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Sigismund Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen (Berlin: Reimer 1909), 376-383

Kleists Liebesleben

Peguilhen wird also wie sein Freund Werner die Hendel genau gekannt haben, und der ganze Aufsatz bei Gubitz, der auf jeder Zeile den Stempel der Unwahrheit trägt, scheint darauf hinauszulaufen, sich selbst vor der Öffentlichkeit als den Schwerenöter aufzuspielen. Unverständlich bleibt es nur, wie Gubitz ein derartiges Elaborat unter seinem Namen veröffentlichen konnte, das ich übrigens im Gegensatz zu den meisten anderen Beiträgen des Buches in keiner Zeitschrift vorher gedruckt finde. Erinnern wir uns, daß Gubitz schon früher in seinen „Erlebnissen“, um Iffland zu retten, dem ihm unbekannten Kleist in sehr unschöner und unverantwortlicher Weise die Neigung zum Alkohol angehängt hat, so glaube ich annehmen zu dürfen, daß der ganze geschmacklos-verlogene Aufsatz mehr auf das Konto von Gubitz als das Peguilhens zu setzen ist. Wahrscheinlich liegt dem ganzen Geklatsch nichts weiter zugrunde, als daß bei einer reichen jüdischen Tischgesellschaft – weshalb Steig, der sich über den antijüdischen Beigeschmack der Schilderung aufhält, aus den jüdischen „Mäcen“ einen jüdischen „Geldprotzen“ macht, ist mir unerfindlich – die Hendel in unpassender Weise aggressiv gegen Kleist vorging, und daß dieser sich unter irgendeinem Vorwande einer peinlichen Situation entzog.
Wir wissen jedenfalls, daß Kleist und die Hendel bei ihrer Abreise aus Berlin in voller Freundschaft auseinandergingen, und daß sie auch nach der Trennung in reger Korrespondenz blieben. Das beweist ein Aufsatz der Hendel in den Abendblättern, und das beweisen auch mehrere fragmentarische Briefe Kleists, die nach meiner Auffassung an die Hendel gerichtet sind. Ich habe die Gründe, die mich hierzu bestimmen, bereits früher auseinandergesetzt (Deutschland, Februar 1907) und wiederhole sie in folgendem:
Unter den Briefen, deren Adressat dem Herausgeber unbekannt sind, befinden sich zwei Brieffragmente (Nr. 174 <377:> und Nr. 179) beide vom Juni 1811, und beide ebenso wie die Ergänzungen zum Briefe 103 als nachträgliche Eintragung dem Handexemplare Bülows entnommen. Neben der Eintragung Bülows findet sich von seiner Hand die Bemerkung, daß er die Briefe von Schütz erhalten habe und dazu die Frage: an wen sind die Briefe gerichtet? Die absonderliche Frage – denn was lag näher, als Henriette Schütz unter diesen Umständen als Briefempfängerin zu vermuten – veranlaßte mich zunächst, an alle anderen Freundinnen des Dichters zu denken. Aber zahlreiche Gründe, die ich im Euphorion (Sept. 1904) auseinandergesetzt habe, legten es nahe, worin mir auch der Herausgeber der gesammelten Briefe folgt, Henriette Schütz den Brief (Nr. 103) zuzusprechen. Die absonderliche und irritierende Frage Bülows ist nur so zu verstehen, daß ihm von einem langjährigen Freundschaftsbund Kleists zu der Schauspielerin nichts bekannt war. Wenn aber das erste Brieffragment (103) an Henriette Schütz gerichtet ist, so liegt es doch nunmehr ganz nahe, die beiden anderen kurzen Brieffragmente (174, 179), die aus der gleichen Quelle stammen, derselben Briefempfängerin zuzuschreiben. Bülow hatte die Briefe von Schütz erhalten; Schütz hatte sich, wie aus dem oben erwähnten Briefe Maria von Kleists an Tieck hervorgeht, um die Kleistausgabe große Mühe gegeben; alle äußeren Gründe sprechen dafür, daß Henriette Hendel-Schütz die Briefempfängerin ist. Auf die weitere Begründung will ich weiter unten zurückkommen.
Es bleiben noch vier Briefe übrig, die mit den besprochenen drei gewisse äußere Merkmale gemein haben. Im Gegensatz zu den übrigen Briefen handelt es sich bei allen sieben um Bruchstücke von Briefen, es fehlt bei ihnen allen nicht bloß die Adresse, sondern auch die Unterschrift; ferner sind sie alle, bis auf die wenigen Ergänzungen nach dem Handexemplar Bülows von Tieck zuerst veröffentlicht, und schließlich lassen sie ohne weiteres erkennen, daß sie an eine zeitweilig abwesende Freundin gerichtet sind. <378:>
Die beiden Brieffragmente aus dem August 1811 (Nr. 185 u. 186 der Sammlung) sind für uns besonders bemerkenswert, weil Kleist hier (vgl. oben) von seinen Plänen für die Zukunft spricht, und weil er hier kunstästhetische Betrachtungen anstellt, die wir sonst in seinen Briefen völlig vermissen. Der sonst so verschlossene Kleist kann sich hier nur eröffnet haben einer Persönlichkeit, bei der er auf ein tiefes Verständnis für seine dramatischen Absichten, auf ein kongeniales Fühlen, auf ein volles Erfassen musiktheoretischer Fragen rechnen konnte. Wer diese Persönlichkeit gewesen sein kann, wird uns ohne weiteres klar, wenn wir diese beiden letzten mit dem ersten Brieffragment aus dem Jahre 1807 vergleichen. (Nr. 103) Das sind die einzigen Briefe, in denen er einen tieferen Einblick gestattet in sein Dichtergemüth; es kann keinem Zweifel unterliegen, daß auch die beiden letzten Bruchstücke an die Schauspielerin Henriette Hendel-Schütz gerichtet sind. Ich will kurz darauf hinweisen, daß Kleists Beziehungen zu der genialen Darstellerin bis auf das Jahr 1807 zurückgehen, wo beide bei Böttiger in Dresden dem Studium der Antike oblagen; als die Schauspielerin mit Schütz eine neue Ehe geschlossen und ihr Wanderleben wieder aufgenommen hatte, verkehrte das junge Ehepaar im August 1810 kurze Zeit in Berlin mit Kleist; im Februar 1811 veröffentlichte der Herausgeber der Abendblätter einen langen, offenbar an ihn persönlich gerichteten Brief Henriettes mit einer Reiseschilderung von Wien nach Salzburg und im April desselben Jahres erfolgte die pantomimische Darstellung der Penthesilea durch Henr. Schütz während einer öffentlichen Vorlesung ihres Gatten. Weiter, d. h. aus der Zeit vom April bis August 1811, ist uns nichts bekannt von persönlichen Beziehungen beider, aber die kurze Notiz in einem Briefe des alten Körner: „Kleist habe eigentlich nicht die Vogel, sondern eine andere Frau – auch nicht die Hendel – geliebt“, weisen darauf hin, daß diese Beziehungen doch bis zum Tode des Dichter anhielten. Spricht <379:> der Inhalt der Briefe für Henriette Schütz? Er setzt, wie bemerkt, eine Person voraus, die mit den ästhetischen Gesetzen der Musik wie der Dichtkunst vertraut war. Und das trifft zweifellos auf die geniale Menschendarstellerin zu, die mit dem Dichter zusammen in Dresden studiert hatte, und deren tiefes Wissen und Verständnis des antiken Dramas bewiesen wird durch ihre von der Akademie anerkannte Abhandlung über die Antigone des Sophokles. Im ganzen ist wenig biographisches Material über die Hendel erhalten, die man sich gewöhnt hat, nach den scharfen sarkastischen Bemerkungen Goethes (an Zelter) etwas geringschätzig zu betrachten, aber die zahlreichen enthusiastischen Berichte bedeutendster Zeitgenossen lassen doch keinen Zweifel, daß sie nicht bloß eine hervorragende Schauspielerin und pantomimische Künstlerin war, sondern auch über ein tiefes Wissen verfügte. Ein musikalisches Verständnis konnte Kleist gewiß aber bei ihr voraussetzen, da sie in ihrer Jugend zunächst zur Sängerin ausgebildet und auch die Bühne zuerst als Opernsängerin betreten hat. Auch aus späteren Jahren findet sich bei dem in seinen Angaben gewissenhaften Wilh. v. Bock\1\ die kurze Bemerkung, daß Goethe im höheren Alter sich an dem Gesange der Hendel-Schütz erfreute. Alles in allem genommen haben wir ein Recht, die beiden fraglichen Brieffragmente der Schauspielerin Henriette Hendel-Schütz zuzuschreiben.
Und die beiden letzten Brieffragmente (Nr. 183 u. 184 der Sammlung) aus derselben Zeit? Die äußeren Kennzeichen sind dieselben wie bei den anderen. Ihr Inhalt entspricht den kurzen Notizen 174 und 179; sie bringen keine dichterischen Geständnisse und kunstästhetischen Betrachtungen; es sind Stimmungsbilder, die einen Eindruck gestatten in des Dichters Gemütszustand. Die Äußerung: „Sie helfen sich mit Ihrer Einbildung und rufen sich aus allen vier Weltgegenden, was Ihnen lieb und wert ist, in Ihr Zimmer herbei“ <380:> paßt auf keine seiner Bekannten so gut wie auf die Hendel, welche in einem freien Kunst- und Wanderleben die ganze Welt bereiste, und auch der Vermerk am Schlusse, wo Kleist die Hoffnung ausspricht, die Briefempfängerin wiederzusehen, deutet auf die Hendel, welche im Mai mit ihrem Gatten Berlin, gegen Norden zu verlassen hatte, ohne freilich damals zu wissen, daß sie erst in zwei Jahren zurückkehren würde. Das letzte Fragment endlich (Nr. 184) enthält politische Andeutungen. Wenn wir in Betracht ziehen, daß auch der in den Abendblättern veröffentlichte Brief der Frau Professor Schütz – Kleist benutzt übrigens die Gelegenheit, um sich in einer Vorrede öffentlich als ihr Freund zu bekennen – Schilderungen von Truppenzügen und Landesbefestigungen bringt, die offenbar den politischen Intentionen des Dichters Rechnung tragen, so ist der Schluß berechtigt, daß sich der Gedankenaustausch der beiden auch auf dieses Gebiet erstreckte. Ich resümiere dahin, daß die Briefe 163, 174, 179, 183, 184, 185, 186 sämtlich an die Frau Professor Schütz gerichtet waren, die leider in ihrem reich bewegten Wanderleben nur Fragmente der Briefe gerettet hatte.
In dem Briefbande der neuen Kleistausgabe fehlen bei sieben Briefen die Angaben des Adressaten, einer war offenbar falsch adressiert. Nachdem ich oben diesen Irrtum berichtet habe (S. 359f.), nach dem Dombrowsky (Euphorion 1907) den Brief vom 25. Mai 1809 als an Buol gerichtet, ich die sechs anderen als an die Hendel bestimmt nachgewiesen habe, sind diese Lücken der Briefsammlung ausgefüllt.
Ich muß hier auf einen Einwand zurückkommen, den man gegen meine Deutung nach der Angabe eines alten Zeitungsartikels erheben könnte. In der „Neuen freien Presse“ vom Jahre 1867 findet sich ein Aufsatz über die Penthesilea vom M. M. (Moritz Mandl\1\), auf den ich später zurückkomme <381:> (S. 441). Hier wird in einer Fußnote folgendes erzählt: Man darf eben jetzt noch einer äußerst interessanten Enthüllung bezüglich der Kleistschen Dichtung Penthesilea entgegensehen. Der Dichter hat einen sehr ausführlichen Verteidigungsbrief der Penthesilea an Gentz geschrieben, und vielleicht in dem nächsten Bande der von Prokesch-Osten eben besorgten Veröffentlichung des Nachlasses wird der jedenfalls von Gentz bewahrte Brief zum Vorschein kommen. Man darf demselben mit der größten Spannung entgegensehen; es wird die einzige Kundgebung eines Dichters ersten Ranges sein, welcher über seine ästhetischen Gründe für das poetische Schaffen Rechenschaft gibt. Gentz erklärte das Schreiben für so packend, und bedeutend, daß dessen Erhaltung ganz unbezweifelt, die Veröffentlichung bei der sachlichen Beziehung desselben wohl gewiß ist.“ Die Angaben stammen aus der Feder eines Schriftstellers, der, bisher völlig in der Kleistforschung übersehen, eine große Anzahl umfangreicher, zum Teil auf ernsten Forschungen beruhender Arbeiten über Kleist veröffentlicht hat. Seinen Angaben ist durchaus Glauben zu schenken, und es ist demnach zweifellos, daß Kleist mit Gentz, der sich bekanntlich sehr abfällig über die Penthesilea Müller gegenüber äußerte, korrespondiert hat. Der sehr interessante Verteidigungsbrief Kleists muß heute als verloren gelten (s. S. 446).
Ich habe mich an dieser Stelle veranlaßt gesehen, auf den leider verlorenen Brief Kleists, in dem er seine Dichtung gegen die privaten Angriffe Gentz’ verteidigt, hinzuweisen, um ausdrücklich hervorzuheben, daß der von mir zuerst veröffentlichte Brief von 1807, der an die Hendel gerichtet ist, damit nichts zu tun hat. Es sind zahlreiche Gründe, die dafür sprechen, welche sich aus dem erhaltenen Brief ganz von selbst ergeben, und die im einzelnen anzuführen hier wohl überflüssig ist. <382:>

Ich habe im vorhergehenden die Beziehungen Kleists zum weiblichen Geschlecht bis an das Ende seines Dresdener Aufenthaltes klarzulegen versucht, soweit es nach den vorliegenden Forschungsergebnissen möglich ist. Vieles ist ungewiß, manches in Dunkel gehüllt, als sichergestellt aber können wir das Folgende betrachten:
Indem ich mit Absicht den wissenschaftlich unhaltbaren Ausdruck: normales Liebesleben, vermeide, bin ich nach meinen Ausführungen in der Lage, jedes ausgesprochen perverse Sexualempfinden bei Kleist zu negieren. Die Hauptstütze dieser Beschuldigung, daß Kleist nur einmal verlobt war, und daß diese Verlobung unter eigentümlichen Verhältnissen zurückging, habe ich widerlegt. Im übrigen habe ich klarzulegen versucht, daß wir uns bei der Prüfung der Frage einzig auf die Dichtwerke beziehen müssen, und daß die literarästhetische Betrachtung schon genügt, um die Verdächtigungen nach dieser Richtung aus der Welt zu schaffen.
Weiter habe ich zu beweisen versucht, daß Kleists Verlobung mit Wilhelmine v. Zenge bedeutungslos ist nicht bloß für seine dichterische Entwicklung, sondern auch für Kleists Liebesleben. Sein Brautstand war ein Irrtum, seine Neigung war eine Selbsttäuschung. Die Liebe Kleists fällt in die Dresdener, auch dichterisch zweifellos fruchtbarste Epoche Kleists, die den Höhepunkt seines Schaffens bedeutet. Dabei muß ich es zunächst noch dahingestellt sein lassen, und es ist für uns auch psychologisch gleichgültig, ob sein Herz in rascher Folge der Schlieben und der Kunze gehörte, oder ob das Verhältnis zur Juliane Kunze nur eine Legende ist und alles, was erzählt wird, nur auch die Schlieben sich bezieht.
Das Ende der Dresdener Brautzeit, das Zerwürfnis mit seiner Braut bedeutet den tiefsten Seelenschmerz für Kleist, von dem er sich nach dem Zeugnis seines intimsten Freundes nie wieder erholen konnte. In den folgenden Jahre bis an das Ende Kleists hören wir wohl noch von intimen Freund- <383:> schaften mit Frauen, aber nichts wird weiter von einer Herzensneigung des Dichters berichtet, und auch die sonst so geschäftigen und bis zu dieser Epoche so überreichen Gerüchte schweigen vollständig. Es steht nach alledem fest, daß der Dichter seit dieser Zeit nicht wieder einem Mädchen sein Herz geschenkt hat.

\1\ Goethe in seinem Verhältnis zur Musik. Berlin 1871.
\1\ Publizist, geb. zu Preßburg, Redaktionsmitglied des „Fremdenblatt“. (Das geistige Wien. Wien 1889)

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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