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Bruno Hennig, Marie von Kleist. Ihre Beziehungen zu Heinrich von Kleist (nach eigenen Aufzeichnungen), in: Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung (Berlin), 12. 9. 1909, 291-293; 19. 9. 1909, 301f.; darin: 12. 9. 1909, 293

Marie von Kleist. Ihre Beziehungen zu Heinrich von Kleist (nach eigenen Aufzeichnungen)


Ich habe diesen Hauptzug ihres Wesens, der doch der normalen Freundschaftsschwärmerei ihres Zeitalters nicht einfach gleichgesetzt werden darf, deshalb so hervorgehoben, weil von hier aus die warme Anteilnahme der verheirateten Frau für ihren genialen jüngeren Verwandten, der ihr seinerseits mit wahrer Leidenschaft entgegenkam, die allein zulässige Deutung erhalten kann. Sie ist dem Dichter, der alle ihre Forderungen an echte Freundschaft so vollkommen erfüllte, im Bewußtsein ihrer Charakterstärke sicherlich sehr weit entgegengekommen – eben so sicher aber die Grenzen des beiderseitigen Entgegenkommens mit ruhiger Bestimmtheit wahrend. Das starke ethische und religiöse Moment, das sie in ihren Freundschaftsbündnissen vorwärts trieb, muß ihr zugleich ein sicherer Schutz gegen jede Verletzung von Sittlichkeit und Sitte gewesen sein. Es existiert von ihrer Hand das Konzept eines Briefes mit der Anrede „mein lieber Freund“, das mit den Worten schließt: „Warum sollte Gott nur Ehen zusammen fügen, warum nicht Herzen, Geister, Gemüther, warum nicht mit einem Worte Menschen, warum muß denn immer Sinnliches mit in den Verbindungen sein?“ Es läßt sich denken, wie sie von solchem Standpunkt aus sich des stürmischen Vetters gütevoll annehmen und ihn doch mit leiser, schonender Hand stets in bestimmten Schranken halten konnte. Sie hatte etwas von dem „Weimarer Ideal der sittigenden, im eigentlichen Sinne maßgebenden edlen Frau“,\1\ das wir sonst in Kleists Leben wie in seinen Werken so völlig vermissen.
Minde-Pouet, der u. a. auch über Maries Briefe an ihren Mann verfügt, ist bereits mit Entschiedenheit für die Unschuld Maries an der Zerrüttung ihrer Ehe eingetreten. Ihm verdanken wir auch die Nachricht, daß in der erst am 2. November 1812 erfolgten gerichtlichen Ehescheidung der Mann für den schuldigen Teil erklärt wurde.\2\ Aus der Ehe stammten außer zwei jung gestorbenen Töchtern ein Sohn, der bei der Scheidung 19jährige Adolf, und eine Tochter, die 12jährige Luise oder, wie sie gewöhnlich genannt wurde, Lulu.\3\ Beide verblieben in den engsten Beziehungen zur Mutter, wenn auch Adolf, wenigstens in finanzieller Hinsicht, vom Vater nicht völlig getrennt erscheint. Sicher ist nach den mir zur Verfügung stehenden Briefen, daß Marie schon vor der Scheidung, wenn nicht dauernd, so doch für lange Zeiträume von ihrem Gatten getrennt lebte. Leider ist in den Daten ihrer Briefe der Ort mehrfach fortgelassen, doch kann ich aus den mir vorliegenden, in diesen Jahren noch nicht sehr zahlreichen Briefen an ihren Sohn, der seit Oktober 1809 Schüler des Grauen Klosters in Berlin war, folgendes Itinerar feststellen: Vom Dezember 1807 und August 1809 ist je ein Brief aus Bahrensdorf diktiert, einem Gute bei Beeskow, das ihrer Freundin Frau von Berg gehörte. Zeitweilig muß sie auch im Jahre 1807, einer 4 Jahre später niedergeschriebenen Erinnerung zufolge, bei ihrer Schwester krank gelegen haben. Auch im Oktober und Dezember 1808 ist sie mit ihrer Tochter vom Gatten und vom Sohn getrennt. Doch müssen für die Beurteilung dieser Trennungen natürlich die kriegerischen Ereignisse und die Folgen des Krieges berücksichtigt werden. Im Sommer 1809 scheinen die Gatten wieder vereinigt gewesen zu sein.\4\ Dann aber ist sie von spätestens September 1809 bis frühestens Ende April 1810 in Bialokosch in Posen bei ihrer Schwester Massenbach zu Besuch,\5\ und zeigt erst am 7. November 1810, wahrscheinlich doch auf der Rückreise aus Posen, aus Friedersdorf im Kreise Lebus, wo ihre Freundin Gräfin Moltke jetzt als Frau von der Marwitz wohnte, ihre bevorstehende Ankunft in Berlin an. Ein kleines in Berlin geschriebenes Billet, von Adolf mit der Aufschrift „Ende 1810“ versehen, scheint auf längeren Aufenthalt daselbst zu deuten. Sie hatte in jenem Briefe aus Friedersdorf die Absicht ausgesprochen, in Berlin bei der Familie von Haeseler, Verwandten der Frau von Berg, Quartier zu nehmen. Damit stimmt überein, daß der nächste Brief vom 6. Mai 1811 aus Sakrow, dem damals Haeselerschen Landsitze nahe bei Potsdam, datiert ist. Im Juni 1811 schreibt sie aus Groß-Giewitz, dem gräflich Voßschen Gut in Mecklenburg-Strelitz, wohin die Tochter der Frau von Berg verheiratet war. Gleich der erste Brief von dort enthält jetzt sehr deutliche Anzeichen einer bereits völlig gestörten Ehe.\1\ Aus Giewitz sind die Briefe bis zum Januar 1812 datiert. Dann scheint sie nach Berlin gezogen zu sein, und die Briefe beginnen erst wieder, als Adolf im Felde ist.\2\ Aus Potsdam selbst ist, soweit die Aufschriften erkennen lassen, kein Brief geschrieben.
Zu einem persönlichen Verkehr Maries mit Heinrich v. Kleist bleiben somit nach langer Trennung nur die sehr wahrscheinlich in Berlin verlebten Monate November 1810 bis April 1811 übrig. Hier aber wird sich diese alte, schon aus Heinrichs Potsdamer Militärjahren stammende Freundschaft auch wirklich wieder stark belebt haben, und an diese Zeit, vermute ich, wird Marie Kleist gedacht haben, als sie in ihren Erinnerungen an Heinrich (unten No. VII) von der „ersten Zeit seiner Liebe“ sprach. Gleichwohl fällt noch in diese selbe Zeit von Maries Berliner Aufenthalt\3\ Heinrichs nähere Bekanntschaft mit der Frau, die seine von Marie mehrfach ausgeschlagene Aufforderung zu gemeinsamem Tod schließlich annehmen – richtiger, sie ihm ablisten sollte, und die nur durch diese Exzentrizität des Empfindens seine natürlicher und edler denkende ältere Freundin zurückdrängen konnte. Die durch den alten Körner überlieferte Tradition, Kleist habe eigentlich eine andere Frau geliebt, als die, mit der er sich erschoß, trifft ganz gewiß das Richtige.\4\ Ein Ersatz für seine Liebe zu Marie ist diese letzte todbringende Freundschaft nicht gewesen. Das beweisen meines Erachtens zwar nicht die leidenschaftlichen Aussagen Maries über Henriette Vogel und ihre Beziehungen zu Kleist,\5\ wohl aber dessen eigene letzte Briefe an seine Cousine. „Kann es Dich trösten, wenn ich Dir sage, daß ich diese Freundin niemals gegen Dich vertauscht haben würde, wenn sie weiter nichts gewollt hätte, als mit mir leben? Gewiß, meine liebste Marie, so ist es; es hat Augenblicke gegeben, wo ich meiner lieben Freundin, offenherzig, diese Worte gesagt habe …“ Es war ein besonderes Verhängnis, daß Marie, deren letzte, noch in Unkenntnis seiner Absichten geschriebene Briefe schon fast genügt hätten, Kleist’s Entschluß zu sterben, wieder rückgängig zu machen,\6\ im letzten Augenblick durch Krankheit verhindert wurde, ihre ausgesprochene Absicht auszuführen: zu Mitte November des Jahres 1811 nach Berlin zurückzukehren!

(Schluß folgt.)

\1\ Erich Schmidts Kleistbiographie.
\2\ Minde-Pouet Briefe, S. 491; vgl. S. 305, Anm., und 471. – Bereits ein viertel Jahr nach der Scheidung, am 28. Februar 1813, also kurz vor dem Auszug ins Feld, vermählte sich Fr. W. v.  Kleist mit einer Brandenburger Bürgerstochter.
\3\ Adolf, ein Patenkind der Königin Luise und als Knabe häufiger Gespiele des Kronprinzen, war der spätere Kammergerichtspräsident und Vizepräsident des Geh. Ober-Tribunals, der 1848 als ein Mitglied der Fronde gegen die revolutionären Neuerungen seinen Abschied nahm. – Lulu v. Kleist heiratete im Jahre 1825 den Grafen Stosch auf Manze in Schlesien. Sie war die intimste Freundin und Vertraute der Prinzessin Elisa Radziwill. In ihrem Hause starb 1831 die Mutter.
\4\ Im Juli dieses Jahres schickt die Königin dem Ehepaare 50 Dukaten als Beitrag zur Erziehung ihres Patenkindes Adolf.
\5\ Rahmers weitgehende Folgerung aus Kleists Besuch in Potsdam im Februar 1810 ist also schon deshalb hinfällig, weil er seine Cousine damals dort nicht hat antreffen können („Kleistproblem“ S. 160 im Anschluß an Steig: „Neue Kunde über Heinrich von Kleist“. S. 6 f.)
\1\ Sie warnt ihren damals 17jährigen Sohn vor übereilter Wahl, „denn nichts ist schrecklicher in dieser Welt als eine schlechte Ehe und Gottes Willen zuwiederer“. Sie stellt Berechnungen an, wie sie mit den Einkünften aus einer eben gewonnenen Erbschaft auskommen könne. – „Da ich nun gedenke,Louisen ganz ohne etwas von Vatern zu nehmen, zu erziehn …“ – „Will Vater Deine Erziehung unterbrechen und (Dich) aus Deiner Pension nehmen, so laße ich mir auch noch lieber etwas abziehn und alsdann muß ich wieder so herrum ziehn wie jetzt und vielleicht sogar den Winter (von Berlin?) wegbleiben“. Die Datierung s. unten unter No. I. Der Brief ist schwarz gesiegelt.
\2\ Am 10. „Mai oder Juni 1813“ (nach der Ergänzung Adolfs) schreibt sie, sie müsse der Kriegsgefahr wegen Berlin verlassen.
\3\ S. Kleists Brief vom 9. Nov. 1811 (Minde-Pouet Nr. 190). Vgl. Maries Brief an Peguilhen vom 12. Dez. 1811 (Gegenwart IV No. 32, Seite 89).
\4\ Bereits von Rahmer, Kleistproblem S. 162 hervorgehoben.
\5\ Minde-Pouet S. 492 und unten No. V. (Vgl. Rahmer „Kleist“ S. 404f.)
\6\ S. Kleists Brief vom 10. Nov. (Minde-Pouet 191). Den Brief vom 9. hat Marie damals noch nicht gehabt. Damit fallen die voreiligen Schlüsse Rahmers auf Maries Charakter in sich zusammen. („Kleist“ S. 405f.)

Emendation
verheirateten] verheiraten D

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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