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Adam Müller, VI. Die Schule Johann von Müllers, 39-44

VI. Die Schule Johann von Müllers.

Es sind jetzt einige zwanzig Jahre, seitdem mit ungewöhnlich männlicher Kraft, mit seltener Gelehrsamkeit und allen Erfordernissen eines großen Beginnens ausgerüstet, Johann von Müller in seiner eignen Manier die Historie seines Vaterlandes schreibt und noch überdies bei jeder großen Gelegenheit der Welt irgend ein bedeutendes Wort oder Muster vor Augen hält. Wer von den später gebornen Deutschen kann <40:> seiner eignen Jugend, ohne des Einflußes gedenken, den dieser Meister auf ihn gehabt? – Die glückliche Indiskretion, welcher die Bekanntmachung seines Briefwechsels zu verdanken ist, hat allein so viel Herzen für Wissenschaft und Alterthum entzündet, als die meisten Lehrstühle der Historie in Deutschland zusammen genommen. Wie schwer wird es Herr zu werden über die eigne Dankbarkeit, und ihr Schweigen aufzulegen, wenn es darauf ankommt ein freies Wort über ihn zu sagen! – Freilich wer so wie er, theils von der Natur dazu berufen ist, theils noch, mit Lessing, sich Knall und Fall entschlossen hat, in der Wissenschaft „ihm selbst zu leben“ – was soll über den die Kritik: zumal ähnliche Eigenheit in Deutschland selten ist, an der seine Geistesform erprüft werden möchte, ob Bestand und Ewigkeit in ihr sei.
Aber zuförderst giebt es jetzt Nachkommen seines Geistes, deren Verhältniß zum Ahnherrn nicht gleichgültig ist, weil es viel darauf ankommt, den erhabnen Anstoß welchen er gegeben, frei von allen Unwesentlichkeiten, fortgesetzt zu sehn; und dann, da der größte Gewinn des Lebens darin besteht, kluge und innige Zeugen seines Wirkens und Strebens unter den Zeitgenossen gefunden zu haben, wer kann sich die Freude versagen, grade seinem Meister solch Zeugniß abzulegen? Wer endlich, da der leichteste Zweifel an das recht Bewunderte in der Seele zum Zorne, und das Mißverstehn des recht Geachteten zu Bitterkeit und zum Unmuth wird, wer kann sich versagen ihm das Gepräge zu zeigen, das er in uns hinterlassen, ferner die Stellen, wo man ihn minder begreift, und das fremdartige Beiwesen, wovon der vortrefflichste selbst nicht verschont bleibt, und welches das Urtheil der flacheren Menge doch so leicht besticht oder verderbt. – Es ist den Zeitgenossen nicht gleichgültig, ob sie es in Worten ausdrücken können, wer der Johannes Müller sei, den sie seit zwanzig Jahren mit Ehrfurcht und Scheu nennen, wo seines Lebens Kern und bleibende Gestalt gefunden werde, an welchen Zeichen die Jugend ihn finden und die Nachwelt ihn erkennen werde.
In einer so thatenreichen Laufbahn, als die Seinige, ist Raum genug für zwei Leben; theilen wir demnach dieselbige, wie die Geschichte eines Volks, in zwei Perioden; deren eine bis auf die Erscheinung des vierten Theils seiner Schweizergeschichten im Jahre 1805 klar vor uns da liegt, zumal da das Geheimniß einer schönen Jugend durch freundschaftliche Voreiligkeit verrathen worden, die andre hingegen, wie es das Ansehn hat, glänzendere und wirksamere noch erst erfüllt werden soll, und in Zukunft einen eben so gewissenhaften und begeisterten Zeugen finden möge. Wir halten uns bescheiden an die eine, an die erste!
Auch ich habe mich hinreichend in der Kälte geübt, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit gesitteten Leuten zur Pflicht machen, und die auch der Natur der Umstände angemessen ist, wie ein Fieberschauer, wenn eine jähe und heftige Erhitzung vorangegangen – dennoch kann ich die unanständige Begeistrung vorstehender Zeilen nicht unterdrücken. Wer, wie ich eben jetzt, einmal wieder zu <41:> den Reisen der Päpste zurückkehrt, wird sie verstehen und schonen. In dieser vortrefflichen Schrift zeigt sich am reinsten und offensten die ausserordentliche Natur des Autors. Ist irgend einer von den Feldherrn unsrer Literatur, Winkelmann, ja Lessing nicht ausgenommen, unter dem Zauber des wieder erwachenden giechischen und römischen Alterthums so gerecht geblieben, als Müller? Damals, als Friedrich und Joseph die Tonangeber von Europa waren, als Deutschland im ersten Rausch einer geistigen Revolution allen Autoritäten des Herzens abzuschwören, und allem Beistande der Jahrhunderte zu entsagen, und auf das kümmerliche Licht des Augenblicks sich zu beschränken schien – ward er – der in den Sinn jeder Parthei, also auch der Aufklärung einging, wie wenige – der Wortredner derjenigen, über welche die Zeitgenossen alle Schmach ausschütteten; – Vertheidiger der Päpste. –
Wenigen Menschen ward die Klarheit und Unbefangenheit des Blicks bei Würdigung der Partheien, und die Characterschönheit im Beistande der unterdrückten zu Theil, welche aus diesen wenigen Blättern hervorleuchtet. Darin nemlich beruht alles republicanische Wesen wie alle Staatskunst: klare Erkenntniß der unendlichen Partheien, deren rastloser und gewaltiger Conflict das ausmacht, was wir Gesellschaft nennen, und dann, beständiges Zugegensein, Fördern, Beistehn, da – wo irgend eine Parthei, welche zum Gleichgewichte des Ganzen nothwendig ist, schwankt, oder ihrer selbst vergißt. Dorthin, bis das Gleichgewicht hergestellt ist, alle Gewichte seines Genies werfen, den einschlummernden Geist dieser Parthei anregen und spornen, ihr vorfechten – damit sie lebendig erkenne, welche Waffen ihr noch zu Gebot stehn, und wie selbige gebraucht werden müssen. – Nicht blos auf die Seite der äußeren Armuth und Noth soll sich der souveraine Geist werfen, wenn es auch nicht grade unanständig ist, sich ihn als einen hülfreichen Genius für die unterdrückten Zeitgenossen zu denken. Es giebt auch unsichtbare Noth, unterdrückte Ideen, die belebt, gehoben und bewaffnet werden wollen. Diese erhabene Beweglichkeit und Unbefangenheit des Geistes gegen alle einzelnen Partheien, neben der Kraft jede, wenn es die Umstände erfordern, zur Herrschenden zu erheben – bezeichnet das wahre Talent zur Regierungskunst, wie zu aller ächten Kunst überhaupt. Wo sie sich findet, wird es auch an reinem eigenthümlichen Stil des Lebens und der Denkungsart nicht fehlen; solche Naturen können sich getrost in jedes Feld werfen, welches Schicksal oder Neigung ihnen eröffnen mögen; keine bestehende Form der Wissenschaft oder des practischen Lebens, kein Wetter der Zeit oder des Glücks wird ihrer innerlichen Gesundheit etwas anhaben können, in wiefern sie nur fortdauernd die Kräfte üben, welche der Unbefangenheit und Unpartheilichkeit die Stange halten; in wiefern sie ihre Jugend bewahren, das heißt den Stolz unter allen den unendlichen Partheien, welche sie verstehn und zu leiten wissen, nun selbst wieder eine Parthei zu bilden, wie es dem Menschen ziemt, der, wenn er auch viele Länder und Völker und Menschen übersieht, doch an einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit und an eine bestimmte, wenn auch noch so erhabne Hand- <42:> lungsweise selbst wieder gewiesen ist. Ein Vaterland, einen Boden, wo er sein Heereslager, seinen Waffenplatz aufschlage, braucht jeder Held, also auch der Wissenschaftliche; wäre er allgegenwärtig, überschaute er das innerliche Getriebe aller Staaten, Helden und Herzen, so könnte er keinen Feind haben, und nach menschlicher Ansicht der Dinge auch nicht Held sein. Also wie viel Partheien in dem Vaterlande seines Herzens er auch übersehn und auf die beschriebene Art beherrschen möge, so wird er dennoch nur ihnen gegenüber unpartheiisch heißen können; partheiisch aber selbst wieder dem Feinde gegenüber, der die von ihm befriedigte Partheienwelt antasten möchte. An solchem Feinde läßt es die Natur nie fehlen, sie muß ihn herbei rufen, damit das in Frieden vereinigte nun auch zusammen halte, damit es nicht durch die Unbefangenheit zerspittert werde und zerfalle. Neben der Liebe, die an und für sich leicht verdirbt, muß der menschliche Haß stehn und sie lebendig erhalten: beides im Herzen gleich lebhaft bewahren, heißt die Jugend bewahren.
So Johann von Müller in seinen Jugendschriften, in den Reisen der Päpste, im Fürstenbunde, und in den Reden an die Schweizer. Die Historie, Darstellung des politischen Lebens und seiner Schicksale, muß den hier beschriebenen Character vornehmlich ausdrücken können; denn, während der wirkliche Staatsmann nur zu oft durch die unwiderstehliche Gewalt des Augenblicks die Unbefangenheit verliert, die dazu gehört, um das ganze Leben einer Nation, wie es sich in der Folge der Jahrhunderte darstellt, im Auge zu behalten, schwebt der Geschichtschreiber über den Streit der einzelnen Partheien, ja ganzer Generationen, mit einander, in Ruhe und Unbefangenheit. Er kann den Genius seiner Nation ausdrücken, wenn er die andre Klippe vermeidet, wenn er die oben beschriebene Partheilichkeit, als beste und schönste Schranke seines Werks, neben aller Unbefangenheit behauptet; wenn er in der Hingebung, und in dem schönen Gehorsam gegen die Quellen und die verschiedenen Partheiansichten, aus denen er seine Geschichte bildet, nicht den eigenthümlichen Character, d. h. nicht die erhabene Vorliebe für das Vaterländische und den jugendlichen gerechten Haß für das Fremde verliert. Damit ist nicht gesagt, daß er das Ausländische als barbarisches bei Seite setzen soll: vielmehr wird ein klarer Haß verlangt, der den Werth des Ausländischen sehr wohl erkennen kann, dem aber die Liebe des Vaterländischen viel zu sehr ans Herz gewachsen ist, als daß sein Gemüth sich je von ihr abwenden könnte.
Deshalb hat in Deutschland, wo man sich so leicht in das Ausländische, in fremde Sprachen und Sitten findet, und keine Nationalvorliebe dulden will, die Universalgeschichte zum großen Nachtheil der deutschen vaterländischen Geschichte, so viel Glück gemacht, – und der Philanthropismus zum Nachtheil der vaterländischen Gesinnungen. – Unbefangen sind wir bis zur Ausschweifung, aber die nöthige Partheilichkeit fehlt uns, um vollständige Menschen zu sein. Wir haben längst vergessen, daß auf die Freundschaft dessen mit Recht wenig Werth zu legen ist, der Jedermanns Freund ist und aus Schwäche nicht hassen kann. Zwischen der Freundschaft <43:> gegen alle Einzelne, und der Freundschaft gegen die Menschheit, ist ein Unterschied, und so widerspricht unsre weltbürgerliche Denkungsart der Menschheit, und nutzt doch den Einzelnen nichts. –
Daß man die Historie in unsern Tagen, vornehmlich in Deutschland, aus großen allgemeinen Gesichtspuncten der Staatenbildung, der Geisteskultur und der Erziehung des Menschengeschlechts zu betrachten, unternommen, ist löblich und verdienstlich. Der Mensch strebt ja überall unter den Erscheinungen ein Band zu stiften, und mehrere zerstreute Bilder in ein großes Bild, mehrere streitende Partheien in eine einzige große Parthei zusammen zu fügen, auch ist diese philosophische Kunst der Composition der Begebenheiten, wesentliches Glied aller historischen Kunst. Indeß, wohin führt dieses Wesen, wenn der historische Künstler die Composition vornimmt, ehe er das zu componirende in seiner Tiefe empfunden hat? wozu alles Gruppiren und Entgegenstellen, wenn der Kern des Lebens und der Staaten unter Schmerzen und Glück noch nicht berührt worden? Ein junges Talent wird unter den jetzigen literarischen Conjuncturen in Deutschland schon in der Wiege mit Weltansichten genährt; anstatt daß die feste gesunde Natur von der Erkenntniß der Facten ausgeht, diese auf Treu und Glauben tüchtiger Zeugen sich aneignet, und hierauf erst in späteren Jahren zur eigenthümlichen Bildung der Ideen schreitet, so eignet man sich bei uns zuerst die Ideen an, und bildet nachher mit eigenmächtiger Willkühr nach Herzenslust die Facta aus. So entsteht dann jene altkluge, nichtswürdige Schwelgerei mit den Heiligthümern aller Jahrhunderte; der Geist, zieht ungestaltet, kern- und herzlos wie eine Wolke um die Erde, ohne Vaterland, ohne Vorliebe für das Nähere, Ältere und Verständlichere. Ein Heer solcher Skizzisten und Gruppirer der Geschichte hat Deutschland schon vorüberziehn und verschwinden sehn.
Wenn Johann von Müller einen jugen Freund dergestalt über alle Zeitalter der Menschheit herschweben und flattern sieht, ungewiß, auf welchem er sich niederlassen soll, weil die anderen unterdeß ihn, oder er die anderen entbehren möchte, pflegt er ihm zu sagen: Laß das, Kleiner! was du da willst, ist Gottes. Sehe in die Geschichte deines Volks und deines Stammes; treibe das Nächste, damit du überhaupt etwas treibest. Gieb erst zu, daß es für dich, den Menschen, allerdings ein Groß und Klein, ein Nahe und Fern, ein Bedeutend und Unbedeutend giebt; dann wird die Ruhe und Indifferenz, die erhabene Gleichgültigkeit gegen den Stoff, die du dir etwas zu frühe angeschafft hast, dir wohl zu statten kommen.
Das ist der männliche Character der Geschichtschreibung Johanns von Müller, der sich schon in mehreren glücklichen Nachfolgern, unter denen ich vor allen andern Luden, und dann Hormayr und Dippoldt nennen will, fortgepflanzt hat. Was der Meister auf seinem unermüdeten „Wandel durch die Jahrhunderte“ erworben, kennt die Welt theils schon, theils weiß sie, was sie noch zu erwarten hat. Die Form seiner Werke prägt sich vornehmlich jungen Gemüthern durch ihre Erhabenheit und <44:> Gewalt tief ein, und wie sollte sie es nicht, unter aller Formlosigkeit dieses Jahrhunderts; es ist nur das eine zu befürchten, daß sie sich in den Nachfolgern des großen Meisters versteinern könnte; der östreichische Plutarch und die tyrolische Geschichte von Hormayr erwecken diese Besorgniß. – Das was ich nothwendige Partheilichkeit des Geschichtschreibers nannte, das Gemüth muß ihm durch und durch selbst angehören; er muß es im Leben selbst erwerben; von andern erborgen, abformen oder nachahmen kann er es nicht, eben so wenig die Manier, welche nichts andres ist, als die in der ganzen Darstellung allgegenwärtige Spur des Gemüths. Je größer der Meister, um so weniger läßt er sich mechanisch nachconstruiren; um so mehr, indem er anzieht, schreckt er zugleich von sich zurück, denn um so eigenthümlicher ist er.
Gefährlicher, als bei irgend einem andern, ist die Nachahmung bei Johann von Müller, denn wie groß er auch in seinen Jugendwerken erscheine, er gehört viel mehr vergangenen Zeitaltern, als dem unsrigen an; vielmehr den Alten, als uns, die er gering zu schätzen scheint. Seine Partheilichkeit ist bei denen von Thermopylä und Theben; in der neueren Geschichte, wie gründlich auch dort sein Streben sei, scheint uns die historische Unpartheilichkeit mehr und mehr  allein aufzutreten, ohne das Gegengewicht eines großen und gewaltigen persönlichen Interesse. Bei den neueren scheint der vortreffliche Geschichtschreiber nur zu lustwandeln; bei den Alten zu wohnen und mit ihnen Krieg zu führen. Daher die antike Luft in der seine Eidgenossen sich bewegen.
Wir zielen nicht auf vermeintliche Nachahmung des Tacitus, die man ihm Schuld gegeben; wir meinen nur, es ließe sich auch in unsrer Zeit, wie gesunken das Vaterland, wie zersplittert die Kräfte, wie vertheilt das Recht und Unrecht auch bei allen Partheien sein möge, dennoch eine Parthei und dem zufolge ein wahrer historischer Standpunct ergreifen, und also auch hier das sein, was die von Therenopylä und Theben zu ihrer Zeit waren. Unbefangenheit und Partheilichkeit, Milde und Strenge, sollen beide allenthalben verbunden sein, scheint es uns: nicht in welchem Grade das Alterthum und seine Helden nachgeahmt werden, soll über das Urtheil der Neueren allein entscheiden; auch bei uns ist mancherlei Parthei zu bilden, zu bekämpfen, zu bewaffnen und zu ergreifen. Der Geschichtschreiber braucht sein Jahrhundert nicht leichter als irgend ein früheres zu nehmen. Ohne den Rechten der Alten etwas zu vergeben, auch wir verdienen es, daß sich der Geschichtschreiber wenigstens zwischen uns entscheide, nicht seine Pflicht erfüllt glaube, wenn er wie ein Proteus nur den Character jeder Zeit vollständig annimmt.
Diesen Unterschied zwischen den früheren und späteren Schriften Johann von Müllers, glaubten wir anzeigen zu müssen, zuerst um der Nachfolger willen, unter denen Luden uns ganz verstehen wird, weil er unsrer Erinnerung nicht bedarf, dann um zu beweisen, daß wir auf unsre Art verständige Bewunderer des großen Meisters sind.

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Letzte Aktualisierung 29-Mär-2003
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