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Salomon Gessners auserlesene Idyllen in Verse gebracht von Karl Wilhelm Ramler (Berlin: Unger 1787), 19-25

Der zerbrochne Krug.

Hylas, Alexis, Irin, und der rosenwangige Lykon
Gingen in einen Hain, wo tief im Schlafe begraben,
Unter einem Eichbaum ein ziegenfüßiger Faun lag.
Als ihn die jungen Hirten erblickten, sagten sie: Laßt uns
An den Baum ihn binden, und eher nicht wieder erlösen,
Bis er für seine Befreyung ein Lied uns singt. Und sie banden
Ihn an den Eichstamm fest, und warfen mit der gefallnen <20:>
Frucht des Baumes ihn wach. – Wo bin ich? so sprach er, und gähnte,
Reckte die Arme weit aus und die Ziegenfüße: – wo bin ich?
Wo blieb meine Flöte? wo mein Krug? – – – Ach! da liegen
Von dem schönsten Kruge die Scherben! Als ich im Rausche
Gestern hinsank, zerbrach er. – – – Aber wer hat mich so fest hier
Angebunden? Nun sah er sich um, und hörte das Kichern
Der muthwilligen Knaben. Ihr Hirten! rief er, wo seyd ihr?
Bindet mich los, ihr Hirten! – Sie sprachen: Wir binden dich nicht los,
Bis du für deine Befreyung ein neues Liedchen uns singest. –
Aber wovon soll ich singen, ihr Kinder? – Ich will von dem Kruge <21:>
Singen, den ich zerbrach. Da! setzt euch um mich ins Gras hin.
Und sie setzten ins Gras sich hin, und er hub den Gesang an.
Ach! er ist zerbrochen, der Krüge schönster! da liegen
Seine Scherben umher. Wohl schön war mein Krug, war die schönste
Zierde meiner Grotte. Kein Waldgott durfte vorbeygehn,
Immer rief ich: Komm, trink, und sieh den schönsten der Krüge;
Keinen schönern Krug hat Zevs an den Festen der Götter.
Ach! er ist zerbrochen, der Krüge schönster! da liegen
Seine Scherben umher. Versammelten Freunde sich bey mir:
Setzten wir rings um den Krug uns herum, und tranken, und jeder <22:>
Sang dann die auf dem Kruge gegrabne Geschichte, die seinen
Lippen die nächste gewesen. Jetzt trinken wir nicht mehr, ihr Brüder,
Aus dem Kruge; jetzt singen wir nicht mehr Geschichten, die jedes
Lippen die nächsten gewesen. Denn leider! ist er zerbrochen,
Ach! er ist zerbrochen, der Krüge schönster! da liegen
Seine Scherben umher. – Pan stand auf dem Bauche des Kruges,
Sah voll Schrecken am Ufer die lange verfolgte Najade
In dem umschlingenden Arm sich in flisterndes Schilfrohr verwandeln;
Seufzend schnitt er dann sieben Rohre, der Länge nach ungleich,
Und verkleibete sie mit Wachs, und blies auf dem neuen <23:>
Pfeifenbunde dem Ufer ein trauriges Lied, und es lernte
Echo das traurige Lied und wiederhohlt’ es dem Haine.
Aber er ist zerbrochen, der Krüge schönster: da liegen
Seine Scherben umher. – Auch stand auf dem Kruge der weiße
Göttliche Stier, der einst auf seinem Rücken Europen
Durch die Wellen trug. Er leckte mit schmeichelnder Zunge
Sanft das entblößete Knie der Schönen, die jammernd die Hände
Über dem Haupte rang, mit dessen geringelten Locken
Gaukelnde Weste spielten. Ein Trupp von lachenden Amorn
Ritt auf Delphinen voraus vor dem schlau vermummeten Gotte. <24:>
Aber er ist zerbrochen, der Krüge schönster: da liegen
Seine Scherben umher. – Auch war auf dem Kruge der schöne
Bacchus gegraben. Er saß in der Rebenlaube, zur Seite
Lag die niedlichste Nymphe. Mit ihrer Linken umschlang sie
Seine Hüften, und zog mit der Rechten den Becher, nach welchem
Seine lächelnden Lippen sich sehnten, zurücke. Sie sah ihn
Schmachtend an, und schien ihn um Küsse zu flehen. Gefleckte
Tieger spielten zu seinen Füßen, und aßen mit Schmeicheln
Aus den kleinen Händen der Liebesgötter die Trauben.
Aber er ist zerbrochen, der Krüge schönster: da liegen <25:>
Seine Scherben umher. O! klag’ es, Echo, den Brüdern
In den Felsenhöhlen! Er ist zerbrochen: da liegen
Seine Scherben umher.

So sang der Faun. Und die Hirten
Banden ihn los, und besahn bewundernd die Scherben im Grase.


Theophil Zolling, Heinrich v. Kleist in der Schweiz (Stuttgart 1882), 33-35, teilt eine heute verschollene Abschrift von der Hand Heinrich Geßners mit, die das Datum „Bern, Februar 1802“ trug. Zollings Wiedergabe differiert von Ramlers Druck an folgenden Stellen (Unterschiede in Interpunktion und Orthographie nicht verzeichnet):
zerbrochne] zerbrochene
seine] die
gähnte] gähnete
Wo] Wo denn
Flöte? wo] Flöte?
setzt] setzet
er ist zerbrochen] zerbrochen ist er
Zierde] Zier
Immer rief ich] Daß ich nicht rief
sieh] siehe
schönern] schöneren
er ist zerbrochen] zerbrochen ist er
Setzten] Saßen
Krug uns herum, und tranken] Krug, und jeder trank dann
Kruge] Krug
er ist zerbrochen] zerbrochen ist er
zurücke] zurück
So] keine vorangehende Leerzeile
besahn] besahen

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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