BKA-Brandenburger Kleist-Ausgabe Start Übersicht Suchen Kontakt Andere interessante Websites Institut für Textkritik e. V.

[ PHÖBUS(5) ]

[ ]

 

Adam Müller, V. Apologie der französischen dramatischen Literatur, 34-41

V. Apologie der französischen dramatischen Literatur.
Aus A. Müllers Vorlesungen über dramatische Poesie.

Nachdem wir den Geschlechtsunterschied des antiken und des modernen Theaters, jenes repräsentirt durch die Griechische, dieses repräsentirt durch die Spanische Bühne, gemeinschaftlich betrachtet haben, bliebe uns, um das Wesen des Dramas überhaupt zu umfassen, nur noch die Characteristik gewisser Mittelzustände übrig. Durch welchen großen Mittelzustand hindurch mußten Drama und Welt schreiten, damit die eigenthümliche Gestalt des Äschylus und Aristophanes verschwinden, und eine ganz entgegengesetzte eigenthümliche, die der Spanier und vornehmlich des Calderon, auftreten konnte?
Wenn die Natur auf einzelnen schönen Stellen der Erde ein Zeitalter eigenthümlich harmonischen Lebens hat aufblühn und reifen lassen, wenn der Character der Menschheit sich hier und dort lokal und national entwickelt hat, so zieht sie, ich meine die Natur, die das allgemeine will, alle jene eigenthümlichen Bildungen wieder in einen großen gemeinschaftliche Zustand zusammen; alle die unendlichen, jeder Natur besonders und eigenthümlich zugetheilten Farben, die den Frühling und Sommer verherrlichen, läßt der Herbst wieder zusammensterben in ein gemeinschaftliches Braun; es ist ein gemeinschaftlicher Untergang, ein gemeinschaftliches Grab, dahinein alles, was sich auf den Tummelplätzen des antiken Lebens in Syrien und Kleinasien, in Griechenland, Italien und Sicilien, in Carthago und Ägypten, eigenthümliches erzeugte und bewegte, mit einander versinken muß. – Dieses Mausoleum, dieses gemeinschaftliche Grab der alten Welt, war Rom, war die Universalherrschaft der Römer. Was das Alterthum mit letzter höchster Gewalt zusammen- <35:> bauete, nemlich Rom, war ein Pantheon, wie ich es neulich nannte, und ein Grabmahl zugleich, wie ich es heute nenne.
Ein zweites großes Jahr der Menschheit brach an, ein neuer Frühling mit Roland und Carl dem Großen, ein neuer Sommer mit Dante und Bokkaz, mit den Troubadours und den Minnesingern, mit Cervantes, Calderon und Shakespear, ein neuer Herbst mit dem Jahrhundert Ludwig XIV. und das Mausoleum in Gestalt eines Pantheons der Kunst und des Lebens, das sich die neue Welt erbauete, brauch ich nicht zu nennen. – Man würde mich sehr mißverstehn, wenn man diesen Worten Absichten, auch selbst des erhabensten Partheigeistes, unterlegte. Es ist so, wie ich gesagt! und von dem Stande aus, auf den wir uns heute gestellt, wo Tod und Untergang betrachtet und die allgegenwärtige, ewiglebende Natur oder Kunst, die sich bisher uns in ihren Blüthen zeigte, nun in der Asche geschaut werden soll, von diesem Stande aus schweigen alle Klagen über die einzelnen Unbequemlichkeiten der Gegenwart von selbst, von hier aus werden die Zerstörungs- wie die Erbauungswerkzeuge der Natur mit gleicher Ruhe und Andacht erwogen.
Bevor wir in die Betrachtung des Römischen und Französischen Theaters eingehn, die beide in und neben einander dargestellt werden müssen, lassen Sie uns eine Bemerkung vorausschicken, deren Richtigkeit gefühlt werden wird. Wenn in unsern Tagen Menschen von bloser Welt- und Geschäftsbildung, deren Werth keinesweges hier herabgesetzt werden soll, vom Alterthume reden, oder an dasselbe denken, so haben sie meistentheils Rom oder etwas Römisches im Auge; eben so, wenn von neuer, moderner Welt die Rede ist, so verstehn sie im Zweifelsfalle darunter immer Paris, oder etwas Französisches. Wenn z. B. von der Poesie des Alterthums gesprochen wird, so denken sie viel eher an Horaz und Virgil, als an Äschylus und Homer; redet man ihnen dagegen von Dichtern neuerer Zeit, so tritt ihnen Racine und Voltaire viel früher, als Dante und Cervantes vor die Seele. Dies hat seinen tiefen und wichtigen Grund, der schlechterdings aufgesucht werden muß; denn  in einer wahren Reichsversammlung der Künstler und Kunstrichter müssen die Stimmen, die sich für die einzige Schönheit des Racine erklären, eben sowohl gehört werden, als diejenigen, welche nicht müde werden, die einzige Schönheit des Calderon zu preisen.
Als vor einiger Zeit in Deutschland das Studium der Griechen und der romantischen Dichter einen neuen  herrlichen Schwung nahm, meinte man den göttlichen Künstlern der Griechischen und Romantischen Zeit nicht besser dienen zu können, als indem man auf ihrem Altar alles, was die Römer und die Franzosen gedichtet, in Flammen aufgehen ließe, und so wurde die große Majorität der Gebildeten in Europa, nehmlich alle, die eine Französische Bildung genossen, einerseits, und die meistentheils in der Schule des Römischen Rechts erzogenen Geschäftsmänner andrerseits, von dem Genuß der wieder aufgefundenen Schätze abgeschreckt. Mein Streben und <36:> der Zweck, den ich mir (bei meiner gegenwärtigen Arbeit vornehmlich) vorgesetzt, ist etwas anders: in meinen Augen ist, wer sich, wenn der Poesie der neuen Welt gedacht wird, blos Cervante’s, Dante’s, Calderon’s u. s. w. erinnert, eben so einseitig als der, welcher nur von Racine und Voltaire hören will. – Im gemeinen Leben kommen dieselben beiden Einseitigkeiten unter einer ganz andern Gestalt wieder vor. Ein Theil der Welt will nur umgehen mit Menschen, die durch Rang, Geburt, Stand in der bürgerlichen Gesellschaft etwas bedeuten; ein andrer Theil will nur mit dem Menschen als solchen zu thun haben; er frägt nur, was bist du in der Welt und als Mensch, nicht aber was bedeutest du? – Die ersteren respectiren am Menschen blos den abgeleiteten, den repräsentativen Character, die andern blos den persönlichen. Beide haben Unrecht! – Göthe hat es treffend dargestellt, wie Racine besonders vornehmen Personen gefallen müsse; auf dem von ihm so herrlich angedeuteten Wege gehe ich fort und erkläre: die Poesien der Römer und der Franzosen haben einen repräsentativen, abgeleiteten Werth; die Poesien der Griechischen und der Romantischen Zeit haben einen persönlichen Werth. Mir gnügt keines von beiden allein für sich, mir werden die persönlichen Dichter erst recht deutlich durch die repräsentativen und so umgekehrt; niemand kann sagen, daß er die Griechen und die Romantischen Dichter begreife, der die Römer und Franzosen verächtlich bei Seite setzt und so umgekehrt; es ist nur Ein Sinn, ein ewiger Sinn der Kunst, und dieser muß ruhig und belebend durch die Kunstformen aller Zeiten hindurchzuschreiten vermögen.
Der Hauptfehler in der Beurtheilung der Römischen und Französischen Autoren, welchen die jungen enthusiastischen Bewunderer der Griechischen und Romantischen Poesie begingen, war der, daß sie Griechen und Römer, Romantiker und die Franzosen mit einem und demselben Maasstab zu messen unternahmen; daß sie für die blühende männliche Jugend, die sich in den Griechen und Romantikern darstellt, und für das überreife sinkende Alter, welches die Römer und Franzosen abbilden, nur den einzigen Maasstab der Kraft und der Lebensfülle statuirten, wo denn das Alter sehr im Nachtheil gegen die Jugend, die Römer gegen die Griechen, die Franzosen sehr im Nachtheil gegen die Romantiker erscheinen mußten, und wo denn nothwendig in der Römischen und Französischen Poesie nichts wahrzunehmen blieb, als Erinnerungen, Reminiscenzen, Nachahmungen, Nachkänge der vorangegangenen jugendlichen Zeiten. – Die zu enthusiastischen Freunde der Franzosen und Römer begingen auf ihrer Seite den nehmlichen Fehler, indem sie wieder die gesellschaftliche Geschliffenheit, die starre Regelmäßigkeit, die Correctheit, die poetische Tournure, die Convenienz und den guten Ton als alleinigen Maasstab der Kunst gelten lassen wollten, und so die gewaltige, freie, üppige Natur (minder der Griechen, als besonders) der Romantischen Dichter, es keinesweges mit den umsichtigen, eleganten, tactvollen Römern und Franzosen aufnehmen konnte. – Ich bin überzeugt, daß zum Heil der Kunst überhaupt, im ganzen Gebiete der Literatur und des gesellschaftlichen Lebens, wenige Gegenstände eine gründ- <37:> liche Untersuchung so sehr verdienen, als dieser sonderbare Zwiespalt in den Kunsturtheilen zuerst der wahren Gelehrten unsrer Zeit, und sodann der wirklich vornehmen Leute, worunter ich diejenigen verstehe, die nicht mit Affectation, auch nicht um dem Rechte des Stärkern zu huldigen, sondern aus fast angebornem und durch die ganze Erziehung recht ausgebildetem Instinkt eine Vorliebe für den Geist der Französischen Literatur hegen.
Die ausschließenden Freunde der Griechischen und Romantischen Poesie wollen die Werke der Kunst vornehmlich sehn; die Anschauung, gleichviel die innere, oder die äußere ist bei ihnen das Entscheidende, der Richter; die ausschließenden Freunde der Römer und Franzosen ihrerseits wollen die Werke der Kunst vielmehr schmecken; daher nicht blos dem Worte, sondern wirklich der Sache nach geht alles Urtheil bei ihnen vom Geschmack aus. –  Hiernach sollte man wirklich den Freunden der Griechen und Romantiker eine Art von Vorzug einräumen, denn blos der größern Allgemeinheit des Gesichtssinns nach, sollte man glauben, daß sie ein viel größeres Gebiet umfassen müßten als ihre Gegner, da es ihnen viel leichter sein müßte, den Werth und die Eigenthümlichkeit eines Virgil, Racine oder Voltaire sich abzusehn, als es ihren Gegnern sein möchte, den Werth und die Vortreflichkeit des Homer, des Ariost und des Dante herauszuschmecken. –Nichts destoweniger giebt es Kunstfreunde in unsern Tagen, die mit hoher Gerechtigkeitsliebe, wie sehr auch Geburt und Erziehung das bloße Geschmacksurtheil in der Kunst in ihnen befestigt haben mögen, dennoch, auch geleitet von diesem dunkleren Sinn, die Herrlichkeit des Göttlichen, was die griechische und romantisch-germanische Zeit hervorgebracht, zu kosten wissen. Möge es mir eben so gelingen zu zeigen, daß es auch Gelehrte gebe, deren Auge in die Eigenthümlichkeit der Römischen und Französischen Dichter dringt: dann, wenn jeder auf seinem eigenthümlichen Wege, wir mit dem Gesicht, jene mit dem Geschmack, ein allgemeines erkannt; wenn wir beide den in uns durch Natur und Umstände besonders begünstigten Sinn zum allgemeinen Sinn erhoben haben, dann können wir einander die Hand reichen und uns über dasjenige, was geschehen müsse, damit in Zukunft die Kunst, vornehmlich die Deutsche gedeihe, gemeinschaftlich und vorurtheilsfrei berathen. –
Ihr habet vollkommen Recht, Ihr jungen enthusiastischen Freunde, Liebhaber mögte ich sagen der Griechischen und Romantischen Poesie! auf den ersten Blick verschwindet allerdings die elegante Gestaltlosigkeit des Virgil neben der Unschuld, Fülle und Deutlichkeit des Homer; verschwindet die gezirkelte, geschweifte, geschliffene Geschwätzigkeit eines Cicero neben der Majestät und der gehaltvollen Einfalt des Demosthenes oder Isokrates; verschwindet die zugespitzte, frivole Liederlichkeit des Lafontaine neben der reinen, süßen und üppigen Lüsternheit des Boccaz; verschwindet die flache, lebenslose Harmonie des Racine neben der tiefen, unergründlichen Klangfülle des Calderon. Ihr habt Recht, aber nur auf den ersten Blick. – Lebet nur weiter mit der Welt! Versucht es mit den großen Geistern der Griechischen und <38:> Romantischen Zeit, die Ihr als Lieblinge mit Recht um Euch her versammelt, in wahrem Frieden zu leben: Ihr werdet bald inne werden, daß die Französische und Römische Poesie Euch keine Ruhe läßt; daß sie nicht blos ihre vornehmen Beschützer, sondern ein sonderbarer, zuerst unbegreiflicher Geist der in ihnen wohnt, Euch zu ihnen zurücknöthigen wird; daß Ihr Eurer Lieblinge nicht gewiß sein könnt, bevor Ihr die Ansprüche jener nicht mit Euerm Herzen und Geiste befriedigt, kurz, wie Euch die Jugendzeitalter der Welt bezaubern mögen, daß dennoch das Alter auch seine eigenthümliche Schönheit hat, und daß Ihr von beiden Euch erfüllen, Euern Sinn beleben lassen müßt, wenn Ihr ein wahrhaft männliches Urtheil aussprechen wollt. – Ich habe noch keinen feurigen Bekenner der Romantischen Poesie gesehn, der berauscht von Cervantes, ja von Shakespear gewesen wäre, dem die Dramen des Shakespear vielleicht wie huldreiche Genien durchs Leben gefolgt wären, und der bei alle dem (wofern nicht der Rausch alle Besinnung aus ihm fortgeschwemmt, wofern nicht der Sturm jener großen Geister ihn ganz zu Boden gestreckt hat,) mehreren Repräsentationen des Französischen Theaters auf die Dauer hätte widerstehen können. – Bei der ersten Darstellung vielleicht widersteht ihm alles am Französischen Theater, er nennt es den Gipfel der Unnatur, des Manierirten, der Ziererei, des Unpoetischen – bei der letzten Darstellung hat sich das ganze gewendet, und, ich weiß, was ich sage, nun findet er etwas unwiderstehliches darin. Ich darf es nicht weiter bemerken, daß ich weit davon entfernt bin, jener kalten Engherzigkeit das Wort zu reden, mit der beschränkte Seelen jenes Französische Theater für den einzigen dramatischen Genuß halten. Ich spreche zu jenen reinen, unverdorbenen Gemüthern, die jugendlich voll und kräftig, zuerst dem jugendlich vollen und kräftigen sich hingegeben haben, aber dennoch für jeden noch so fremdartig gestalteten Genuß offen geblieben sind, und denen allein das Französische Theater wegen seiner wesentlichen Vorzüge werth sein kann: was die verstockten, in Convenienz und Modethorheiten grau gewordenen Bewunderer darin sehn, ist der Rede nicht werth; diese sind dem Französischen Theater zugethan aus Gewohnheit, aus Herzensarmuth, aus Verwöhnung, aus Verzärtelung, aus Faulheit. – Wir hingegen wollen ganz andre Dinge daran erheben, nehmlich das Maas, die Ganzheit, die Geschlossenheit, die Künstlichkeit, das Technische, die Verständlichkeit, die Allgemeingültigkeit.
Ich nannte den Character der Französischen und Römischen Poesie einen repräsentativen, den der Griechischen und Romantischen einen persönlichen. – Hier erlauben Sie mir Ihrem innersten Gefühl eine Frage vorzulegen: sind es nicht zwei ganz verschiedne Arten der Schönheit, die, welche wir empfinden in der Betrachtung einer jugendlichen Natur, die sich in voller Frische und Freiheit und Fülle bewegt, die durch jede ihrer noch so unconventionellen Bewegungen ergötzt, die, wo sie etwa die Formen und den Anstand verletzt, sogleich wieder einen schönen Eindruck, nemlich den des Naiven macht, und die andre, welche wir in der Betrachtung des weltklugen, gewandten Mannes empfinden, der mit künstlicher durch- <39:> aus berechneter Grazie, weniger bezaubert, aber desto sichrer gewinnt. Es sind die beiden Schönheiten die Göthe in seinem unsterblichen Gedichte unter den durchaus auf die Anschauer und auf die Schmecker der Poesie passenden Gestalten von Taßo und Antonio in den Streit geführt hat, worin nothwendig keiner von beiden untergehn noch zurückstehn durfte, sondern beide endlich einander gegenseitig halten, und durch ihre vom Schicksal herbeigeführte Versöhnung, den allgemeinen Sinn, den die Kunst verlangt, ausdrücken mußten. – Welcher wesentliche Unterschied ist nun wohl zwischen beiden Gattungen der Schönheit? – Jene jugendliche Schönheit, die in der Verletzung des Anstandes sogar noch einen schönen Eindruck, nemlich den des Naiven machte, wird nur von ihren näheren Freunden und Bekannten, von ihrer Familie gehörig gewürdigt; was diese naiv nennen, erscheint einem besuchenden Fremden vielleicht wie Ungezogenheit – dahingegen das Betragen jenes Mannes mit der künstlichen Grazie, wenn auch einen minder tiefen, aber dafür allgemeingültigen, von jedermann, den alten Bekannten sowohl als den fremd hinzukommenden anerkannten schönen Eindruck macht. Ich muß von neuem dagegen protestiren, als wollte ich einen von diesen beiden Schönheiten vorzugsweise den Siegerkranz reichen; sie müssen beide gekrönt werden, wie die Herme, sowohl des Virgil als des Ariost im Götheschen Taßo, sie müssen uns beide in ihrer Bekränzung wohlgefallen haben, damit jener dritte unerreichbare Kranz, den derselbe Taßo zwischen den Wolken verklärt vor sich herschweben sah, immer sichrer uns durchs Leben führen könne. –
Der Mensch soll werden wie Gold: durch Glanz, Gediegenheit, Geschmeidigkeit, durch seine Persönlichkeit, wenn ich so sagen darf, den näheren Besitzer entzücken, und dann auch wieder durch die Allgemeingültigkeit seines Werths, durch seinen anerkannten, allen Besitz der Welt repräsentirenden Character alle übrigen und die entferntesten selbst reizen. Hier haben Sie die eigenthümlichen Schönheiten der Griechisch-Romantischen und der Römisch-Französischen Poesie; nicht um eine von beiden als ausschließendes Vorbild vor sich hinzustellen, sondern damit aus den Wechselblicken, die Sie von der einen auf die andere werfen, sich eine Gestalt bilden könne, die wahres Ideal zu heißen verdient, weil in ihr sich das entgegengesetzteste harmonisch verbindet, weil in ihr alle Einseitigkeiten des Kunstgeschmacks wie der Kunstanschauung sich in höherer reinerer Gestalt wieder finden, und in ihre Ganzheit, in den Kreis ihrer ruhigen Fülle und in seine Bewegung mit fortgezogen werden.
Göthe und Schiller haben beide die Nothwendigkeit eingesehn, das Deutsche Theater, welches vielleicht allzusehr nach der Romantischen Seite hinüberschwankte und eben wegen dieser Einseitigkeit nie im Stande war, auch im Fache des Romantischen selbst, etwas vollständiges und allgenügendes zu leisten, durch eine kluge Benutzung des Französischen Theaters in ein besseres Gleichgewicht zu bringen, und so sind die Übersetzungen des Tankred, des Mahomet und der Phädra entstanden, <40:> und haben schöne Früchte getragen. Auf dieser Stelle kann auch nicht unerwähnt bleiben, Ifflands großes Verdienst, der selbst Schauspieler aus der Französischen Schule, das Wesen der Griechisch-Romantischen Bühne, wenn auch mit weniger glücklichem Erfolg, doch mit großem ungewöhnlichen Fleiße sich anzueignen bemüht ist. Hätte der seltene Wetteifer zwischen ihm und Fleck, dem grade fehlte, was Iffland besaß, und der mit Genie und Romantischer Fülle in hohem Maaße von der Natur begabt war, hätte dieser Wettstreit fortdauern können, so würde die Deutsche theatralische Kunst vielleicht von der ächten Verbindung ihrer wesentlichen Elemente, des Romantischen und des Französischen Princips nicht mehr gar weit entfernt sein. Eben so bilden noch jetzt Friederike Bethmann Unzelmann und Betty Koch, jetzige Madame Rose in Wien, unter einander einen höchst lehrreichen Gegensatz, jene durch ihr großes, den göttlichsten Poesien der Romantischen Zeit gewachsenes Genie; diese durch ihre klugen, sinnvollen Bewegungen, und durch den freien Tact, mit dem sie die höchsten Vorzüge der Französischen Bühne ohne Verletzung der Deutschen Eigenthümlichkeit geltend zu machen weiß.
So wäre nun, darf ich mir schmeicheln, das wahre Verhältniß zwischen der Schönheit, die wenigen, aber diesen wenigen dann um so mehr gefällt, und der andern Schönheit, die allgemein gefällt, aber dafür weniger entzückt, bestimmt. Die sinnvollen Mitglieder dieser verehrungswürdigen Versammlung, werden sich freilich, wenn sie durchaus einer von diesen beiden Schönheiten den Preis zuerkennen sollen, für die erste erklären, wie ich; immer aber mit dem geheimen Wunsch, daß die nicht zu verachtende Eigenschaft der zweiten, nemlich, die Allgemeingültigkeit auch auf die erste übertragen werden könnte; sie werden einen unwiderstehlichen Drang fühlen, die Schönheit, das Gedicht, den Freund, welche Sie bewundern und lieben, auch vor andern geltend zu machen. Wenn man nun betrachtet, wie nach Jahrtausenden, die das Alterthum, eben so wie nach Jahrtausenden, welche die neue Welt durchlebte, nachdem freilich alle die schönen besondern Farben der Poesie schon ausgestorben und verblichen sind, nun endlich das Allgemeingültige aus den Geisteswerken der Alten in Gestalt der Römischen Literatur und Kunst, und das Allgemeingültige aus den Geisteswerken der neuern in Gestalt der Französischen Literatur und Kunst zurückbleibt, so kann man freilich zuerst jugendlich schaudern vor der Starrheit, der Lebenslosigkeit, der Ohnmacht, ich möchte sagen, vor dem herausstehenden Knochengebäude dieser Werke, man kann schaudern vor der todten Regelmäßigkeit, vor dem kraftlosen Gleichgewichte derselben, wie man in der Jugend vor dem Gedanken des Alters schaudert; aber da der lebendige Blick nicht lange beharren kann bei dem Gedanken eines poetischen Alters und eines kraftlosen unpoetischen Alters in einem und demselben Leben, so fängt er erst damit an, sich den Gedanken des Alters, worin der Mensch mehr bedeutet als er wirklich ist, zu verschönern, dann sich mit ihm und dem Gedanken des Hinsterbens und des Untergangs allmählich zu versöhnen, endlich je mehr er sich selbst dieser Zeit mit seiner Persön- <41:> lichkeit nähert, einzusehen, daß Wachsen und Sinken, die schwellende Blume und die trocknende Frucht nichts sind, als entgegengesetzte Formen desselbigen herrlichen Lebens, und daß diese trocknende Frucht zur reichen Entschädigung für die Farben, die sie entbehrt, für die herrlichen Lebenssäfte, die eingegangen oder verflüchtigt sind, für allen Reiz unmittelbarer Schönheit, daß sie den vollen Ersatz dafür in sich trägt, in dem herrlichen Saamen, den sie umschließt, und der ein neues und schöneres Leben verkündigt. Sehen Sie auf Rom, wie tragisch oder wie sentimental sein Untergang uns dargestellt werden mag, ob Tacitus oder Gibbon ihn beschreiben: wer einsieht, wie Römischer Sinn und selbst die unbedeutendern Werke Römischer Kunst nachher Früchte trugen, wie Cicero sogar in seiner trocknen Gestalt den Saamen verbarg, der in den vom Norden und Asien her so schön befruchteten Boden fiel, und den Petrarcha erzeugte, der wird das Ehrwürdige in Römischer Kunst, wie gering auch ihr unmittelbarer Werth sein möge, zu schauen wissen. Es würde mich zu weit führen, von dieser Seite auch die Andeutungen, die in der Französischen Literatur liegen, zu würdigen; dem recht historischen Blick werden sie nicht entgehn.
Jetzt bin ich hinlänglich gerechtfertigt, vielmehr habe ich mir ein Recht erworben, zu erklären, daß ich die Römische Poesie und die Französische, in sofern sie sich neben die Griechische Poesie und die Romantische stellen, und vielleicht gar ihnen vorgezogen werden wollen, unbedingt verwerfe, daß ich den Vergleich zwischen Homer und Virgil, oder zwischen Shakespear und Racine eben so lächerlich finde, als ich es lächerlich finden würde, wenn es ein alter Mann mit einem Jünglinge, an Schönheit der Glieder, an Kraft und Lebensfülle aufnehmen wollte. Jeder von beiden soll gelten in seiner Art und seinem Wirkungskreise, kein Wetteifer ist zwischen ihnen möglich, aber schöne friedliche Wechselwirkung, etwa wie Alter und Jugend im stillen Familienleben, zu beider Erhöhung und Beglückung, und vor allen zur Bildung des Mannes, der zwischen beiden mitten inne steht. – Betrachten Sie die Werke des Plautus, des Terenz und des Seneka, betrachten Sie ferner Racine, Voltaire, Corneille und Moliere, sie werden in ihrem Bau, in den Materialien, in den Charactern durchaus nichts finden, was nicht entlehnt sei; nur einzig eigenthümlich ist der Sinn, in dem alle diese Dinge zusammen gestellt sind, der durch alle Werke hindurch sichtbare, unzerstörbare Glaube an eine Regel der Kunst, der Glaube an Allgemeingültigkeit, der wie aller tüchtige Glaube auch in gewissem Sinne und Maaße das hervorbringt, woran er glaubt. –

Emendation:
zusammensterben] susammensterben D

 

[ PHÖBUS(5) ]

[ ]

Copyright © 2000 by Institut für Textkritik e. V., Heidelberg
Letzte Aktualisierung 28-Mär-2003
[ Webdesign: RR 2000 ]