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Adam Müller, I. Vorlesungen über das Schöne (Fortsetzung), 3-31; darin: 13-22

III.

Wenn Schönheit und Leben eins ist, so muß die schöne Rede zugleich eine lebendige Rede sein. Vor dreißig Jahren begnügte man sich damit, einer Rede und einem Gedichte Schönheit zuzuerkennen, wenn sie nur mit einer gewissen Lebhaftigkeit der s. g. Einbildungskraft ansprachen. Die vielgerühmte Deutlichkeit und Bestimmtheit der französischen Sprache bestand darin, daß jedem Worte ein für allemal eine feste unabänderliche Bedeutung angeheftet war; und so hätte man denken sollen, daß irgend ein bestimmter Sinn nicht nur nicht lebhafter, sondern überhaupt gar nicht weiter ausgedrückt werden könne, als durch das ihm angewiesene Wort. Weit gefehlt! dieselben durchaus deutlichen und bestimmten Sprecher behaupteten, daß es noch eine andre viel lebhaftere Darstellung gebe, da man nemlich vermittelst eines Anlaufes, eines gewissen Schwunges und verwegener Anwendung sinnlicher Bilder die Sache der Einbildungskraft näher rückte, worauf doch am Ende die ganze Kunst des Sprechens hinauswollte: so wurden denn zwei Gattungen der Rede angenommen, eine zahme, deutliche und kalte und eine wilde, lebhaftere und warme: die letztere beehrte man mit dem alten ehrwürdigen Namen der Poesie. Es gab damals wenige schöne Rede unter den Menschen, weil selten der ganze Mensch zum ganzen Menschen sprach, sondern sich entweder der blose Verstand an den blosen Verstand, oder die blose Phantasie an die blose Phantasie, also immer nur ein Stück Mensch an das andre Stück Mensch mit seiner Rede richtete. Lassen Sie uns dies Unwesen noch etwas näher betrachten: Sie werden mir beipflichten, wenn ich einstweilen die gesammten Wörter einer Sprache in zwei große Gattungen eintheile, deren eine mehr die ergreifbaren Sachen, die andre mehr die abstracten Begriffe bezeichnete: über die Bedeutung der Worte erster Gattung, z. B. Baum, Pferd, Gold, sind alle Menschen sehr einig, desto uneiniger sind sie über die Bedeutung der Worte aus der andern Gattung: von den Worten, Tugend, Freiheit und Recht giebt es sicher eben so viel Erklärungen als es Menschen giebt, welche sich ihrer bedienen. Die <14:> Worte, Pferd, Baum, Gold haben einen bestimmten Character und eben so deutliche Umrisse als die Sachen, welche damit bezeichnet werden; je allgemeiner indeß der Begriff der Worte wird, um so mehr scheinen sie an Umriß, Deutlichkeit und Character zu verlieren. Den individuellen Worten und Begriffen scheint eine rohe Bestimmtheit anzuhängen, den abstracten oder geselligen Worten, wie Tugend, Freiheit und Recht dagegen eine policirte Characterlosigkeit. Beide verhalten sich ungefähr zu einander wie die Güter und Waaren zum Gelde: Was sich die Menschen unter einem Landgute, Equipage, einer Loge im Theater denken sollen, darüber sind sie so ziemlich einig; wenn wir aber die höchst verschiedenartigen Bilder, welche dem Begriffe hunderttausend Thaler von ihnen untergelegt werden, auf einen Blick übersehen könnten, so würden wir erstaunen über die Unbestimmtheit des Begriffs und über die Uneinigkeit der Menschen. – Wenn ich nun behaupte und beweise, daß die abstracten, geselligen Begriffe, z. B. Freiheit und hunderttausend Thaler, unter dem Scheine der Unbestimmtheit und Characterlosigkeit eine Eigenschaft in sich verborgen tragen, die allen Mangel wieder ersetzt, nemlich die Beweglichkeit, die allgemeine Anwendbarkeit, so würde klar sein, daß die Begriffe Pferd und Loge im Theater, wie sie jene auch an individueller Bestimmtheit übertreffen möchten, es dennoch mit ihnen an allgemeiner Verständlichkeit nicht aufnehmen könnten. Wo hunderttausend Thaler verschenkt werden sollen, versammeln sich Millionen Menschen zu aller Zeit, wie verschieden auch das Glück gestaltet sein möge, das sie sich darunter denken, während nur wenige und diese auch nur zu gewisser Zeit eine Loge im Theater begehren: um eine Fahne, auf der der Name Freiheit geschrieben steht, rangiren sich ganze Völker, indeß das Wort Pferd doch nur die wenigen Kenner, und die, welche wirklich reiten können, wahrhaft zu ergreifen vermag. Greifen wir alle Resultate in eine Anschauung zusammen: Einige Worte, wie Baum, Pferd, Gold, sind festerer Natur, andere wie Tugend, Freiheit, Recht, möchten eher mit flüssigen Substanzen, z.B. der Luft, verglichen werden, welche sich zwar nicht ergreifen läßt, aber dennoch um nichts weniger da ist und unzählige andre Körper durchdringt. – Wenn ich Ihnen nun sage: es hat in neueren Zeiten zweierlei Redner gegeben, die einen, welche schwerfälliger gebaut, gleichsam dem festen Erdelemente mit Leib und Seele anklebend von der Sprache verlangten, daß alle Worte den Character der unbedingten Bestimmtheit und Festigkeit an sich tragen sollten, welcher doch nur das Erbtheil eines Theiles der Sprachwelt sein kann – und wer erkennt hier nicht das Bestreben der Verfasser des Dictionnaire de l’Academie: die anderen, welche leichter, ätherischer geformt, jenen ersteren zum Trotz, allen Worten den beweglichen, durchdringenden, flüssigen Character der Luft, welcher doch nur gewissen abstracten Worten ausschließend zukommt, mittheilen wollten. Diese andern mußten kommen; eine große genialische Reaction gegen die Handwerker, welche den lebendigen Worten einzeln bornirte Begriffe aufklebten, und nun meinten, daß diese todten, höchstens einbalsamirten Wesen, diese Mumien dennoch fortleben sollten in der Philosophie, der Poesie und dem Leben – eine Reaction gegen diese mußte erfolgen. Wer wa- <15:> ren sie aber, diese andern! So wenig mein Angriff des Dictionnaire de l’Academie und Consorten auf die von vielen Seiten vortrefflichen Autoren desselben, sondern nur auf die falsche, tyrannische Richtung in ihnen geht, mit deren Beförderung sie dem Zeitalter ihre Schuld bezahlen mußten, noch weniger kann ich die Urheber der Reaction gegen das französische Sprach- und Dichtungsprincip, die ausgezeichneten Genien verdammen, welche der Sprache das Leben zurückgaben, welches ihr geraubt war. Wenn Lessing, Novalis, die Gebrüder Schlegel und Schleiermacher im ersten Feuereifer einer gerechten Opposition auch zu weit giengen, und den Falken, der bisher angebunden war, nun wieder sich zu hoch in die Lüfte versteigen ließen – so konnte doch nur auf diese Weise der erhabene Geist der Sprache für die ihm angethane Schmach Satisfaction erhalten. Die Gestirne heißen im Dictionnaire de l’Academie: corps lumineux qui brillent au ciel pendant la nuit, und ein Thier heißt ebendaselbst: être organisé et doué de sensibilité: wie müssen nun die in der Schule jener Academie erzogenen zurückscheuen, wenn Schelling dieselben Gestirne seelige Thiere nennt, und damit nicht blos ein Bild gebrauchen, sondern ihr Wesen bezeichnen will. Begriff und Wort, wie Dame und Chapeaux, waren bei jenen Academisten, wie ein Paar guteingefahrne Pferde zusammengespannt: zu Schimmeln die Schimmel, zu Rappen die Rappen u. s. f. Wenn man das vortreffliche Athenäum oder die Fragmente des unvergeßlichen Novalis liest, so ist einem als flögen Chapeaux und Dame plötzlich befreit auseinander, die Dame schwebte wie im Tanze von einem Chapeaux zum andern, der Chapeaux wieder eben so von einer Dame zur andern; der Begriff flöge durch den ganzen Cirkel der Worte, das Wort durch den ganzen Cirkel der Begriffe, sowohl Wort als Begriff, sowohl Dame als Chapeaux hätten ganz die ursprüngliche Gespannschaft und Genossenschaft, scheint es, vergessen. – Vorher erschienen die Worte, wie die festen Körper an der Oberfläche der Erde, und wurden wie die Steine zu einem Bau, so jene zu einer Rede zusammenfügt; nun erschienen die Worte blos in beweglichen Umrissen, wie die Wellen eines beunruhigten Meeres, deren jede, da sie kaum entstanden war, wieder in das große Element zurücksank. – Der Geist der Sprache nun will weder jene absolute Befestigung der Worte, die die französischen Academiker sogar auf die abstracten Begriffe ausdehnten, welche todt niederfallen, sobald man ihnen ihre Beweglichkeit nimmt, noch will er die absolute Beweglichkeit der Worte, die so manchen Freund der guten Sache gegen das Schlegelsche Unternehmen einnahm, so wenig auch das eine Extrem ohne das vollständig durchgeführte andre, entgegengesetzte Extrem zu überwinden war.
Wir sind hinlänglich vorbereitet: vom Begriff und vom Worte Poesie ist die Rede! Was meinen jene Academiker mit ihrem Grundsatz von den fixirten Begriffen und Worten; was meinen jene geflügelten Geister mit ihrem Streben nach unendlich bewegten Worten und Begriffen, unter der Poesie? – Die Academiker sind schnell bei der Hand und mit den wenigen Worten, la poesie est l’art de faire des ouvrages en vers, steht das Gespann vor dem Wagen: Es giebt nur eine Poesie, und das ist <16:> die Poesie der Verse. Wie verändert sich alles, wenn wir auf die andre Seite sehn und die Stimme jener neuen deutschen Kunstrichter vernehmen: Poesie ist der Geist der Welt, ist das Wesen der Frauen: es giebt eine Poesie des Lebens, eine Poesie der Jugend, eine Poesie der Liebe: die ganze Welt, das ganze Leben soll ein einziges großes Gedicht sein u. s. f. – Die ersten geben uns den Begriff der Poesie in seiner engsten und ängstlichsten Gebundenheit, die andern in der schrankenlosesten Freiheit. Der Begriff der Poesie bei jenen ist fix und beschränkt; bei diesen beweglich und unendlich weit: wer von beiden hat recht? – Hierauf erfolgt unsre schon oft gegebene Antwort: Keiner oder Beide, mag der Begriff der Poesie, sich von seinem Worte der göttlichen Verskunst einstweilen fröhlich trennen und im muntern Reigen von einer Dame zur andern, von einer Schönheit der Welt zur andern fliegen, mit jeder den Tanz versuchen, mit jeder vereint eine Weile in dem Himmel von Wohllaut schweben, der ihnen allen aufgethan ist, wenn er nur – und das ist das Zeichen, ob es ein ordentlicher Tanz gewesen ist – wenn er nur zuletzt, nachdem er den ganzen Cirkel durchflogen, verschönert und verklärt zu seiner früheren Freundinn zurückkehrt. Seine Beweglichkeit hat er bewiesen, und erhöht; jeder neuen Tänzerinn gegenüber eine neue eigenthümliche Grazie bewährt und so mag seine geprüfte und sinnreiche Treue nun erst recht seiner ersten und letzten Dame gefallen. Wenn sich das Wort auf eben die grazieuse Weise von seinem Begriff zu trennen und mit ihm wieder zu vereinigen versteht, dann kann man sagen, die Sprache werde mit Anmuth und Schönheit gesprochen. Wenn aber in einem Gespräch, wie es oft geschieht, jemand einen Begriff mit einem bestimmten ihm fast aufgenagelten Worte, ein für allemal bezeichnet wissen, oder bei einem Worte sich nur einen einzigen, fixen Gedanken denken will: Mit andern Worten, wenn der Begriff erklärt, daß er nur mit einer einzigen Dame, das Wort, daß es nur mit einem bestimmten Chapeaux tanzen wolle und könne, so bleibt alles bei höchst langweiligen pas de deux und der eigentliche gesellige Tanz kann nie zu Stande kommen. – Und wer möchte auch mit todten Chiffern, nach einem noch lebloseren Mechanismus, das schönste darstellen, was die Seele erzeugen kann. Nein! sie leben auch ihr unsterbliches und unendliches Leben, diese Worte, eben so gut als die Dinge, welche sie bezeichnen. Der Dichter nun, dem es die Natur vor allen andern verlieh, den ewigen Einklang der Dinge wahrzunehmen, er ist es auch, welcher das unendliche Leben der Sprache zu erwecken und zu schonen weiß. Denken Sie ihn Sich nun, wie er zugegen ist oder es darstellt; da ein Kind eine Blume betrachtet. Beständig fühlend, daß die Schönheit in allen ihren Erscheinungen dieselbige ist, mag er sich etwa folgendermaßen ausdrücken: eine Blume sieht die andre an, oder ein Kind sieht das andre an. – Dagegen muß sich natürlich der Academiker auflehnen: nach ihm müßte der Dichter vorsichtiger also sprechen: an Frische und Jugend und Fülle und Farbe kann man dieses Kind der Blume vergleichen, welche es ansieht; indem doch keinesweges Kind und Blume ein und dasselbe, oder auch nur von einer Gattung wären, vielmehr nur Gleichnißweise geredet werde. – Beim Academiker nun sehn sich Kind und Blume an <17:> wie ein Fels den andern, die man zwar an Form und Gestalt mit einander vergleichen, aber nicht von der Stelle rücken darf: in dem Ausdruck des Dichters steigen Kind und Blume wie zwei verschwisterte Wellen auf und senken sich eben so sanft in das allgemeine Meer der Schönheit wieder zurück. – Der Academiker hält sich an die äußere Erscheinung: den Schritt, die Bewegung des Geistes, da der Blume ebenfalls Augen zugeschrieben werden, bringt er nicht zu Stande. Wenn nun gar Tasso in seinem berühmten Madrigal die Augen seiner Geliebten und die Gestirne der Nacht sich gegenseitig beschauen läßt, so verliert der Academiker den Dichter völlig aus dem Gesicht. Freilich hat der Begriff: Augen seinen bestimmten ihm angewiesenen Körper, nemlich jene schöngeformten, lebendigen Organe des Sehens, die am Menschen und an Thieren wahrgenommen werden. Aber das innerste und heiligste dieses Sinnes, die Fähigkeit, irgend ein Schönes wahrzunehmen, muß den Gestirnen und den Blumen wie überhaupt allem was lebt eigen sein. Gestirne und Augen, Blumen und Kinder, und jedes Paar möglicher Wesen wird durch ein herrliches Band verknüpft. Welches ist dieses Band? die Schönheit oder das Leben, in welchen großen Gedanken sich alles Irrdische und Himmlische berührt. Wodurch wird dir denn ein schönes Auge in der Betrachtung werth? dadurch, daß du in diesem Auge tausend verschiedene ernste und heitere Ausdrücke wahrgenommen; jede neue Begebenheit muß dir das Auge, welches du betrachtest, in neuem Glanz und neuer Schönheit zeigen. Demnach ist der Begriff des Auges ein unendlicher, eben so auch das Wort: der Dichter stellt es in tausend grazieuse Beziehungen zum Himmel, zu den Sternen, zu den Blumen und führt es endlich seinem ersten Ritter, dem ebenfalls verherrlichten Begriff des Auges, verschönert wieder zu.
Zerschlagen wir demnach das Gerüst dieser Vorlesung, welches jetzt entbehrt werden kann. Der Unterschied zwischen abstracten und concreten, oder zwischen geselligen Wörtern, wie Wahrheit, Tugend, Freiheit, und individuellen Wörtern, wie Baum, Pferd, Gold, ist keinesweges ein absoluter. Es giebt kein einziges Wort, welches blos Begriffe, kein andres, welches blos Sachen bezeichnete; kein Wort, welches blos flüssiger, kein andres, welches blos fester Natur wäre; sondern wie auf dem herrlichen Erdkörper, welchen wir bewohnen, so auch in dem Sprachkörper, worin unser Geist lebt, ist allenthalben festes und flüssiges in der herrlichsten Mischung da. Jedes Wort hat einen Körper, d. h. einen bestimmten festen Begriff, den es als Seele bewohnt; aber wie dieser Begriff durch den Philosophen in Beziehung auf alle andere Begriffe des Universums gebracht werden kann, eben so das Wort durch den Dichter auf alle andre Worte. Demnach ist sowohl Wort als Begriff, wie treu sie auch ihrem ursprünglichen Sinn und Gehalt bleiben mögen, einer unendlichen Erweiterung fähig, und damit erwiesen, daß das Wort wie der Begriff ein lebendiges Wesen sei. – Denken Sie nun, daß dieser Begriff vom Leben der Worte, worin alle Schönheit der Poesie, wie der andre vom Leben der Begriffe, worin alle Schönheit der Philosophie ihren Grund hat, in der französischen Schule fast gänzlich verloren gegangen war: <18:> und Sie werden Sich nicht weiter wundern, daß, als durch neue deutsche Kunstrichter plötzlich der Gedanke jenes allgemeinen, lebendigen Tanzes, welchen ich oben beschrieben habe, aufgefaßt wurde, daß damals, im ersten Feuer des wiedergewonnenen Lebens, manche Dame zu ihrem Chapeaux, manches Wort zu seinem Begriffe nicht wieder zurückkehrte, sondern in der Schwelgerei der Freiheit durch die Welt fortgaukelte bis es ganz die ursprüngliche Gestalt verloren hatte, und nun, da der Maaßstab entwichen war, auch sogar die Beweglichkeit und Verwandelbarkeit nicht mehr wahrgenommen werden konnte. – Jetzt, da wir aus diesem warnenden Beispiel gesehn haben, wie die Bewegung von der Verirrung verschieden ist, wie die Bewegung der Begriffe nichts ist, wenn sie nicht zu dem ursprünglichen Worte endlich zurückkehrt; jetzt vermögen wir denn auch mit wahrem Maaße und wahrer Beweglichkeit den Begriff des Wortes Poesie aufzufassen.
Wer von der dramatischen Poesie und Kunst, wie ich im Anfange des gegenwärtigen Jahres, handelt, muß sich nach dem Gesetze jenes Tanzes betragen, den ich im Anfange der heutigen Vorlesung beschrieben habe. Die dramatische Poesie steht zuförderst neben dem ihr angewiesenen Chapeaux, dem wirklichen Theater: vielfache große Lebenserscheinungen, z. B. gesellschaftliches Leben, Staat, Religion u. s. w. stehn im Kreise umher den Tanz erwartend, und so fliegt die Dame in natürlicher und grazieuser Bewegung durch ihre Reihen, die dramatische Poesie tritt nach einander in Beziehungen mit dem Leben, dem Staate, der Religion, so daß die Zuschauer des Tanzes, waährend diese Dame tanzt, lauter dramatische Formen erblicken, und die verschiedenartigsten Gestalten des Lebens nicht anders erscheinen, denn als Modificationen des Drama’s. Die ganze Welt erscheint in dem Augenblick als eine einzige Schaubühne, und so erhöht und verschönert kehrt die Dame sanft zu ihrem ursprünglichen Tänzer, der wirklichen Schaubühne zurück. Ehe der Tanz begann, sahe der Zuschauer nichts weiter, als die trockne und leblose Gestalt der Tänzer: wenn das Wort Theater ausgesprochen wurde, dachte er dabei nichts als an: lieu, ou l’on représente des spectacles dramatiques. Nachdem der Tanz vorbei ist, sieht der Zuschauer freilich auch wieder dieselben Personen, Drama und Schaubühne: aber er versteht nun das Leben dieser Begriffe, denn er hat das Gesetz ihrer Bewegung und ihres Fortschrittes gesehn, indem er diese Sonnen einen ganzen Thierkreis des Lebens durchlaufen sah. – Eben so kann niemand Vorlesungen über die Schönheit halten, der nicht alles als schön darzustellen im Stande ist, der nicht die Idee der Schönheit in Beziehung auf die entgegengesetztesten Formen des Lebens zu bringen weiß. – Beauté, heißt es im Dictionnaire de l’Academie: ist die juste proportion des parties du corps, avec un agréable melange des couleurs. Wir gehen ebenfalls aus von dem Begriff der Schönheit, wie er sich auf das natürlichste und nächste in der menschlichen Gestalt ausdrückt, lassen ihn hierauf mit allen einzelnen, erhabensten und unscheinbarsten Künsten des Lebens einen Tanz beginnen; so erweitert und verklärt sich der Begriff der Schönheit und kehrt zuletzt zu seiner ursprünglichen Ge- <19:> nossenschaft mit dem wohlgeformten menschlichen Körper zurück. Dieses Beleben der Worte und Begriffe ist das ganze Geheimniß der Wissenschaft und Poesie. – Wer das Wesen der Poesie darstellen wollte, würde eben so von der Verskunst ausgehn, dann einen Cyklus von Welterscheinungen durchlaufen, alle in Beziehung auf die Poesie bringen und so würden eine Poesie der Natur, eine Poesie der Liebe, eine Poesie der Blumen, eine Poesie der Jugend vor dem Zuschauer dargestellt werden, die ganze Welt vielleicht als ein großes Gedicht erscheinen, und doch endlich das Wort, erhobenen Geistes, zu der ursprünglichen Bedeutung zurückkehren. Nun erscheint das Wort Poesie als ein Wort des Lebens; es ist fest und dennoch unendlich beweglich. Wir sind in unsrer Darstellung von der Beschreibung des unendlich bewegten Geistes der Schönheit, und des alles durchdringenden Geistes des Lebens ausgegangen; wir haben uns jene oft gepriesenen Wechselblicke von dem Ruhenden auf das Bewegte, von dem Bleibenden auf das Vorübergehende angewöhnt, weil wir einsahen, daß die Schönheit allenthalben aus der Wechselumarmung zweier Dinge, zweier Ideen hervorgieng. So haben wir die Schönheit und das Leben der Worte begriffen in Wechselblicken, die wir warfen, bald auf den bleibenden Sinn der Worte, bald auf ihre Bewegung und Verwandlung. Und so werden wir in der Beschreibung des Begriffes der Poesie uns weder in den blosen Tanz, in die blose Bewegung schwärmend verlieren, noch mit unsrer Dame ausschließend allein tanzen wollen. – Poesie ist geschlossene Kunstdarstellung des Lebens durch das Wort. Unser Wort Dichtkunst ist gegen das Wort Poesie gehalten ein elendes Wort, vornehmlich weil es die Leute immer noch durch die Ähnlichkeit der Klänge in dem Wahne bestärkt, als hienge das Dichten doch endlich ganz genau mit dem Erdichten und sofort mit dem Lügen zusammen. Das griechische viel sinnigere Wort bedeutet blos ein gewisses, zweckmäßiges, schönes Thun und Machen, ohne alle weitere Falschheit und Täuschung; ein Thun und Machen insonderheit, das allem übrigen Handeln zum Muster dienen kann. Ein Gedicht ist eine ganze, geschlossene, gemachte Welt: eine Erdichtung ist ein halbes, ungeschlossenes, schlecht gemachtes Stück Welt. Eben weil ein Gedicht gut gemacht ist, und weil das Organ der Rede, wodurch das Gedicht ausgedrückt wird, das mittelste, ansprechendste Organ des Menschen ist, soll alles Menschenwerk dem gutgemachten, oder unschuldiger ausgedrückt, dem was eben nur gemacht ist, der Poesie gleichen.
Das Dasein einer Ilias, einer divina comedia, eines Macbeth, wurde in den letzten Jahrzehnden des verflossenen Jahrhunderts erklärt, wie das Dasein der Welt – durch einen mystischen Begriff von Erschaffung und Schöpfer. \1\ Innerhalb eines Werkes der Poesie, wie auch recht innerhalb der Welt zu leben, war jenes ohnmächtige Geschlecht unfähig: durch äußeren, mechanischen Anstoß, nicht durch <20:> inneren, sich selbst genügenden Schlag des Herzens mußte die Bewegung der Welt, wie der Poesie erklärt werden, wenn sie von den Aufklärern begriffen werden sollte. – Freilich! vernehmt ihr Gott nicht, ganz deutlich, ganz nahe, in den Klängen, in den Wohllauten seiner Welt, müßt ihr ihn schlechterdings neben dem Werke fabricirend, hämmernd, meißelnd denken, so ist es allerdings besser, ihr gebt euch mit dem ganzen Nachdenken über das Machen nicht weiter ab; vernehmt ihr den Ruderschlag der Poesie nicht, mit dem diese Argo queer durch die breiten, unstäten Wellen des Lebens auf sichrer, eigenthümlicher Bahn nach ihrem goldnen Vließe steuert, so thut ihr besser, kurzweg zu erklären: es ist nun einmal so, die Kraft des Schiffchens kommt nun einmal aus nichts, denn ich sehe nichts, was sie bewegt. So wurden denn nun aus Welt und Religion alle Wunder mit Feuer und Schwerdt ausgetrieben und zuletzt in ein großes Hauptwunder zusammengeballt, in ein wirkliches Welt-Wunder Repositorium zusammengestellt, und dieses sollte nun Gott heißen: so wurden gleichergestalt alle wunderbaren Offenbarungen des Dichters in seinen Werken unerbittlich verfolgt, aber das Wunder, daß es überhaupt einen Dichter gebe, desto unmäßiger, hirn- und sinnloser construirt. – In der der Natur und in der Poesie sind die Spuren des Meisters unendlich verwebt in dem Werk: wer demnach dort das Werk und den Meister zugleich in dem Werke zu schauen weiß, der wird einen neben dem Werk stehenden ergreifbaren Meister mit wirklichen Händen und Füßen nicht weiter vermissen. Indem wir nun ein Werk der Poesie hören, tritt hörbar, sagte ich neulich, neben unendlich verschiedenartigen Tönen, das Gefühl eines dem ganzen Werke mitgetheilten Rhythmus oder Gleichmaaßes, nemlich der Vers hervor: dies ist die Spur, die hörbare des Meisters; wer zu vernehmen weiß, wie diese Spur die kleinsten Organe des Werks durchdringt, der hat das herrlichste vom Meister; und begehrt den wirklichen Arbeiter weiter nicht zu sehn. – Ich würde den für keinen Irreligiosen halten, der sich dächte: die heilige, unendliche Bewegung seiner Welt, das sei nun Gott; der stille Schlag des menschlichen Herzens, das Wellenrauschen des Meeres, das Wechselgespräch, oder der Wechseltanz, wie wir es darstellten, der unendlichen Naturen, der ernste Gang der Gestirne, alle diese verschiedenen Bewegungen wären nur Offenbarungen eines Grundtacts, eines Grundrhythmus, der dem übrigen allen zum Grunde läge. Ich will in meinen Vorlesungen über die Schönheit weiter nichts als die einzelnen Bewegungen der Künste wie der Geister hier und dort in ihrem Gesetze auffassen, und in dem Grundrhythmus, der aus der Verbindung aller einzelnen Bewegungen hervorgeht, die höchste und schönste Bewegung wahrnehmen lassen, in der ich mir Gott zu denken weiß: nennen Sie dies Eine höchste, das ich zu erschwingen im Stande bin, Gott, Schönheit, Leben, Liebe, Poesie – wie sie wollen – ich bin zufrieden, wenn sie das beste empfangen haben, was ich geben konnte. <21:>
In jedem poetischen Werke sind die Rhythmen sehr verschiedenartiger Naturen verbunden, und liebend unterworfen einem großen Grundrhythmus. \2\ Ich habe in den Vorlesungen über die dramatische Poesie beschrieben, wie die Idee oder der Held des Gedichts nach vielfachen Kämpfen mit den entgegengesetztesten Naturen endlich gereinigt und verklärt in sich selbst zurückkehrt; mitten im Gewühl der allerentgegengesetztesten Naturen wird er seines Rhythmus sicher und sich bewußt. – Das ganze Geheimniß der Poesie liegt demnach in der Verbindung mehrerer streitenden Bewegungen zu einer ruhigen.– Ich kehre wieder zu dem Bilde des Tanzes zurück, das mich verfolgt: was ist der Tanz anders als die Verbindung mehrerer streitenden Bewegungen zu einer ruhigen. Welches menschliche Werk die Natur dieses Tanzes hat, von dem kann man sagen, daß es wahrhaft gemacht sei: der Macher möge übrigens für sich gestaltet sein wie er wolle; ich erkenne ihn im Werke eben an der ruhigen Bewegung in den streitenden Bewegungen. Ein solches Werk ist auch wahr, ohne alle Täuschung und Lüge, denn es trägt ja das Wesen der Schönheit in sich und ist eben dadurch schon fest verwebt in alle Herrlichkeit der Welt, und mit ihr unsterblich: es greift ein in den ewigen Tanz aller Naturen, wie sollte es untergehn können? – Daß nun derjenige, welcher diesen heiligen Tanz zuerst und vornehmlich in den Worten oder in der Poesie erkannt hat, z. B. Fr. Schlegel, daß ein solcher auf alle reizenden Erscheinungen der Welt, auf alle andere unendlichen Formen, unter denen der Mensch immer wieder diesen Tanz wahrnimmt, immer wieder den Begriff der Poesie überträgt und von der Poesie des Lebens, der Liebe, der Jugend, der Natur u. s. f. spricht, – daß er die Erinnerung an seine erste Liebe nicht und nirgends vergessen kann, ist natürlich und schön. Sein ganzes Leben ist eine Vorlesung über die Poesie. Die Ideen der Schönheit, der Poesie, der Liebe, der Wahrheit, des Lebens, von denen eine jeder Mensch besonders im Munde und im Herzen trägt, in dem er jedoch allen übrigen dieselbe Macht und Herrlichkeit zugesteht, sind wieder den Gestirnen zu vergleichen, von denen ich in meiner ersten Vorlesung über die dramatische Poesie sagte, daß sie alle dasselbe unsichtbare und unaussprechliche andeuten, welches sie trägt und führt. – Wem es aber vorkommt, als bewege sich die ganze Welt um seine Lieblings-Idee, der ganze Himmel um sein Lieblingsgestirn; wer, da er dieses erreicht und gefunden, allen übrigen es als einzige Schönheit aufdringen will, der ist um nichts besser, als hätte er eine kräftige irrdische Schönheit gefaßt und ein für allemal wie ein französischer Academiker erklärt, daß er nur mit ihr tanzen wolle. So hätte es den vortrefflichen Urhebern der deutschen Reaction gegen die französische Academie ergehen können, welche zwar die <22:> irrdische Verskunst verließen, den Begriff der Poesie erweiterten und erhöhten, bis sie endlich an einer Weltidee von der Poesie kleben blieben, und nun um nichts gebessert erklärten, daß sie nur mit ihr tanzen wollten. Die Freude der schönen Rückkehr zu der Stelle, von der man ausgegangen ist, gewährten sie nicht, und darum zerstreuten sich ihre einst so glänzenden Gestalten, da man gerade erst das höchste von ihnen erwartete. Deshalb ist es auch spät noch sehr beruhigend zu sehn, wie August Wilhelm Schlegel, der an dem ersten Sturm auf die französische Academie einen lebhaften und geistreichen Antheil nahm, in seiner eben erschienenen comparaison entre la Phèdre de Racine et celle d’Euripide, wiewohl er dem Griechen den Kranz lassen muß, dennoch zu einer wahren und milden Würdigung der Franzosen zurückkehrt, und sich sogar zu ihrer Sprache bequemt. – Der ahndende Geist des unvergleichlichen Novalis, eines der größten Menschen, welchen die letzten Jahrhunderte hervorgebracht, kannte vor allen seinen Freunden dies Geheimniß der Rückkehr. Er erzählt ein Mährchen von einem jungen Menschen, der Hyacinth hieß; dieser liebte ein artiges Mädchen, Rosenblüthchen genannt. Aber mitten in der Liebe ergreift ihn ein Sehnen nach fernen Landen, nach den Geheimnissen der Natur. Er wandert und schaut und strebt und fragt die mannichfaltigsten Naturen, die ihm begegnen, nach dem Tempel der Natur, der Isis. Endlich erreicht er seine Wünsche, die Stufen des Tempels; nach vielen Einweihungen und Vorbereitungen wird er eingelassen in das Heiligthum, der Vorhang, der die Göttinn verhüllt, fällt und – Rosenblüthchen sinkt in seine Arme.


\1\ Es bedarf für sinnvolle Leser kaum der Erinnerung, daß die hier folgende Kritik des Begriffes einer schaffenden Gottheit nur gegen herzlose Aufklärer gerichtet ist. Die Idee der Schöpfung, wie selbige von der alten ächten Theologie in der Lehre von der Dreieinigkeit gegeben worden, ist über allen Angriff erhaben. Nach ihrem erhabenen Bilde sind alle die einzelnen über das Wesen der Poesie hier aufgestellten Ideen entworfen: Ort und Umstände erlauben nicht, zu zeigen, in welcher nahen Beziehung die wahre Theologie mit aller Lehre von der Schönheit stehe.
\2\ Je einförmiger das Werk, desto künstlicher der Rhythmus; und je reicher, je gestalteter dasselbe, desto einfacher und ruhiger der Rhythmus. In dem reichen Drama, wo die Gestalten alle eigenthümlich heraustreten, der einfache Rhythmus des Jambus: in der lyrischen Poesie, welche mehr die einfache Empfindung, als die vielfache und bestimmte Gestalt der Dinge giebt, ist der Rhythmus höchst künstlich. Im Epos sind Gestalten und Rhythmus im Gleichgewicht.

Emendationen:
Gattungen] Gattnngen D
Rhythmus] Rhythmns D

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Letzte Aktualisierung 28-Mär-2003
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