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Wilhelm Nienstädt, II. Von der didaktischen Poesie, 12-23; darin: 12-18

II. Von der didaktischen Poesie.
I. Begriff und Wesen der didaktischen Poesie.

Jede ächte Huldigung, die der Mensch entweder der Wissenschaft oder der Kunst darbringt, geschieht nur durch Entäußerung seiner selbst, durch Hingebung alles dessen, was an ihm Endliches ist, an das Unendliche, aus freier Lust und vorherrschender Neigung. Ein großes Ganze, eine unendliche Welt lockt sie beide an, den Denker sowohl als den Dichter, und nur darin mag das Eigenthümliche eines Jeden beruhn, daß der erstre mehr in die Tiefe seines Elements sich gräbt, den Mittelpunkt erstrebt, von welchem aus er sich wieder nach allen Seiten hin gesetzmäßig ausbreite, gleichmäßig alle Regungen des großen Pulses in sich aufnehme – dieser hingegen mehr die lichte Höhe sucht, daß der Einklang des Ganzen in möglichster Fülle zu ihm hinauf töne, und er ihn wiederum in gleichmäßigen Accorden aus sich heraus vernehmen lasse. Der Denker lebt in dem All und mit demselben, der Dichter baut über ihm und aus ihm seine Wohnung auf. Natürlich, daß jener mehr der Nothwendigkeit, der Strenge des Gesetzes angehört, dieser mehr der Freiheit der heitern <13:> Willkühr. Gleichwie auch die Jugend ausschließlich von der Gegenwart ergriffen wird, und wiederum sie lebendig ergreift und festhält, ungebunden und jedesmal mit eigenthümlicher Gewalt sie zu formen sucht; das Alter aber, nachdem die Kraft erloschen, ein geistiges Reich von Reflexion und Lehre, die ihm ein ernstrer Blick und ein weitrer Umfang von Zeit gewährten, um sich erschafft: so kann es auch dem Dichter, bei aller Selbstentäußerung, weniger um Hingebung seiner Eigenthümlichkeit zu thun sein. Er soll sie vielmehr bewahren, denn nur dadurch erhält er sich schaffend und bildend über dem Ganzen, damit nicht seine Töne, unmittelbar in dessen Harmonie aufgenommen und aufgelöst, verklingen, schnell vorübergehn, daß sie vielmehr auch als die seinen, dauern und bleiben.
Wie aber Jugend und Alter ein einiges Leben sind und auf einem Boden sprießen, so soll auch für das, was beiden verglichen worden, eben so wenig zu feindseliger Trennung das Wort gegeben sein: denn gerade die Trennung ist es, die auch dem besten Wollen in unsern Tagen, für die Wissenschaft wie für die Kunst, die meiste Gefahr bereitet. Beide vielmehr leben in und durch einander. Nur auf eine Richtung, eine Hinneigung der einzelnen; auf das, wodurch allein, wenn irgend eine Individualisirung möglich ist, sollte gewiesen werden. Es ist nun nicht schwer abzusehn, daß, jener Beziehung gemäß, auf der einen Seite die Philosophie, der lyrischen Form auf der andern, vollkommen gegenüber stehe, in ihnen Wissenschaft und Poesie, als in ihren entferntesten Enden, sich darstellen. Aus der einen spiegelt sich, in ruhiger Klarheit und Durchsichtigkeit, das Leben des All; aus der andern, in bunten und unruhig wechselnden Farben, die Eigenthümlichkeit des Endlichen. Für diese Enden der mächtigen Kette soll das Mittelglied gefunden werden, sie sollen sich in einer besondern Form versöhnen und somit der unendliche Kreislauf sich ründen und wölben.
Wie es nun zwar dem Aufmerksamen nicht entgangen sein wird, daß wir in Erwähnung jener nothwendigen Ausgleichung beider Sphären bereits den Hauptgegenstand der Untersuchung berührt, ja fast genügend bestimmt haben, so mögte dies doch den Meisten zu rasch und voreilig dünken. Wir wollen daher die Strahlen von neuem vertheilen und vervielfachen, um nachher desto genauer ihren gemeinschaftlichen Vereinigungspunkt zu bestimmen, indem wir zuförderst den anscheinenden Gegensatz zwischen Philosophie und Kunst überhaupt, dann ihre gegenseitige Bedingung entwickeln und darauf insbesondere von der Urwissenschaft, im Verhältnß zur lyrischen Poesie, reden, woraus sich zur Gnüge Begriff und Wesen der didaktischen Poesie ergeben wird. Denn bei einer, wie uns dünkt, noch wenig erforschten und abgemessenen Form findet die Entwickelung nur auf dem Wege neuer Gestaltung, nicht, wie bei dem schon als vollendet gegebenen, durch Darlegung der aufgelösten Bestandtheile, Statt.
Die gesammte Unterscheidung zwischen Philosophie und Kunst besteht allein mit der Trennung der innern Anschauung von der äußern, des Unsinnlichen vom Sinnli- <14:> chen. Die Philosophie demnach, welche durch die erstre der beiden Sphären begründet wird, sondert jedes Verhältniß des Gegebnen zu dem Empfangenden, jede Empfindung, als ein Wandelbares, von ihrem Streben ab: deshalb gewinnt ihr Alles Ausdehnung, der die Beschränkung entgegensteht, und nur dann hat ihr Leben Einklang und Fülle erreicht, wenn sie sich, gleich dem Lichte, nach allen Enden des unermeßlichen Umkreises gleichmäßig ausgedehnt hat; das besondre Leben muß in ihrem Glanze ersterben. Die Kunst dagegen, welche nur von äußrer Anschauung, mithin von einem Besondern, gepflegt wird, ergreift nur Alles in Bezug auf dieses Besondre; was sie auch gestalten möge, immer ist es gestaltete Empfindung, und wie mannichfaltig diese Darstellung auch sei, immer ist sie vom Endlichen entnommen, immer ein Individuelles, Äußeres. Da nun Philosophie das Besondre nie als solches, sondern nur im Zusammensein mit dem Allgemeinen, gelten läßt, so wird ihr Streben auf Totalität gerichtet sein, wie das der Kunst auf Individualität. Jene ist, was uns im Leben die Vergangenheit, da aufs höchste nur dieses oder jenes einzelne Ereigniß uns von neuem lebhaft berührt, alle aber wir, ruhig genug, der Leitung Eines Grundgesetzes unterzuordnen suchen; diese ist die wirksame, lebendige Gegenwart. Eben aber, weil die Philosophie nur ein allgemeines, durchgängiges Grundgesetz aufsucht, der Blick auf das Einzelne aber als nur eines Theils vom Ganzen, nur jene Ordnung stören, den Zusammenhang unterbrechen würde: wird sie sorgfältig jede Berührung der Realität vermeiden, diese soll sich vielmehr unbewußt in ihrem Gesetz abspiegeln und Andern liegt es ob, darauf hinzuweisen; ihr reicht es hin, die Möglichkeit dargethan zu haben, die ihr eins gilt mit der Nothwendigkeit. Die Kunst im Gegentheil behandelt nur die Realität und wenn sie, wie sich nachher darthun wird, überall vermeiden muß, mit derselben zusammenzufließen, so soll sie desto sorgfältiger sich bemühen, den Schein des Wirklichen zu bewahren: so wäre demnach hier Täuschung, dort Wahrheit, hier ein Vergängliches, dort ein Unvergängliches. Aber auch ein Innerstes, eine Entfernung jedes Einwirkens, jeder Stimmung, die nur der Zufall erweckte, ein Streben nach Geschlossenheit und Vollendung, als dem Elemente ihres Lebens, daher bleibende Ruhe, Dauer für alle Zeit, wie hier ein Äußeres, ein durch Umstände, nicht zwar hervorgebrachtes, jedoch angeregtes, mithin Wandelbarkeit und Wechsel. Wiederum wird endlich die Philosophie, so sehr sie sich auch hüten mag, die Anschauung aufzunehmen, dennoch von derselben entfernt geleitet und beherrscht und ihren Bewegungen gerade durch sie eine Nothwendigkeit auferlegt, welcher die Kunst auf einem ganz verschiedenen Wege ausweicht, indem sie nämlich mit Freiheit eine neue Anschauung, wiewohl nach dem verborgnen Gesetz der ursprünglichen, hervorbringt.
Unvermerkt jedoch sind wir hiermit demjenigen näher getreten, worin sich beide zu begegnen und gegenseitig zu bedingen anfangen, und welches die Kunst, durch das Gesagte vielleicht ein wenig herabgezogen, wieder zu der gebührenden Höhe emporrückt. Denn nicht nur daß die Natur dieser sowohl als jener Einziges und Höch- <15:> stes ist, welches sie immer neu erweckt, daß sie sich ihm in stiller Andacht näheren, weshalb sie auch beide entfernt sind, sie nach Willkühr zu handhaben, trachten sie vielmehr darnach, sie abermals aus sich zu erschaffen und Freiheit in das Werk der Nothwendigkeit zu bringen. Trennt sich nun der Philosoph vom Künstler auf der Bahn zu diesem Ziele, sucht der erstre ein ewiges Urbild, in welchem Endliches wie Unendliches als eins zusammenfallen, dieser ein neues Gegenbild, (mit nichten also eine genaue Abbildung des Bestehenden,) in welchem sich Bedingtes und Unbedingtes auf menschliche Weise – und nicht entwürdigen kann, was wir menschlich nennen – aussöhnen; so dient ihnen doch insgesammt Eine Grundform, Eine ihr Innres stimmende und beherrschende Regel der Harmonie, zur Führerin. Es ließe sich vielleicht nur das von einem Jeden insbesondere sagen, daß der Künstler vollendet, was der Philosoph begann, das gleichsam erfüllt, was dieser verheißen, indem er, nachdem ihm die Gestaltung der Nothwendigkeit zur Freiheit gegeben, nach solchem Gesetz eine Welt hervorbringt, in der auf sein Geheiß sich Nothwendigkeit und Freiheit durchdringen. Dem Wollen des erstern gesellt er seine Kraft, weshalb auch die Philosophie, nicht ohne Grund, die Lehrerin der Künste genannt wird.
So aber heben und tragen sich nicht allein Philosophie und Kunst; sie trachten sogar unaufhörlich nach innigem Verein, und suchen nicht so sehr friedlich mit einander sondern in einander zu leben. Welchergestalt sich nun diese Anneigung bereits in frühern Zeiten oftmals kund gethan und bewährt habe, mag im folgenden Abschnitte schicklicher erzählt werden, hier ist es genug zu zeigen, auf welche Art dieselbe möglich sey. Da scheint es denn, daß erstlich auf dem Wege der Kunst überhaupt, oder, welches dasselbe sagen will, zu Gunsten des Individuellen der Gegensatz am ersten vermittelt werden könne. Denn wie die Philosophie es nur mit dem Unendlichen zu schaffen hat, welches sie mit Freiheit gestaltet, nachdem sie es als nothwendig erkannt, alles Endliche dagegen in dessen Tiefe vergräbt; so behandelt die Kunst mit dem Endlichen zumal das Unendliche, sucht dieß mit jenem zu verweben; weshalb auch ihre Sprache volltöniger, unerschöpflicher, den Meisten sogar noch naturverwandter ist. Ja, in welche Tiefe auch der Geist des Forschers sich versenke, gleich als ob er herausträte aus dem eignen Innern; immer ruht dennoch in seiner besondern Natur Anfang, Mittelpunkt und Ausgang, welchen er nie verläßt, vielweniger dahin zurückkehrt, so daß er nimmer umhin kann, sich selbst als Inbegriff und vollendetes Ebenbild des Erforschten zu erkennen, in dem die Fülle des Unendlichen wohnet, und er angehalten wird, sein eignes Wesen an die Spitze des Ganzen zu stellen, welches die Gesammtheit treuer denn irgend etwas anders wiederstrahle: er dünkt sich selbst nur die Harmonie, die die Dinge, nur in unsterblicher Gestalt, um dasselbe bilden, zu verkünden. Auch haben wir viele der Vorzeit, die sich allerdings unter die Weisen rechnen durften, mit nicht geringer Unbestimmtheit den Dichtern beigezählt, und nicht wenigen unter uns, die das Zeitalter für große Denker gelten ließ, haben wir angefangen ihren Ruhm zu schmälern, ohne zu bedenken, daß das Opfer, wel- <16> ches sie der Kunst mit ihren Bestrebungen dargebracht, ein unvertilgbares ist und jede Antastung vergeblich sein läßt. Beide haben nemlich durch ihre, wie wir es nennen mögen, Philosopheme oder Systeme, nichts weniger bezweckt, denn die Welt von innen heraus mit Bewußtsein der Freiheit wiederum zu erzeugen; haben sie aber etwas, dem Urbilde nicht gleiches, ein Ideelles ohne Reelles, dargebracht; womit anders wollen wir sie zurückweisen, als durch die so kühne als gefährliche Versicherung, entweder Mitte und Tiefe des All richtiger getroffen, genauer ergründet, oder, ein vollendeteres Bild des Unermeßlichen in unserm Innern empfangen zu haben, inniger vom Leben des All begrüßt zu sein. Sobald uns aber dieses noch zweifelhaft schiene, wem wollen wir uns selbst dann beigesellen, den Philosophen oder den Künstlern? den letztern doch gewiß.
Um uns indeß immer mehr dem Ziele dieser Untersuchung zu nähern, sagen wir demnächst, daß Poesie diejenige Kunst sei, die von dem Lichte der Philosophie vor allen am vollkommensten erfüllt und genährt werde. Denn genießen die Künste insgesammt dieses Anrechtes, sowohl die, welche durch vielfache und entferntere Media das Innre des Empfangenden berühren, als diejenige, welche unmittelbar und ausschließend das Gemüth ergreift: wie viel mehr diejenige, welche von dem Wesen aller in sich trägt und die verschiedenen Richtungen der einzelnen in einem Punkte verknüpft. Ein andrer Grund liegt aber auch in dem Unendlichen der Poesie. Denn sie stellt überall das Innre des Menschen dar und ist sie auch in diesem nicht so zart, flüchtig und reingeistig als die Musik, so erscheint sie dennoch ungleich umfassender, indem sie nie das Äußre, das dem Plastischen verwandte, verschmäht; dennoch hat sie dieses, bevor sie es neu gestaltet, erst jedesmal in den Strom des unermeßlichen Innern getaucht, dessen Wogen nie bestehen, stets wechselnd und verändert emporwallen. Nur wo die Form mächtig vorherrscht, giebt es Endlichkeit und Begränzung. Gleichwie die Historie das Unendliche im Menschen in der möglichsten Vollendung darzustellen strebt, und daher nicht nur das Menschliche, sondern auch Außer- und Übermenschliche in jenes auflöst und nach ihm gestaltet, so daß es ihr sogar gelingt, ihr eignes Wesen, sich selbst wiederum darzustellen, ist auch die Dichtkunst geeignet, was nur immer ihr sich darbietet, in die unbegreifliche Menge ihrer Farben zu tauchen, nur mit dem Unterschiede, daß jene bloß ein Gegebenes, Gewordenes kennt, diese aber immer erst zur Stunde hervorgeht, immer jung sich darstellt, und nie eine Gränze ihres Daseins blicken läßt, daher sie auch denen, die es sehen können, sogar der Geschichte Erzeugerin, und nicht bloß Vergangenheit, sondern diese nebst der Gegenwart und Zukunft zugleich ist. Was der Philosophie als möglich abzuleiten genügen mußte, das ist sie, indem sie sich darstellt und zwar auf höchst wunderbare, unerklärliche Weise. Sie trat daher auch immer mit der Spekulation im Bündnisse auf, selbst als sie schon die Zeiten geschieden hatten, und offenbarte immer, wiewohl oft ohne es zu wollen, die Gestaltungen dieser. Ja, dasjenige, durch welches sie sich äußerlich offenbart, die Sprache, zeugt noch in den Tagen der schneidendsten, gewalt- <17:> samsten Trennung von ihr, wie sie immer einmal mit der Philosophie im Bunde gewesen: denn auch noch haben die Sprachen die herrlichsten Denkmale ihrer Kindheit nicht frech genug von sich gethan, und erinnern uns, durch die Metapher besonders, an ihrer aller Mutter, die Anschauung, in der Zeit, da Bild und Begriff, Phantasie und Reflexion, eins waren, zugleich aber auch an die Einheit des Unendlichen mit dem Endlichen. Wo auch jene Scheidung sich noch so versprödet hat, immer stehen doch Begriff und Bild in vertraulicher Mischung unter einander, bewahren bald hartnäckig ihre erlangte Würde, bald gehn sie, unvermerkt und gegen unsern Willen biegsam, in die Natur des andern über.
Es ist nun noch übrig von dem Individuellen der Poesie zu reden, und wie gerade darin, bei aller anscheinenden Entfernung, eine höchst merkwürdige und nothwendige Annäherung zwischen ihr und der Philosophie statt finde. Nur ist zu befürchten, daß das Folgende, wenn auch nicht einer Misdeutung unterworfen, für geringer und unwichtiger gehalten werden möge, als wir es, bei dem größten Bestreben nach Klarheit und Deutlichkeit, zu machen wünschen. Es ist bereits oben manches da gewesen von dem, vermöge der nothwendigen Beschaffenheit alles Irdischen, selbst in der Urwissenschaft unvermeidbaren Individuellen und der Begränzung anheim fallenden; weshalb auch das, was wir Philosophie zu nennen nicht umhin können, besonders aus früherer Vergangenheit, gar sehr verschieden ist von dem Begriff, den wir jetzt damit verbinden. Die gepriesensten unter uns sind nemlich, im Bewußtsein der Freiheit, überaus tief gedrungen, und haben das ewige, das, was jenseit der Zeit zum Grunde liegt, deutlicher ausgesprochen, als die übrigen, und darum auch kunstreicher und schärfer das Äußere von ihren Forschungen abgesondert. Weil aber ein durchaus Ideelles dem Geiste nie alleinig genügt und ihm leer erscheint, ferner, angezogen von dem hohen Urbilde der Natur, haben die Wissenschaften des Reellen, ehedem mit der Wissenschaft des Unendlichen im verwickelten Bunde, nun aber nach der Oberfläche hinaufgedrängt, ein neues Leben und eigenthümliches Streben gewonnen, welches darin besteht, sich gleichsam wie von oben herab in die ruhige Klarheit des gefundenen Ewigen zu versenken, und mit ihm eins zu werden. Sogar die Gesammtheit ihrer irdischen Gestalten zieht die Philosophie dahinab, und bespiegelt sich daher selbst in dem Unendlichen: ein Beweis von dem großen Bewußtsein ihrer Freiheit. Und nicht eher läßt sie ab von ihrem eifrigsten Bestreben, nicht eher hört sie auf, das Nothwendige der Erscheinung unter die Freiheit zu ordnen, bis sie zu einem Punkte gelangt ist, der ihr Streben nicht blos am lebhaftesten beschäftigt, sondern auch beständig inne hält: dieser Punkt aber ist die Gegenwart. Obgleich sie nun unaufhörlich strebt, dieselbe zu verklären, das Einzelne, wie es ist, mit Freiheit wiederum zu erzeugen, immer bleibt es flüchtiger, unbegreiflicher Natur. Wie sie demnach immer, bei aller Neigung zur Totalität, weil sie einmal vom Menschen kömmt, eine Sehnsucht behält nach dem Individuellen; muß sie doch, was das Gegenwärtige betrifft, dieß Geschäft abgeben an die Poesie, denn dieser gelingt <18:> es, mehr als jeder andern Kunst, weil sie das Innre darstellt, und vor allem, weil ihr die Sprache als Werkzeug dient, jenes untrennbare Gewand des eigenthümlichen Innern, zugleich auch das Bild der Zeit und des Geschlechts, Gegenwart und Individuum zu verklären, zu erschöpfen, und in der reichsten Fülle gestaltend auszusprechen; in der Gegenwart nun entsteht dieselbe und wird sie genossen, ohne Unterschied ihres Alters, und als die Vergangenheit noch dunkel und unbekannt dem Geiste vorlag, herrschte sie auch allein; nur den spätern Geschlechtern erscheint eben das als Philosophie, was damals lautre Poesie war. Auch uns indeß giebt es ein Gebiet, wo diese zwei ein einiges, oder eins so gut wie das andre werden, und dieses ist die Zukunft. Denn nachdem die Philosophie ihr Geschäft abgegeben, und ihre Kraft auf eine Zeitlang als unzulänglich erkannt, beginnt sie dasselbe von neuem, eben an den jenseitigen Gränzen des Gegenwärtigen. Was sie für alle Zeit als nothwendig erfunden, das sucht sie auch nach den Gesetzen des Ewigen, mit kühner Begeisterung und nichts minder denn gebrochnem Stolze, für die künftige Zeit, schon im voraus in das Leben zu rufen. Wenn sie indeß, statt vorher ein Unendliches zu finden, dem sie das Endliche verband, nunmehr ein noch nicht erschienenes Endliches hervorbringt, das dem Unendlichen gleich ist, ein Ideal-Reelles, – ist sie nicht zumal auch die vortrefflichste Dichterin und Seherin in vollendeter Bedeutung?

 

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