der ganze Sinn und Zweck desselben nicht zuließ. Es soll ja nur eine Aussicht geben, von der negativen Seite her, nachdem die einseitigen Richtungen in dem vorigen und den vorangegangenen Gesprächen sich aufgerieben haben. Verlangt K. eine Einheit ohne alle Spaltung, Trennung und Beziehung, so ist dies etwas undenkbares, eine bloße Einheit der Zahl, mit welcher sich nichts anfangen läßt. Das Denken besteht nur in der Sonderung und Beziehung der Elemente des Einen und selben, und selbst die Anschauung ist nicht ohne einen Gegensatz, der darin zusammentrifft. <345:> Diejenigen, welche annehmen, daß der Zwiespalt in unserer Existenz bloß aus einer relativen Schwäche unsrer Natur entstehe, die sind in einem unaufhörlichen Dualismus befangen, indem sie nur eine unendliche Wiedervereinigung des Gesonderten annehmen können, wie Fichte. Eben so aber auch die, welche in dem Dasein selbst überall das vollkommene Sein finden, wie Schelling; denn sie können müssen Gott einem solchen Werden unterwerfen, wie es unser eigenes ist. Dies zeigt sich am vollständigsten in Schellings Abhandlung über die Freiheit des Willens, welche mit einer Aufstellung von zwei völlig getrennten, und einander gar nicht mehr berührenden Mittelpunkten schließt. Wenn unser Freund diese lesen will, so wird er darin erst einen recht unvereinbaren Dualismus finden. Spinoza nähert sich viel mehr dem Wahren; doch das würde mich hier zu weit führen. Nicht unsere relative Schwäche macht unsere Unvollkommenheit, nicht unser eigenes wesentliches Sein unsere Wahrheit aus. Wir sind deshalb nichtige Erscheinungen, weil Gott selbst in uns Existenz angenommen, und sich dadurch von sich selbst geschieden hat. Und ist dieses nicht die höchste Liebe, daß er sich selbst in das Nichts begeben, damit wir sein möchten, und daß er sich sogar selbst geopfert und sein Nichts vernichtet, seinen Tod getödtet hat, damit wir nicht ein bloßes Nichts bleiben, sondern zu ihm zurückkehren und in ihm sein möchten? Das Nichtige in uns selbst ist selbst das Göttliche, insofern wir es nämlich als das Nichtige, und uns selbst als dieses erkennen. In diesem Sinne ist es auch das Gute, und wir können vor Got nur wahrhaftig gut sein durch Selbstopferung. Wenn aber dieses ist, so dächte ich, der Dualismus wäre so wenig darin zu finden, daß nicht einmal erscheint, was und wo das Böse ist? Dieses ist auch nicht, sondern es ist das, was nicht ist. Und zwar nicht ein relatives Nichts, sondern ein abolutes, keine Negation oder Privation, wie bei Spinoza, sondern selbst ein All, aber das  nichtige <346:> All. Daß wir aber böse sein können rührt daher, daß wir eine Erscheinung, eine gemeine Existenz haben, die an sich weder gut noch böse, weder etwas noch nichts ist, sondern eben bloß der Schatten, den das Wesen in seinem getrennten Dasein auf sich selbst wirft, und auf welchen wir, wie auf einen Rauch, das Bild des Guten und des Bösen hinwerfen können. Alle unserre bloß moralischen Tugenden sind ein solches reflektirtes Bild des Guten, und wehe dem, der sich auf sie verläßt! Alle unsere bloß moralischen Laster sind ein solcher Widerschein des Bösen, und wehe dem, der darüber verzweifelt, und sie für etwas hält, das wirklich und wahrhaft ist, und nicht an den glaubt, vor welchem sie nichts sind, und der sie allein in uns heben kann! Dieses sind die realtiven Vollkommenheiten und Schwächen, welche die unendlichen Gegensätze der Existenz mit sich führen. Was nicht ist, das wird nie sein, und wer daran glaubt, der stößt sich selbst aus, von dem, was ist, und in den Abgrund des positiven oder absoluten Nichts. Freilich bedarf es noch einer ausführlichen, und nicht eben leichten Entwicklung, wie die gemeine Existenz, in der alles nur beziehungsweise da ist, eine solche Folie für die Prinzipien werden, wie sich darin auch für sich das Gute darstellen könne und müsse, und dieses ist eben ferneren positiven Darstellungen vorberhalten. Die Hauptsache aber muß sich fühlen, und dieses Gefühl sich schon durch Andeutungen erregen lassen, welches eben meine Absicht war. Die gerühmte Einheit unser selbst im Bewußtsein ist auch immer nur etwas, das durch Beziehung da ist, so lange ihr etwas äußeres gegenüber steht, das wir nicht sind, und das doch für uns da ist. So wie in unserer äußeren Anschauung etwas ist, das unser Erkennen begrenzt, und wodurch uns erst die Gegenstände entstehn, so ist auch etwas der Art in unserer inneren Selbstanschauung. So lange nur dieses erkannt wird, in so fern es nicht unsere besondere Individualität ausmacht, als Freiheit im Allgemeinen, Selbsterkenntnis überhaupt, oder allgemeine Natur, oder wie sonst in diesem Gegensatze gegen die äußere Begrenzung, bleibt <347:> es immer nur ein allgemeiner Begriff ohne Kraft und Leben; und darauf kommen die meisten dogmatischen Systeme heraus. Erst dann ist dieser innere Stoff unseres Selbstbewußtseins wahrhaft gegenwärtig da, wenn wir ihn wahrnehmen als die lebendige Idee, in welche unsere Selbstanschauung so wohl wie unsere Anschauung äußerer Dinge vollkommen aufgeht, das heißt eben als den lebendigen, gegenwärtigen Gott, der sich in uns und in der Außenwelt selbst zum Dasein schafft und offenbart. Darum fühlen wir, daß wir in unserem Dasein außer uns selbst, d.i. außer unserem Gott sind, und nur durch sein eigenes Wirken in ihm sein können, darum auch, daß grade das, was wir einzelne Thatsache, zufällige Begebenheit außer uns nennen, das Wirken göttlicher Vorsehung ist, welches uns oft, wie es auch muß, in dem Zufälligsten am allergewaltigsten ergreift. Darum fühlen wir, daß das Zweckmäßige, Besonnene, Vernunftmäßige in uns nicht das Beste ist, sondern das, worin wir grade augenblicklich enthalten ist sind, und uns als reflektirende Wesen ganz verlieren. Dieses ist es eben, worauf allein Kunst und Religion beruhen, und es zur Einsicht und zum Bewußtsein zu bringen, ist das einzige wahre Streben der Philosophie. Dieses Bewußtsein muß ein solches sein, worin Anschauung und reflektirende Beziehung ganz in Eins aufgehn, weshalb man dahin von allen Seiten, und von jedem Theile, von jeder Richtung des Erkennens aus muß gelangen können. Dieses ist der innere, lebendige Kern aller Erkenntnis, auf welchen ich überall gern führen möchte, das Einfache, das Wahre.
Habe ich mich Ihnen hier wohl deutlich genug ausgedrückt? Ich dächte es, wenn Sie diese Ausdrücke mit dem, was ich sonst geschrieben und gesagt vergleichen, noch mehr, wenn Sie in Ihr eigenes Gefühl zurückgehn. Denn ich wünsche nur das zu entwickeln, was jeder von der Wahrheit erfüllte Geist von selbst in sich hegen muß. Es wird mir gewiß höchst unvollkommen und in beschränkter Richtung gelingen, aber mit <348:> Gottes Hülfe auch so wirken, vor unendlichen Mißverständnissen zu schützen, und den Funken der Wahrheit in vielen wenigstens vor dem Erlöschen und Verfliegen zu sichern.
Für diesmal leben Sie wohl! Schreiben Sie mir ja recht bald wieder! Ihre Reise freut mich ungemein, macht mich aber doch eine lange Unterbrechung unseres geistigen Verkehrs besorgen. Darum wünsche ich vorher Ihnen noch recht viel zu sagen, und noch recht viel von Ihnen zu vernehmen.
Dieser Brief ist wird erst nach einer 2ten Unterbrechung geschlossen. Die Meinigen grüßen Sie herzlich. Meine Frau ist nun schon seit beinah 8 Tagen aufgestanden, und es geht mir ihr und dem Kinde sehr gut. Tausend Grüße an Ihre Gemahlin und Kinder, an Burgsdorffs, besonders an die so gütig unserer gedenkende Frau von Burgsdorff, an die Gräfin Henriette, und die anderen Glieder der Finkensteinschen Familie und an Kadachs. Schütz befindet sich sehr wohl, er macht mir Hoffnung, noch daß er noch einige Wochen hier bleiben werden.
Mit der innigsten Freundschaft
der Ihrige
Solger.
den 9ten Febr. 17.

H: PSB, folios 64-66, 10 pp

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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