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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 384-389

Kleists Tod

II. Kapitel

Kleists Tod.

Das einzige Material, das uns für die Erklärung von Kleists Tode zur Verfügung steht, ist die von Peguilhen abgefaßte Denkschrift, die allein uns auch Angaben über die Todesgefährtin bietet. Ich habe diese Denkschrift in wortgetreuer Abschrift und in wesentlich erweiterter Form oben wiedergegeben (S. 148ff.). Man mag über die Darstellung Peguilhens denken wie man wolle, sie unterscheidet sich vorteilhaft von allem, was sonst darüber geschrieben ist, dadurch, daß sie die Tat Kleists als etwas ganz Exzeptionelles, die Dagewesenes, Einzigartiges hinstellt, und als sie den Versuch unternimmt, wenngleich mit unzureichenden Mitteln die Tat psychologisch zu erklären. Wer an den Versuch herangeht, dieses völlig geheimnisvolle Ereignis zu ergründen, der muß sich des Außergewöhnlichen bewußt sein, dem man nicht beikommen kann mit den allgemeinen Redensarten von Trübung des freien Willens, von der tückischen Kraft des blinden Zufalls, von den tausend mitwirkenden Übeln und Nöten, die sich bindend, lähmend und dunkel treibend zusammenhäufen, um die helle Lauterkeit des freien Bewußtseins zu trüben. Kleists Selbstmord ist der Abschluß einer Tragödie, wie sie sich auf der Weltenbühne kaum zum zweiten Male abgespielt hat. Man denke eine ungebrochene Kämpfernatur, die eben noch drohend die Faust gegen die mächtige Regierungspartei erhoben hat, ein Dichter, mitten im vollen Schaffen, dessen Genie eben die duftigsten Blüten getrieben hat, ein Denker und Ästhet, den tiefgründige Probleme beschäftigen, die an seine Jugend- <385:> ideen anknüpfen, ein Mensch, der voll seiner Kraft sich seines Wertes bewußt ist! Und dazu eine Todesgefährtin, die nicht eine Delila für ihn gewesen ist, die nicht eine Delila für ihn gewesen ist, die ihn im Rausch der Liebe bezwungen, die Kraft seines Geistes überlistend. Da spricht nichts für die Illusionen einer unbezwinglichen Liebe, nichts für den Zauber einer süßen Betäubung, die sinnverwirrend die freie Kraft des Bewußtseins gelähmt. Nein, nackt und nüchtern stellt sich das Furchtbare vor uns hin.
Über das Unerklärliche und Unbegreifliche hinweg hilft man sich am leichtesten mit dem Hinweis auf das Pathologische. Kleist soll die Tat in geistiger Umnachtung begangen haben. Als dann die Dokumente des Wahnsinns vor einer wissenschaftlichen Kritik nicht standhielten, suchte man die Tat mit geschickter Kombination zahlreicher äußerer Unglücksfälle zu erklären.
Materielle Not und Geldverlegenheiten sollen Kleist in den Tod getrieben haben. Ich habe gegen diese psychologisch ganz unhaltbare Auffassung polemisiert (Kleist-Problem S. 152), aber mit dem Erfolge, daß seitdem noch mehr wie früher dieses Moment in den Vordergrund der Diskussion gestellt wurde. Nach Erich Schmidt steckte Kleist in heillosen Schulden und war zuletzt jeder einigermaßen sicheren Einnahme beraubt; von anderer Seite glaubte man die Situation besonders geklärt zu haben, als man eine nach dem Tode des Dichters auftauchende Schuldforderung eines Freundes vorlegen konnte, und als man Tiecks Bereitwilligkeit entdeckte, mit dem Erlös von Kleists Schriften dessen Schulden zu decken. Ich will zunächst einmal annehmen, daß diese materielle Notlage des Dichters wirklich bestanden hätte, daß er tatsächlich, wie ein mitleidsvoller Autor annimmt, im Bette gearbeitet hat, um Heizung zu ersparen, und was sonst noch alles vorgebracht wird. Es genügt nicht, darüber sollten sich alle diejenigen klar sein, die durchaus an dem Zusammenhang von Selbstmord und Notlage festhalten, die materielle Notlage nachzuweisen, sondern es bedarf es auch des Nachweises, wie die Notlage auf das Gemüt gewirkt hat. <386:> Wie hat Kleist die Geldnot empfunden? darauf kommt es an. Hat sie ihn tatsächlich so niedergedrückt, daß sie Lebensüberdruß und Selbstmord veranlassen konnte? Es gibt Personen, denen der Mangel nichts anhaben kann, die sich eine große Lebensfreudigkeit in den schwersten Lebensbedrängnissen bewahren, und es gibt auf der anderen Seite Krösusse – und jeder Psychiater weiß, daß diese Kategorie nicht zu den Seltenheiten gehört – welche in tiefer Gemütsdepression die ewige Angst nicht loswerden, daß sie nicht genug zum Essen haben. Von Kleist wissen wir, daß er niemals mit Geld umzugehen wußte, daß er schon als Kind fortgab, was er in Händen hatte (Kleist-Problem S. 52), daß er niemals Geld sein eigen nannte, daß er mit einem verblüffenden Freimut Anleihen machte nicht bloß bei seiner Schwester, sondern selbst bei seiner Braut; Kleist sagt von sich selbst, daß das Auskommen eine Kunst ist, zu der er kein Talent habe ebensowenig wie zum Seiltanzen, und die man deshalb von ihm nicht verlangen könne; Kleist war ein Mensch, der Zeit seines Lebens von Anfang bis zu Ende in Geldnot steckte, der sich seine Not niemals besonders anfechten ließ, und der in schwierigster Notlage, seiner Überlegenheit bewußt, betont, daß das Bücherschreiben ihm keine Schwierigkeiten bereitet, und daß er damit jederzeit, was er braucht, verdienen könne. Kurz, Kleist gehörte zu jenen Menschen, die die Misere des Lebens nicht anfechten kann, er ist ein echter Prinz aus dem Genieland, der erhaben ist über Geldnot und ganz verständnislos dem Gelderwerb und Geldwert gegenübersteht. Nur psychologischer Unverstand kann behaupten, daß die Notdurft des Lebens ihn in den Tod treiben oder auch nur zum Lebensüberdruß beitragen konnte.
Nachdem mein erster Versuch sich als völlig ergebnislos erwiesen, auf psychologischem Wege die ganze Absurdität nachzuweisen, die in der Behauptung liegt, äußere Not hätte Kleist in den Tod getrieben, habe ich mich bemüht, die Frage zur Entscheidung zu bringen, ob Kleist überhaupt, wie immer und immer wieder behauptet, niemals aber bewiesen wird, <387:> so tief in Schulden gesteckt hat. Von vornherein spricht ja dagegen der Umstand, daß er vor seinem Todesgange in seiner letztwilligen Verfügung die eingehendste Anordnung über alle und die kleinsten Außenstände getroffen hat. Wenn eine nachträgliche Forderung von Ehrenberg hervorgeholt wird, so will sie wenig beweisen; Kleist wird die Forderung eines Freundes nicht drückend empfunden haben, dem er während der französischen Gefangenschaft wertvolle Dienste leistete (s. Briefe). Kleist bezog seine Einnahmen in den letzten Monaten hauptsächlich aus dem Verlage von Georg Reimer. Es erschien mir wichtig, das Konto Kleists bei seinem Verlage einzusehen, einmal um etwas genaueres über seine Einnahmen zu erfahren, andrerseits um zu ersehen, ob und wie stark sein Konto belastet war. Ich gebe umstehend eine Abschrift von Kleists Konto\1\ bei Reimer, das ich dem freundlichen Entgegenkommen des gegenwärtigen Verlagsinhabers verdanke.
Das Konto Kleists schloß bei seinem Tode, wie wir sehen, ab mit einem Minus von etwas über 8 Talern. Wie die Briefe Kleists aus dem Juni und Juli beweisen, hatte Reimer demgegenüber noch in Händen das Manuskript des „Prinz von Homburg“ und angeboten noch einen zweibändigen Roman. Daß er mindestens bezüglich des Prinzen mit Kleist abgeschlossen und mit ihm Vereinbarungen getroffen hatte, ist sicher, denn sonst hätte er mit dem Tode von Kleist sein Konto abgeschlossen und nicht erst gewartet bis zum Jahre 1821 und bis zur Herausgabe der hinterlassenen Schriften. Wenn wir nun noch in Betracht ziehen, daß Reimer dem Dichter auf alle seine Werke, wie das Konto lehrt, bereitwillig Zahlungen im voraus geleistet hatte, so konnte es auch um die Zeit seines Todes Kleist nicht schwer gefallen sein, sich Geld von ihm zu verschaffen, und von einem eigentlichen Notstand kann nicht gut <388:>

von   Kleist

1810
April 30

 

zahlte ihm abschlägl. auf das Honorar seiner Erzählungen

30

 

 

July 16

 

– – p. Saldo darauf

20

 

 

August 16

 

Honorar f. dessen Erzählungen

 

 

50

 

 

zahlte ihm vorschußweise

22

16

 

 

Septbr. 3

 

– – –

20

 

 

23

2

Erzählungen Vel. P.
– ord. P.
Kätchen Vel. P.
– ord. P.

gratis

 

 

 

 

 

3

 

 

 

 

 

2

 

 

 

 

 

3

 

 

 

 

 

 

Honorar f. letzteres Buch

 

 

75

Octbr. 6

 

zahlte ihm

11

12

 

 

22

 

– baar

15

 

 

 

1

Kätchen Vel. P.

1

 

 

 

1

– ord. P.

16

 

 

Decbr. 16

 

zahlte ihm

11

12

 

 

18

1

Kätchen Vel. P.

1

 

 

Jan. 14

 

2 Erzählungen

2

12

 

 

17

 

zahlte ihm

10

 

 

30

 

– – p. Saldo Honorars f. d. zerbr. Krug
Honorar dafür

20

56

12

März 12

 

– – 2 fr. d’or

11

12

 

 

Febr. 11

 

2 zerbrochene Krug Drkp.
2 – – Vel. P.

 

 

 

 

Juny 1

 

1 – – –

1

 

 

6

 

zahlte ihm auf das Honorar vom 2. Band d. Erzähl.
accordirt dafür

50

100

July 5

 

– ihm ferner

20

 

 

20

 

– – –

18

12

 

 

27

 

1 Kleist Kätchen

1

 

 

 

 

1 Kleist Erzählungen 1

1

16

 

 

August 3

 

4 – – 2. ord.
2 – – Vel. P.

gratis

 

 

 

 

1821

 

zahlte als Honorar seiner Schriften

150

 

 

Sept. 15

 

Honorar dafür

 

 

200

 

 

an Tieck für die Vorrede

50

 

 

December 3

 

1 Kleist, Schriften Druckpap.
ab zur Saldirung der Rechnung

 

 

8

20

 

 

 

490

8

490

8

<389:> die Rede sein. Steig versucht, die Einnahmen Kleists in der letzten Zeit seines Lebens zu berechnen, um dadurch seine pekuniäre Notlage zu beweisen. Aber alle solche Berechnungen haben nur einen problematischen Wert bei einem Dichter, dessen ganzes Lebenswerk wir gar nicht überblicken können. Zudem ist übersehen worden, daß Kleist eine seiner Novellen, für deren gesammelte Herausgabe er von Reimer Honorar erhielt, die Verlobung, im Freimütigen vorher hatte abdrucken lassen. Es ist wahrscheinlich, daß auch andere Novellen ihm Zeitungshonorare gebracht haben. Es sei nebenher bemerkt, daß Reimer für die hinterlassenen Schriften 200 Taler zahlte, und zwar an Tieck, wie ein Blick auf unser Konto lehrt für die Vorrede 50 Taler; den Rest zahlte er nicht an Tieck, sondern voraussichtlich an Kleists Familie als seine Rechtsnachfolgerin.

\1\ Ich habe die Abschrift vor der Veröffentlichung von W. Münch (Sonntagsbeilage d. Voss. Ztg. 18. VI. 05.) angefertigt. Münchs Aufsatz: „Interessantes aus einem alten Kontobuch“ berührt nicht die vorliegende Frage.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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